A F R I K A
A S I E N
L AT E I N A M E R I K A
Nachrichten
LIEBE in Zeiten der Ungewissheiten
Die Liebe zu Nelson Mandela von Rebecca Fasselt Liebe gegen die Vorherrschaft des Verstandes Über „Die Kindheit Jesu“ von J. M. Coetzee Sigrid Löfflers neue Liebe zur neuen Weltliteratur Gespräche Porträts Rezensionen
ISSN: 0935-7807 PVSt: 63287 31. Jahrg. Nr. 120 Frühjahr 2014 EUR 7,50 | Sfr 9,–
I M P R E S S U M
Herausgeber: LITPROM Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. Braubachstr. 16, 60311 Frankfurt a.M. Postfach 10 01 16, D-60001 Frankfurt a.M. Tel. 069 / 2102-113, Fax 069 / 2102-227 E-Mail: djafari@book-fair.com, www.litprom.de • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
Verantwortliche Redakteurin: Anita Djafari Redaktionsassistenz: Florian Kniffka unter Mitarbeit von Antje te Brake, Petra Kassler und Corry von Mayenburg. Mitarbeiter/innen dieser Ausgabe: Esther Andradi, Tobias Gohlis, Rebecca Fasselt, Anna Jäger, Claudia Kramatschek, Peter Ripken, Almut Seiler-Dietrich, Achim Stanislawski, Carola Torti und Jan Wilm Anzeigenverkauf: Agentur Hanne Knickmann, Darmstadt, hk@hanne-knickmann.de
E D I T O R I A L
Also, wir freuen uns ja wirklich, wenn eine so bekannte Literaturkritikerin wie Sigrid Löffler Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler (C. H. Beck 2013) endlich auch für sich entdeckt und gleich ein ganzes Buch darüber schreibt. Wir wundern uns nur ein bisschen über das Adjektiv „neu“ und haben auch sonst ein paar Anmerkungen dazu, die Sie in diesem Heft finden (S. 37). Wir freuen uns auch richtig über unseren Erfolg mit den Literaturtagen, die wir im Januar zum dritten Mal veranstaltet haben, diesmal mit dem Schwerpunkt Mittelamerika. Wahrlich nicht en vogue, das Thema, und trotzdem funktionierte das kompakte Format mit der Mischung aus Podien, Lesungen und Werkstattgesprächen wieder ganz wunderbar, wie die Fotos auf den Seiten 28 –30 zeigen. An dieser Stelle möchten wir uns für alle Unterstützung bedanken: beim Auswärtigen Amt, der Frankfurter Buchmesse, dem Kulturamt der Stadt Frankfurt, der GIZ, der Botschaft und dem Generalkonsulat von Mexiko sowie der Botschafterin von El Salvador. Wir freuen uns weiterhin über die Tatsache, dass wir mit sechs Autorinnen aus allen
Gestaltung: Renate Schlicht, Frankfurt www.renateschlicht.de
Teilen der Welt eine tolle Shortlist für den LiBeraturpreis 2014 haben. Zwei von ihnen
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stellen wir in diesem Heft ausführlich vor: Jamaica Kincaid aus Antigua / USA und Raja
Verleger und Vertrieb: LITPROM – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Alem aus Saudi-Arabien. Hintergrund und Werk der beiden könnten unterschied-
Druck: Hassmüller, Frankfurt
Kaygusuz aus der Türkei, Hiromi Kawakami aus Japan und Ana Paula Maia aus
Bezugsbedingungen: EUR 15,– jährlich einschl. Versandkosten; das Abonnement verlängert sich automatisch, wenn es nicht bis zum 30. September gekündigt ist
Brasilien. Jetzt sind wir gespannt, wie unsere Mitglieder abstimmen. Diese Form der
Preisänderung: EUR 7,50 Erscheinungsweise: halbjährlich Gefördert von Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst. Bitte teilen Sie Änderungen der Bezugsanschrift rechtzeitig mit.
Facetten aus allen Teilen der Welt nicht nur literarisch beleuchtet wird, berichten wir
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Copyright: LiteraturNachrichten Für die Übersetzungen bei den Übersetzern. Nachdruckgenehmigung wird gerne erteilt. Unverlangt eingesandte Beiträge werden geprüft, telefonische (Vorab-)Anfrage ist sinnvoll. Leserbriefe sind willkommen. Die Meinung in den Beiträgen gibt nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
licher nicht sein, auch nicht zu den anderen Nominierten Kettly Mars aus Haiti, Sema
Interaktivität ist ein schönes Novum unter unseren diversen Aufgaben. Neben dem Thema Liebe in Zeiten der Ungewissheiten, das in seinen vielfältigen auch wieder über frische Ideen von jungen Buchmenschen, die sich nicht beeindrucken lassen von den noch zu oft beklagten „Schwierigkeiten des Umbruchs in der Branche“, sondern ihr literarisches Ding machen und neue hochsympathische Wege finden, dies zu tun. Klar, dass diese Projekte dabei von vorneherein international ausgerichtet sind (S. 32). So freuen wir uns zu guter Letzt, dass immer wieder neue kleine „gallische Dörfer“ entstehen, die den vermeintlichen Widrigkeiten und ökonomischen Unmöglichkeiten trotzen. Wir fühlen uns mit ihnen in allerbester Gesellschaft und bleiben unserem Kerngeschäft treu: Autorinnen und Autoren und deren Werke aus Nigeria und Somalia, Südkorea und Kambodscha, Costa Rica, Argentinien, Südafrika, Indien und Israel vorzustellen. Weltliteratur eben.
Zurzeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 11 vom 1.1.2014 Titelgestaltung: Renate Schlicht
Ihre Anita Djafari
I N H A LT
Thema
Jamaica Kincaid (Antigua / USA): Die Liebe einer düsteren Heroin Raja Alem (Saudi-Arabien): Ein Blick in den Unterleib von Mekka
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Wole Soyinka (Nigeria): Liebe in Zeiten des Krieges
11
Afrikanische Schriftsteller und ihre Liebe zu Nelson Mandela
13
J.M. Coetzee: Liebe gegen die Vorherrschaft des Verstandes
16
Prosa
J Adnan: Ein Geschwätz nur in Weiß
19
Gespräch
Interview mit Diriye Osman (Somalia)
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Das Literaturmagazin alba
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Weltempfänger
26
Literaturtage Mittelamerika: Über Grenzen. Eine Region erzählt
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Héctor Tobar über die Literaturtage in Frankfurt
31
hochroth Verlag
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Luis Chaves (Costa Rica)
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Tobias Gohlis über Gary Victors (Haiti) Schweinezeiten
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Buchwelten
Über Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler
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Nachschlag
Olive Senior (Jamaika): Das Erscheinen der Schlangenfrau
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Fragebogen, diesmal: Corry von Mayenburg
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Buchwelten In eigener Sache
Büchermenschen Poesie Krimikolumne
In eigener Sache Preise / Nachrichten Nachruf Rezensionen
Preisrätsel
Nigeria, Ägypten, Iran, Libanon, Haiti, Kuba, Brasilien, Deutschland, England, Schweiz
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Juan Gelman (1930 –2014)
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Hwang Sun-Mi: Das Huhn, das fliegen wollte
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Uday Prakash: Mohandas
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In Koli Jean Bofane: Sinusbögen überm Kongo
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Vaddey Ratner: Im Schatten des Banyanbaums
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Raja Alem: Das Halsband der Tauben
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Shani Boianjiu: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst
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Gewinnspiel für aufmerksame Leser/ innen der LiteraturNachrichten und Vorschau
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Thema
Jamaica Kincaid [ Antigua / USA ]
DIE LIEBE EINER DÜSTEREN HEROIN Lange war es still geblieben um Jamaica Kincaid. Zehn Jahre hatte
usw.) war das durch männliche Autoren geprägte Repertoire ein-
die auf Antigua geborene Autorin, deren bemerkenswerter Wer-
fach zu schmal, um ihrer Wut und Verzweiflung Ausdruck zu ver-
degang vom Au-pair-Mädchen zur Schriftstellerin und Professorin
leihen. Andere wiederum verkehrten quasi die Vorzeichen im
für Literatur am Claremont McKenna College wie ein Märchen
Muster des Bildungsromans: Der Held wird zu einer Heldin. So
erscheint, keinen Roman mehr geschrieben. Eine der wichtigsten
schilderte Charlotte Brontë mit großer Empathie (und Erfolg) den
Stimmen der karibischen Literatur, aber auch der Écriture fémi-
sozialen Aufstieg einer Frau aus einfachen Verhältnissen, Jane
nine, schien versiegt zu sein. Doch 2013 erschien mit See Now
Eyre, die mit der schier unüberwindlichen Kraft ihrer Liebe gegen
Then ein Werk, das die amerikanischen Feuilletons in ein aufge-
die sozialen Widerstände ihrer Zeit anläuft, um schließlich ihren
brachtes Rascheln versetzte: ein Meisterwerk und stilistisch ein
Mr. Right – in diesem Fall heißt er „Mr. Rochester“ – zu bekom-
neuer Evolutionsschritt im Schaffen Kincaids.
men. Viel ist schon über die emanzipatorische Kraft dieses Ro-
Deshalb ist es ein großes Glück, dass rechtzeitig zur deutschen
mans geschrieben worden, wobei aber oft vergessen wird, dass
Übersetzung dieses Buches der Unionsverlag durch eine neue
Jane ihren Mr. Right nur bekommt, weil seine Ehefrau, die wahn-
Taschenbuchausgabe auch das lange nicht mehr lieferbare Buch
sinnige „Mulattin“ Bertha, die er versteckt auf seinem Dachbo-
Die Autobiografie meiner Mutter (erschienen 1996) wieder zu-
den gefangen hält, vorher stirbt, um Jane den Platz an seiner Seite
gänglich macht. Wenn man dieses ältere Buch nun (wieder)liest
freizumachen. Die Emanzipation Janes konnte nur zustande kom-
wird verständlich, warum es bei Erscheinen als eine kleine Revo-
men, weil eine andere, schwarze Frau zum Verstummen gebracht
lution galt und oft mit dem Werk des Nobelpreisträgers Derek
worden war.
Walcott in Verbindung gebracht wird. Dieser Vergleich mit dem
Erst wenn man Jamaica Kincaids Roman Die Autobiografie
großen karibischen Erneuerer der englischen Sprache hinkt viel-
meiner Mutter vor dem Hintergrund dieser zwei Strömungen der
leicht, wenn man die Themen und vor allem das literarische Aus-
Écriture féminine – sehr vereinfacht gesagt: hier Sylvia Plath, dort
drucksmittel der beiden nebeneinander stellt. Es gibt allerdings
Charlotte Brontë – liest, wird einem die Tragweite und ungeheure
guten Grund, dies zu tun. Beide schöpfen aus der Natur und der
Radikalität dieses Buches bewusst. Denn es ist fast eine zweite
verworrenen Geschichte des karibischen Raums, und beide stel-
Bertha, die hier spricht.
len die unmittelbare subjektive Erfahrung in den Mittelpunkt ihrer
In Die Autobiografie meiner Mutter lässt Kincaid ihre Protago-
Kunst. Während jedoch Walcott der englischen Sprache selbst
nistin Xuela Claudette Desvarieux von ihrem Leben auf der Kari-
ein neues Haus bauen wollte, schreibt Kincaid aus einer radikal
bikinsel Dominica erzählen. Ihre Mutter ist bei ihrer Geburt ver-
anderen Perspektive: der einer schwarzen Frau aus ärmlichen Ver-
storben. Deren Volk lebte ursprünglich auf der Insel, bis die
hältnissen.
europäischen Eroberer diese für sich in Besitz nahmen und ihre
Mit Foucault könnte man sagen, dass Kincaid eine karibische
aus Afrika verschleppten Sklaven dort ansiedelten. Ihr Vater hin-
Stimme in eben jenem „Gegendiskurs“ ist, der es Schriftstelle-
gegen, der das unliebsame Kind zunächst zu einer Pflegemutter
rinnen ermöglicht, durch neue literarische Formate von ihren
gibt, hat afrikanische und angelsächsische Vorfahren. Ein Um-
Lebenswelten zu berichten. Für viele dieser autobiografisch
stand, der ihn in seinen Augen zu einem aus dem „Volk der
schreibenden Frauen (Virginia Woolf, Sylvia Plath, Unica Zürn
Sieger“ macht. Seine etwas hellere Haut und rötlichen Haare
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LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
Thema
LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
© Jeff Wheeler
Jamaica Kincaid hat mit Damals, jetzt und überhaupt nach langer Zeit wieder einen Roman geschrieben, der Unionsverlag hat gleichzeitig ihren bereits 1996 erschienenen „Klassiker“ Die Autobiografie meiner Mutter als Taschenbuch neu aufgelegt. Achim Stanislawski ist von der unerhörten Radikalität der Autorin begeistert. 5
Thema
So offenbaren die Einblicke in Xuelas Gedanken und Seelenleben eine düstere Heroin. Zwar ist sie intelligent genug, um die inneren Konflikte und das Leiden der Menschen in ihrer Umgebung zu verstehen. Aber verstehen heißt für sie nicht automatisch auch verzeihen. Sie kann ihrem Vater nicht die falsche Maske verzeihen, die er aufsetzt, wenn er die armen Leute in seiner Gemeinde übervorteilt. Sie kann der Frau nicht verzeihen, die über ihre Unfruchtbarkeit verzweifelt ist und deshalb die minderjährige Xuela in das Bett ihres Mannes drängt. Selbst ihrem Ehemann, der sie anbetet und ihr ein gesichertes Leben ermöglicht, den sie aber nicht lieben kann, kann sie seine Liebe und seine Herkunft nicht verzeihen. Ihre Stärke, die sie eine Kindheit ohne Zuneigung, den Missbrauch durch den Geschäftsfreund ihres Vaters und die folgende Abtreibung hat überleben lassen, beruht auf eben dieser inneren Haltung, die alle mütterlichen und angeblich typisch weiblichen Affekte und Tugenden entschieden von sich weist. Hier haben wir eine „starke Frau“, die ihre Kraft und ihre Einsicht für sich, ganz allein sich selbst, zurückhält. Sie wird nicht geben, da auch ihr Evert A. Duyckinick, Charlotte Brontë,
nicht gegeben wird. Am deutlichsten wird dies, wenn sie über das
nach George Richmond, 1873
„Erwachen des Sexus“ (so hieß es früher immer mit männlicher Endung!) erzählt. Aus weiblicher Sicht ist wohl selten so offen über die Form, den Geruch und das Lustempfinden des weib-
scheinen ihm auch den einträglichen Posten eines Provinzpolizis-
lichen Körper geschrieben worden. Gerade in allem, was die
ten eingebracht zu haben, der ihn durch Bestechung und Amts-
Scham angeht, kennt sie keine anerzogene, „weibliche“ Zurück-
missbrauch zu einem reichen Mann werden lässt. Schließlich holt
haltung. Denn anders als bei der Geschichte ihres Landes und
er Xuela zurück, gibt sie aber bald darauf in das Haus eines
ihrer Familie, die sich auch in der Pigmentierung ihrer Haut wider-
Geschäftspartners, mit dem Xuela eine Affäre anfängt. Als sie
spiegelt, kann sie in diesem Bereich ihren „Gegendiskurs“ durch-
schwanger wird, reißt sie aus, treibt das Kind ab und lebt eine
setzen. Er besteht aus der freien und lustvollen Verfügung über
Zeitlang als Tagelöhnerin. Schließlich heiratet sie einen älteren,
ihre Scham(grenzen). Sie weiß um die Wirkung ihres Körpers auf
weißen Arzt, dem sie keine Liebe entgegenbringen kann. Im Alter,
die Männer und hat genug Mut und Wille, Liebemachen einzu-
nunmehr unter dem Namen Claudette Richardson, blickt sie zu-
fordern, sich Sex nach ihrem Begehren geben zu lassen.
rück auf ein Leben, das in allen seinen Phasen von der brutalen
Natürlich ist diese Frau, diese zweite Bertha, nur bedingt als Ikone
Geschichte ihres Landes und den schwelenden ethnischen Kon-
eines neuen internationalen Feminismus geeignet. Zu viel Bitter-
flikten einer stratifizierten Gesellschaft geprägt ist. Kincaid ver-
keit und Verachtung scheinen dieser Vereinnahmung im Wege zu
leiht einer unterprivilegierten Frau aus dem globalen Süden, mit-
stehen. (Ganz anders als bei den männlichen Figuren und Alter
hin einer zweiten Bertha, eine Stimme. Und nimmt dabei kein
Egos von Schriftstellern wie Céline und Bukowski.) Und doch ist
Blatt vor den Mund. Kincaid schreibt diesen neuen karibischen Bil-
etwas an dieser Xuela, das der Debatte über „starke Frauen“ dies-
dungsroman so abseits aller Konventionen, so unerbittlich und
seits und jenseits der europäischen Grenzen vielleicht noch ge-
brutal gegenüber ihrer Erzählerin und den Figuren in ihrem Buch,
fehlt hat. Es ist die rabiate Vehemenz, mit der sie die eigenen
dass es einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Nein, Kincaid
Interessen in den Vordergrund stellt. Ihre Schamlosigkeit und ihr
ist wirklich keine einfache Autorin, sondern eher eine Zumutung.
fehlendes Mitgefühl sind nicht „unweiblich“ oder Effekte einer
Aber eine unumgängliche Zumutung. Sie hat Programm. Sie muss
Verrücktheit, sondern die einzige Kraftquelle eines benachtei-
ihre Leser einer brutalen Sprache aussetzen, um die Unausweich-
ligten Menschen. Denn die Not gebiert nicht unbedingt nur Mit-
lichkeit und Unentrinnbarkeit des rassischen und sexuellen Kon-
leid mit anderen Notleidenden, die Benachteiligung führt nicht
flikts darzustellen, dem eine schwarze Frau in der Karibik ausge-
automatisch zu dem Wunsch, dass andere es besser haben sollen.
setzt ist. Nichts an ihr ist nett.
Eine „starke Frau“ muss die andere nicht verstehen, nur weil sie
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LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
Thema
beide das gleiche Geschlecht haben. Vielleicht ist sie ihr auch ge-
in einer bürgerlichen Kleinstadt in Neuengland errichtet zu haben.
hörig unsympathisch. Trotzdem wird sie ihr zugestehen, dass sie
Sie liebt ihren Garten, ihren Mann, ihre Kinder. Nur gelegentlich
etwas Wichtiges zu sagen hat.
setzt sie sich noch hin, um über ihr früheres Leben auf einer nicht
Vielleicht kann uns der Blick einer Frau zurück im Zorn vor allem
näher bezeichneten Insel, von ihrer liebevollen und strengen Mut-
das lehren. Aber Die Autobiografie meiner Mutter scheint auch
ter, von den ärmlichen Verhältnissen zu schreiben. Mr. Sweet hin-
noch etwas anderes, tiefer Gehendes anzudeuten. Denn ganz
gegen fühlt sich keinesfalls geborgen in diesen saturierten Ver-
zum Schluss, als ihr Vater bereits begraben ist, findet Xuela doch
hältnissen, sondern um sein Leben, um sein Genie von seiner Frau
Liebe zu ihm in sich. Die Ambivalenz des Gefühlslebens, in dem
betrogen, die er gelernt hat zu hassen. Er verschanzt sich in einem
Hass auch immer mit Liebe vermischt ist, rückt in diesem Moment
behelfsmäßigen Komponierzimmer vor dem aufdringlichen Lärm
ins Zentrum der Geschichte. Und plötzlich erinnert man sich eini-
der Kinder und der überfürsorglichen Liebe seiner Frau, um sich
ger Hinweise, Nischen in der Geschichte dieser Frau, eigentüm-
ganz seiner persönlichen Hybris zu widmen. In der alltäglichen
licher Formulierungen, die andeuten, das Xuela selbst das letzte
Gedankenwelt dieses aneinander vorbei lebenden Ehepaares, in
Wort noch nicht gesprochen hat.
den mäandernden inneren Monologen ihrer Sehnsüchte, ihrer Liebe und ihrer Abscheu voreinander, ist der eigentliche Motor
Damals, jetzt und überhaupt, das neue Buch von Jamaica Kincaid,
dieser Geschichte zu sehen. Von einer behutsamen Deskription
ist zwar in sich ein geschlossener Roman, lässt sich aber im Ver-
des ländlichen Idylls tauchen ihre Sätze unvermittelt, aber sanft,
gleich mit Die Autobiografie meiner Mutter wie eine subtile Fort-
nie schockartig, in das zweistimmige Konzert der inneren Mono-
setzung der darin angeschlagenen Themen und Stimmungen
loge von Mr. und Mrs. Sweet ab. Kincaid vermag es hierbei, wie
lesen. Denn ähnlich wie Xuela ist auch Mrs. Sweet aus See Now
auch der klangvolle, aber eigenartige Titel ihres Buches nahelegt,
Then, wie der englische Titel lautet, ein Vexierbild der Autorin,
spielerisch die Vergangenheit mit dem Jetzt und dem Zukünftigen
deren Bücher stets einen autobiografischen Zug tragen. Die Ähn-
zu überblenden. Liebe und Hass, die in einem wüsten Moment
lichkeit der Romanfiguren und der geschilderten Situation zu Kin-
die Protagonisten anfüllen und sie zum Wahnsinn zu treiben
caids Lebensweg hat, obwohl schon seit den 1970er Jahren
scheinen, werden dann ganz sanft in sich zurückfallen, die Ener-
immer wieder der Tod des Autors und die unhintergehbare
gie abgeleitet und aufgelöst. Dieses Nebeneinander, dieses
Deckungsungleichheit von Figuren in einem Roman und den
schwellenlose Übergleiten von extremen Gefühlszuständen in-
Menschen außerhalb der Fiktion beschworen wird, trotzdem für
einander, unterlegt Kincaid mit einem ganz einzigartigen Sound,
einigen Wirbel gesorgt. Schließlich war die Scheidung Kincaids
der auch nicht davor zurückschreckt, sich einmal, zweimal, drei-
von ihrem Mann, dem Sohn ihres ehemaligen Protegés, der sie als
mal zu wiederholen. Der Klang dieses Kincaid-Sounds ist wirklich
Kolumnistin zum New Yorker geholt hatte, zum Zeitpunkt der
atemberaubend und verleiht ihrer Kunst eine neue Dimension,
Veröffentlichung dieses Romans noch sehr frisch. Eine solche Eng-
welche die ohnehin schon immer anwesenden Fragen über Poli-
führung dieser Geschichte verkennt aber das ästhetische Pro-
tik, ethnische Zugehörigkeit und das Geschlecht in ihrem Schaf-
gramm Kincaids, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, radikal
fen komplementiert.
offen über ihre Erfahrungen als Frau aus armen Verhältnissen, die
Wie schön, diese beiden Bücher nun nebeneinander ins Bücher-
in ein fremdes Land auswandert und dort aufgrund ihrer Herkunft
regal stellen zu können!
und Hautfarbe gewissen Reibungen ausgesetzt ist, zu schreiben. Eine Schriftstellerin muss darüber schreiben, was sie bewegt. Und genau das tut Kincaid. Dass sie dabei ohne Scheu eine subjektive,
Achim Stanislawski ist Literaturwissenschaftler und Doktorand. Er lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.
ungefilterte, oft auch sich selbst und anderen gegenüber ungerechte Position vertritt, ist Teil eines literarischen Schaffens, dass
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sich Unbedingtheit vor allem anderen auf die Fahne geschrieben hat. Nur dank dieser Einstellung schafft es Kincaid, aus dem relativ alltäglichen Drama einer Scheidung ein Portrait zu zeichnen, das
Die Autobiografie meiner Mutter. Unionsverlag 2013 Tb. Aus dem Englischen von Christel Dormagen Damals, jetzt und überhaupt. Unionsverlag 2013. Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich
ihren Leserinnen und Lesern (!) ein so stimmiges, intimes Bild aus dem Seelenleben einer Frau vermittelt. Denn tatsächlich passiert
Die Autobiografie meiner Mutter war auf Platz 3 des Weltempfängers Nr. 21 im Winter 2013.
fast nichts in diesem Buch, der Handlungsverlauf ist sehr simpel. Mrs. Sweet sitzt der Illusion auf, sich ein glückliches Familienidyll
LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
Jamaica Kincaid ist mit diesem Buch für den LiBeraturpreis 2014 nominiert
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Thema
Raja Alem [ Saudi-Arabien ]
LIEBE ZUM FREIEN DENKEN Im Jahr 2011 erhielt Raja Alem für ihren Roman Das Halsband der Tauben den arabischen Booker Prize. Der Unionsverlag brachte das vielschichtige Werk 2013 in deutscher Übersetzung heraus. Claudia Kramatschek wurde neugierig und führte per E-Mail auf Englisch mit der jungen Autorin ein Gespräch.
Claudia Kramatschek: Eine entblößte weibliche Leiche
tionäres Statement. Was die Themen anbelangt, die Sie nennen
in einer der Altstadtgassen von Mekka; viel Blut und nicht
– heimliche Liebe, Abtreibung, weibliche Sexualität – wurde der
zuletzt auch Sperma. Das Halsband der Tauben wirft einen
Roman genau deswegen ausgezeichnet, da er ein sinnliches Bild
Blick in den Unterleib dieser Stadt. Wie reagierte das sau-
des echten Lebens liefert. Noch ein Kommentar sei aber erlaubt:
dische Publikum auf Ihren Roman?
Die Unterdrückung des weiblichen Körpers und Geistes ist allen
Raja Alem: Entweder erachten Sie Mekka als eine Stadt der Toten
Kulturen eigen.
oder als eine Stadt der Engel: Denn wo immer Leben ist, ist auch
Die Araber wiederum galten in ihrer Geschichte als eine sinnliche
Dynamik – zwischen Licht und Schatten, Leben und Tod. Und
Nation. Meine Großmütter und Tanten betrachteten die Sexua-
mein Buch handelt von nichts anderem als dem Leben, in diesem
lität als Teil ihrer alltäglichen Freuden und lehrten, den eigenen
Fall in Mekka; der Stadt, die als Heimat Gottes gilt. Dem Koran zu-
Ehemann zu genießen. Mein Roman und ich sind deshalb das Pro-
folge sagte Gott: „Ich bin in euch, ihr müsst nur in euch blicken.“
dukt dieses freien Denkens und dieser freien sexuellen Existenz.
Sprich: Gott ist in unserem Herzen zuhause, sei es weiß oder schwarz, zärtlich oder grausam. Mein Roman bricht in dem Sinn
Schon Scheherazade musste einen Trick anwenden,
also kein Tabu, sondern wirft einen Blick auf das menschliche
um ihre Geschichte erzählen zu können. Ihr labyrinthisch
Herz.
angelegter Roman ist ein Meisterstück des postmodernen
Zudem gibt es in Saudi-Arabien immer mehr Raum, sich frei zu
Erzählens: Es gibt Doppelgänger und diverse Spiege-
äußern, sowohl in der Kunst als auch in der Literatur. Kurz nach-
lungen sowie einen Roman innerhalb des Romans, der
dem ich für diesen Roman den arabischen Booker Prize erhielt,
wie eine Art Kassiber eine heimliche Nachricht zu
wurde ich für mein bisheriges literarisches Werk auch mit der
transportieren scheint ...
Golf-Medaille für Kreativität geehrt, die von den Kultusministern
Ich zeige nur, was sich in meinem Kopf bzw. in jedem Kopf um
der Golf-Staaten vergeben wird.
uns herum befindet. Schauen Sie in Ihren – was sehen Sie? Einen Irrgarten innerhalb eines Irrgartens, oder? So ist das moderne,
Den renommierten arabischen Booker Prize erhielten Sie
labyrinthische Ich, das ich im Übrigen schon in alten arabischen
2011. Waren Sie nicht doch überrascht? Immerhin schrei-
Büchern gefunden habe. Im Kitab al-Hayawan etwa, dem Buch
ben Sie in diesem Buch über Ehrenmorde, heimliche Lieb-
der Tiere, aus der Feder von al-Jahiz, stößt man auf einen Brief,
schaften, über Abtreibung, künstliche Hymen und die
der alles, was mit diesem Brief in Berührung kommt, also auch
weibliche Sexualität generell …
den Leser, verschlingt. Ich bin der Faszination dieser alten arabi-
Jede Jury – sofern sie sich als kulturell aufgeschlossen erachtet –
schen Texte in der Tat erlegen – und nie wieder aus ihren Tiefen
sollte immer nur das Werk an sich begutachten anstatt sich zu
aufgetaucht! Als ich zu schreiben begann, war ich wie hypnoti-
sorgen, dass eventuell gesellschaftliche Tabus gebrochen werden.
siert und wie ein Medium verbunden mit den Geistern der Toten,
Schließlich geht es um ein Kunstwerk und nicht um ein revolu-
die ich beschwöre, um sie mithilfe meiner modernen Werkzeuge
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LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
Thema
Aus: Kitab al-Hayawan, Buch der Tiere von al-Jahiz
wieder zum Leben zu erwecken. Das ist mein ‚Ultra-Post-Moder-
sagen, Schreiben ist mein kläglicher Weg, das einzigartige Gesicht
nismus’: die Mischung aus lang vergangenem Altertum und weit
dieser Stadt wieder erstehen zu lassen: ihr menschliches Antlitz,
entfernter Zukunft.
gezeichnet von Liebe und Schmerz, von Musik und Gebeten und der äußersten Stille ihrer betörenden Sonnenuntergänge.
In Ihrem Roman kann die geschändete Frauenleiche auch gelesen werden als ein Bild für den geschändeten Körper
Auch dieser Roman spielt zwar in der Gegenwart, nimmt
Ihrer Heimatstadt Mekka. Dort drohen Bauprojekte ihr
einen aber mit auf eine Reise durch die Zeit, zurück nicht
altes Gesicht auszuradieren und diese in eine gesichtslose
nur zur ersten Hijra, sondern auch zurück bis in vor-isla-
Stadt zu transformieren.
mische Zeit, als man noch heidnische Götter anbetete.
Die Stadt ist nicht gesichtslos, sondern trägt unser Gesicht. Wir
Wenn eine meiner Figuren, Yusuf, von der Vergangenheit beses-
können nicht so tun, als wären wir unschuldig, als wäre der Wan-
sen ist und sich und sein Land in diese zurück wünscht, dann ist
del wie ein Alien bei uns gelandet. Nein, der Herr dieses Wandels,
das genauso radikal wie der von allen Traditionen losgelöste
Sheikh Sebaikhan, stammt von unseren besten Stämmen ab – er
Sprung in das Weltraumzeitalter. Mein Buch spiegelt beide Ex-
ist wir, wir sind er. Wenn wir im Willen, modern sein zu wollen,
treme: diejenigen, die fundamentalistisch das Moderne vertreten,
unsere Verbindung mit dem Alten durchtrennen, werden unsere
und diejenigen, die fundamentalistisch das Alte wollen. Muaaz
Städte sich entsprechend wandeln. Unsere Deformationen hinter-
dagegen, eine andere Figur, repräsentiert die Mitte: den mode-
lassen deformierte Spuren.
raten Weg derer, die sich in die Moderne wagen und doch zugleich in ihrem ganz eigenen Hintergrund verwurzelt sind.
Im Roman sind wir mehrmals zu Gast in einer alten Villa, in der sich das fiktive Archiv von Mekkas ‚erstem Foto-
Die friedliche Koexistenz der Religionen scheint mir ein
grafen' befindet, der in seinen Bildern die Geschichte und
zentrales Anliegen Ihres Romans zu sein. Der Titel verweist
den Wandel der Stadt dokumentiert. Ist die Literatur Ihr
nicht umsonst auf einen berühmten klassischen Text der
Weg, das Gedächtnis der Stadt aufrecht zu erhalten?
islamischen Literatur: Das Halsband der Taube von Ibn
Ich erachte mich selbst als die einzige Erbin von Mekkas Legen-
Hazm, geschrieben im 11. Jahrhundert …
den und ihrer Geschichte. Mir ist, als wäre ich von der Stadt be-
Ibn Hazm schrieb über jenes goldene Zeitalter in Andalusien, als
sessen und als spräche diese nun durch mich in einer Weise wie
die drei Religionen in Harmonie zusammen lebten und eine groß-
niemand zuvor. Alle meine bisherigen zehn Bücher sind wie ein
artige Kultur hervorbrachten. Zugleich widmete Ibn Hazm die
einziger Körper, in dem Mekka wieder aufersteht – angefangen
letzten Jahre seines Lebens dem Schreiben über die Liebe – über
vom alten Mekka der Legende bis hin zum jugendlichen Gesicht
die Liebe als die Brücke zwischen dem Unüberbrückbaren. Für
des jetzigen modernen Mekka. Tatsächlich existiert das Mekka
mich persönlich bilden Kunst und die Kreativität die Brücke über
meines Großvaters nur noch in meinen Büchern. Man könnte
das globale Chaos.
LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
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Thema
bata. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” zu sein, ist letztlich das Schicksal fast aller meiner Figuren. Sie fühlen sich wie in einer verlorenen Zeit. Sie haben das Leben verloren, das sie leben wollten, fühlen sich ihrer Zeit und ihres Lebens beraubt. Aisha etwa lebt allein in den Büchern – im wirklichen Leben ist sie ein Spielzeug in der Hand erst ihres Vaters, dann ihres Ehemannes. Azza wiederum wird wie ein Sack Reis im Warenlager ihres Vaters aufbewahrt und zweimal wie eine Ware quasi verkauft. Sie kämpft um die verlorene Zeit, und auch sie wird dafür verdammt. In einem Dialog gegen Ende des Romans sagt Nora, eine junge Künstlerin: „Ich möchte die Wände wegschieben, um meinen Raum zu erweitern, um ihm etwas anderes entgegenzustellen“. Spricht da auch die Autorin Raja Alem? Man könnte sagen, dass ich gemeinsam mit meinen Helden und Heldinnen die Mauern einreiße. Ich habe einmal gesagt: warum Der Verweis auf Ibn Hazm ist nur einer von vielen litera-
nicht an die Reinkarnation glauben? Ich mache nichts anderes.
rischen Querverweisen. Proust spielt eine Rolle, vor allem
Die ganze Zeit, mit jedem Buch und jedem einzelnen Charakter,
aber der Roman Liebende Frauen des ‚Skandalautors‘
fühle ich mich, als gewinne ich ein neues Leben und eine neue
D. H. Lawrence! Wie darf man sich das Ineinander von
Existenz. Meine Figuren sind dabei die Antwort auf mein Bedürf-
westlicher und nicht-westlicher Literatur in Ihrem Werk
nis nach Abenteuer; sie testen den Boden für meinen Fortgang im
vorstellen?
wirklichen Leben.
Meine früheste Lektüre waren Werke aus dem Westen, dem Fernen Osten und aus Lateinamerika. Dies entsprach meiner Leidenschaft für das Abenteuer und meiner Lust, die Grenzen zu überschreiten. Als ich heranwuchs, erschien mir die arabische Literatur
Claudia Kramatschek ist Kulturjournalistin, Literaturkritikerin und Jurorin der Bestenliste Weltempfänger. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
langweilig, da lokal. Ich wusste von ihr nur das, was wir in der Schule über sie lernten. Doch nachdem ich viel gereist war, entdeckte ich die klassische alte arabische Literatur – magische Bücher wie eben Al-Jahiz’ Buch der Tiere oder die Werke eines frühen Science-Fiction-Autors, Zakariya al-Qazwini. All dies sind von den modernen Generationen in der ganzen arabischen Welt vergessene Bücher! Ich las diese Schätze mit einem Blick, der wie
Das Halsband der Tauben war auf Platz 1 des Weltempfängers Nr. 21 im Winter 2013. Raja Alem ist mit diesem Buch für den LiBeraturpreis 2014 nominiert Das Halsband der Tauben war ein Titel im Programm des Anderen Literaturklubs 2013.
© Privat
poliert war durch die Lupe eines Proust, Lawrence oder Kawa-
Das Halsband der Tauben. Unionsverlag 2013. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
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LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
Thema
J.M. Coetzee [ Südafrika / Australien]
LIEBE GEGEN DIE VORHERRSCHAFT DES VERSTANDES Platon meinte, die höchste Form des Glücks sei der Wahnsinn der Liebenden. Seinem Sokrates soufflierte er, der liebende Mensch lebe nicht in sich selbst, sondern im Liebesobjekt, und sei dort eigentlich am glücklichsten. In J.M. Coetzees jüngstem Roman Die Kindheit Jesu gelingt den Menschen diese Art des platonischen Wahnsinns nur schwer. Das Aus-sich-Heraustreten und in den geliebten Menschen hinein wird kompliziert durch die lebensweltlichen Umstände des seltsam rationalirrationalen Ortes Novilla, an dem die Figuren, alle aus einer nebulösen Vergangenheit angekommen, ihr neues Leben beginnen. Jan Wilm hat sich mit Autor und Werk auseinandergesetzt. Er liebt den Text.
Der Roman Die Kindheit Jesu erzählt die Geschichte von Simón
zaubern müsste, würde Morus sich in dem seinigen womöglich
und David, einem Mann und einem kleinen Jungen, die sich auf
wegdrehen. Denn wo sein Utopia zum Beispiel den nicht zu unter-
einer nicht weiter erläuterten Überfahrt kennen lernten, auf einer
schätzenden Vorschlag darbot, zukünftig zu Vermählende sollen
Schiffsreise ohne genau bestimmten Ursprung und mit nur einem
sich doch in der Nacht vor der Hochzeit voreinander einmal klei-
Ziel: das zwischen Utopie und Dystopie, zwischen Chronik und
derlos präsentieren, um den weniger feierlichen Überraschungen
Allegorie changierende Novilla. Dieser neue Ort hat die merk-
der körperlichen Liebe vorzubeugen, da scheint die ideale Welt
würdige Eigenschaft, den Menschen die alten Erinnerungen zu
von Novilla weder die körperliche noch die platonische Liebe zu
löschen. Einmal in Novilla angekommen, waschen sich die Men-
schätzen, ja sie gar zu beachten. Eine Welt, die ohne Hass ist, ist
schen von der Vergangenheit rein – warum, bleibt ein Geheimnis.
nicht sofort eine Welt voller Liebe.
Die Menschen hier sind in einem seltsamen Larvenstadium; halb-
Simón arbeitet hart als Schauermann am Hafen und in seiner Frei-
fertig in dieser schönen neuen Welt, machen sie, wie Kinder, die
zeit bringt er David zu der jungen Frau Elena, die den Knaben in
Erfahrung, dass diese manchmal nicht die schönste aller Welten
Musik unterrichtet, während die Erwachsenen sich ein wenig
ist. Und das, obwohl alles auf Idealisierung gestimmt ist. Die Men-
näher kommen. Was will Simón mit Elena, fragt er sich: „Hofft er
schen sind höflich, die Busse umsonst, jeder hat Arbeit, das Leben
sie zu verführen, weil in Erinnerungen, die ihm noch nicht ganz
funktioniert ethisch und rational. Man isst kein Fleisch, kein Salz,
verlorengegangen sind, das einander Verführen etwas ist, das
es gibt keine Trinker und keinen Hass. Die Zivilisation von Novilla
Männer und Frauen tun? Besteht er auf dem Vorrang des Per-
ist eine Annäherung an einen sozialistischen Idealstaat, eine ka-
sönlichen (Begierde, Liebe) vor dem Universellen (Wohlwollen,
pitalismusfremde glückliche Insel, wie Hesiod sie einst beschrieb
Güte)?“ Auf leise und häufig humorvolle Weise beginnt der
und die Renaissance sie erträumte. Was Novilla mit Thomas
Roman neben einer Vielzahl philosophischer Untersuchungen
Morus’ Utopia teilt, ist zweifellos die Farblosigkeit, die spröde Lan-
auch eine Befragung der Liebe in ihren verschiedensten Formen.
geweile, der die Bürger ausgesetzt sind. Doch wo das Leben in
Simón, der noch gelegentlich schattenhaft Erinnerungen an ein
Novilla auf einer protestantischen Arbeitsethik basiert, die Max
früheres Leben in sich aufflackern sieht, teilt des Lesers Verwun-
Weber selbst in seinem Grab noch ein Lächeln auf den Schädel
derung über diese seltsame Welt, und wir sind mit ihm geneigt,
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LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
sofort die seltsame Körperlosigkeit der Menschen, in Gestalt Ele-
durch diesen Text weiß. Weil unser rationaler Zugriff auf den
nas, als etwas Merkwürdiges abzutun. Aber haben wir damit
Roman fortwährend verhindert wird, sind wir gezwungen heraus-
Recht? Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan meinte,
zufinden, ob es noch einen anderen Weg geben kann. Und ein
es gebe gar keine sexuelle Beziehung. Beim Sex sei jeder nur mit
anderer Weg, diesen Text wahrzunehmen, ist vielleicht, ihn zu er-
sich selbst beschäftigt. Ist Elenas Gegenentwurf der Liebe als
leben wie ein Liebender, statt ihn mit dem Verstand zu sezieren.
Wohlwollen, im Sinne des größeren Ziels für die Gemeinschaft,
Wer weiß, was Liebe ist, hat oft keine Ahnung, was sie bedeutet.
eine Lösung für die Zwanghaftigkeit des Sexuellen, der auch
Die Liebe spinnt sich durch Coetzees gesamtes Werk, häufig ver-
Simón nachhängt?
schlüsselt oder verkompliziert, am deutlichsten dann, wenn seine
Doch wo bleibt die Leidenschaft in dieser wohlwollenden, ratio-
Figuren voreinander stehen wie vor Wänden und der rationale
nalen Welt, wo die kitzelnde Ungewissheit, die den Liebenden
Kontakt scheitert. Immer scheinen seine Texte zu zeigen, dass es
Ruhe und Nächte raubt? Schließen Rationalität und Liebe ein-
nicht nur eine Welt des Geistes gibt, sondern auch die des Ge-
ander immer aus? Wenn wir Antworten auf diese Fragen erwarten,
fühls, des Herzens – und das auf eine hochreflektierte Art. Die
sind wir im falschen Roman. Statt uns Plattitüden aufzutischen,
Welten des J.M. Coetzee sind mit fortschreitendem Werk – Die
lädt der Text ein, uns selbst in dieser Welt zu orientieren und zu
Kindheit Jesu ist sein zwölfter Roman – immer karger, ausge-
reflektieren. Die Liebe in Novilla ist so ungewiss wie diese neue
höhlter und minimalistischer geworden, seine Leser bewegen sich
Welt selbst. Aber ist sie das nicht immer? Und ist das vielleicht gar
durch ungefähre Landschaften. Der Verstand, die reine Ratio, so
nicht der schlechteste Aspekt der Liebe: ihre Ungewissheit?
zeigen die Texte, sind beim Lesen, Leben und Lieben manchmal
Indem der Roman uns mit der Fremde Novillas konfrontiert und
so hilfreich wie noch die stärkste Brille für den Blinden. Es braucht
dabei immer wieder die Fragen der Liebe aufwirft, indem wir
ein langsameres, ein aufmerksameres Fühlen, um durch Coetzees
ständig im Ungewissen durch diesen durchrationalisierten Ort
Welten zu gelangen, eine offenere, eine liebende Erfahrung des
stapfen, sind wir zwar angehalten, über diese Welt und ihre Liebe
Textes vielleicht.Die Kindheit Jesu betrachtet einmal mehr die Welt
mit unserem Verstand nachzudenken, aber paradoxerweise auch
des Herzens in einer Art Windmühlenkampf gegen die Vorherr-
gezwungen uns zu fragen, ob unser Verstand den einzigen Weg
schaft des Verstandes. Das Rationale, mit seinem Anspruch auf
LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
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Gustave Courbet. Frau mit Papagei, 1866
Thema
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Thema
wir sind auch Zuschauer bei einem absurden Coup des Textes, einem Plan Simóns. Überzeugt, dass ein Kind nur mit Mutterliebe aufwachsen kann, setzt er sich in den Kopf, die Mutter des Kindes zu suchen. Da in Novilla aber jeder Mensch einen neuen Namen trägt, wie will er sie finden? Bei einem Ausflug durch die Natur sieht er eine schöne, in Weiß gekleidete Frau: „In ihm bewegt sich etwas. Wer ist diese Frau?“ Sofort weiß er, das muss sie sein! Seine Entscheidung fällt nicht rational, sondern ganz intuitiv – und stellt sich bald als die falsche Entscheidung heraus. So wirft uns der Roman heimlich ein Stöckchen in die Speichen, sollten wir glauben, die Antwort auf die Herrschaft der reinen Ratio sei die spontane Intuition. Und was Simón als ein intuitives Wissen bezeichnet, ist vielleicht nichts anderes als eine körperliche Regung der Liebe. In der jungfräulichen Inés, die zur Mutter des Kindes berufen wird, spielt der Roman die im Titel anklingende Referenz auf die Kindheitsgeschichte Jesu aus und webt weiter an seinem Netz der Geheimnisse, in dem wir bald regungslos gefangen sind. Welche rationale Lesart wir auch einschlagen, immer scheint uns der Text um eins voraus, immer wird unsere Interpretation erschwert und verhindert. Auf höchst komplexe und gekonnte Weise verlagert der Text so die zwischenmenschliche Liebe, die im Roman an der Ratio scheitert, aus der Romanwelt hinaus in die Beziehung zwischen Text und Leser. Ob wir lieben oder lesen: Die eine Antwort gibt es nicht, vielleicht gibt es gar keine. Bei Coetzee ist die Liebe stets eine Ungewissheit, unbestimmbar und somit immer mit neuen Gefühlen besetzbar. Sein Werk zeigt auf bedrückende, traurige und zugleich meisterhafte Weise, dass die Welt mit dem Verstand allein nicht zu begreifen ist. Und auf eine ganz einfache Art ist die Ungewissheit der Liebe zwischen zwei Menschen etwas, das zwischen einem aufrichtigen aufmerksamen Leser und einem lockenden, aber verschlossenen Text widerhallt. Ein Text, der sich an einen wirft wie ein aufdringlicher Geliebter, eine klammernde Liebschaft, der lässt einen vielleicht kalt. Aber ein Text, dem es gelingt, sowohl inhaltlich von der Fremdvolle Form etwas wie Verlangen auf Verstehen, etwas wie Liebe
Funktion einer Sache, einer Handlung, verstellt ganz nebenbei die
zu den Worten, der Sprache, der textlichen Welt hervorzurufen –
Möglichkeit der zwischenmenschlichen Liebe, die keine Funktion,
ein solcher Text ist nicht nur ein einzigartiges Kunstwerk, sondern
keinen Nutzen hat außer sich selbst.
auch ein Reflexionsraum für all das, was ohne Ungewissheit nicht
Der Roman untersucht verschiedene Formen der Liebe und spielt
denkbar, vor allem aber nicht fühlbar ist. Ob man das nun Liebe
ihre Vorzüge und Nachteile durch, ohne belehrende Antworten
nennt oder Wahnsinn, das überlässt der Roman seinem Leser.
zu geben. Es begegnet uns eine erotische Liebe zwischen Elena und Simón, die in ihrer geschlechtlichen Auslebung funktionaler und eintöniger nicht sein könnte; es begegnet uns eine väterliche Liebe zwischen Simón und David, die unbefangen und unhinterfragt, ganz einfach zärtlich zwischen den beiden existiert. Aber
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Jan Wilm ist Literaturwissenschaftler an der Goethe-Universität in Frankfurt und freier Literaturkritiker. J. M. Coetzee, Die Kindheit Jesu. S. Fischer Verlag 2013. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014
© Jerry BAUER / Opale / StudioX
heit beim Lieben zu sprechen und dabei durch seine geheimnisvollkommene Gewissheit, mit seinem Drang auf Erklärbarkeit der
Rezensionen
Der wahre Mohandas
Wenn Formeln versagen
Amnesty International hat Indien wieder-
Berechnetes Durchschlängeln – das ist die
holt ermahnt, die Menschenrechte einzu-
Überlebensstrategie des Kriegswaisen Celio
halten, und zu ihnen zählt der Gleichheits-
Matemona, der wie viele andere junge
grundsatz, der für weite Teile von Politik,
Leute in Kinshasa durch Gelegenheitsjobs
Bürokratie und Justiz immer wieder miss-
von der Hand in den Mund lebt. Aber der
achtet wird. Hiervon betroffen sind vor
wortgewandte Celio – von seinen Freun-
allem Angehörige unterer Gesellschafts-
den auch Mathematix genannt – hat in der
schichten und ethnischer Minoritäten, de-
Mathematik Halt gefunden und in einer
nen nicht allzu viel Unterstützung zuteil
selbstgebastelten Philosophie, die er von
wird, ihre Grundrechte durchzusetzen. Pra-
ihr ableitet, genährt durch ein altes Ma-
kashs Novelle Mohandas greift dieses viru-
theschulbuch und jahrelanges Studium
lente Problem des täglichen Lebens vieler
einen Job qualifiziert. Man soll mich nur in
als „blinder Zuhörer“ an der Uni, deren
Inder auf und führt das ergreifende Schick-
Frieden lassen … lasst uns leben … helfen
Gebühren er nicht zusammen kratzen
sal eine jungen Mannes vor Augen, der
Sie mir doch!“
konnte. Mit Hilfe von Sinusbögen oder
nicht nur seiner Rechte, sondern buchstäb-
Prakashs Novelle erhält ihre Sprengkraft
Hyperbeln versucht er, das Chaos in seinem
lich seiner Identität beraubt wird.
aus der doppelten Erzählperspektive, in der
bürgerkriegsgebeutelten Heimatland bere-
Als Angehöriger einer unteren Kaste ge-
die fiktionalisierte Story um Mohandas‘
chenbarer zu machen. Kurz nachdem einer
lingt es Mohandas nach hartem Studium
Schicksal um regelmäßig eingeschobene
seiner Freunde bei einer Demonstration To-
einen Collegeabschluss zu erlangen mit
Passagen ergänzt werden, die sich auf
desopfer politischer Intrigen wird, lässt der
der Aussicht, finanziell einträgliche Arbeit
kontroverse und negative politische Ereig-
Autor seinen skurrilen Helden die Versu-
zu finden, so dass er das Leben seiner ar-
nisse der Jahre 1997 bis 2001 beziehen.
chung kosten: einen Job im Propaganda-
men Familie wirtschaftlich erträglich ge-
Die fiktive Geschichte erfährt so nahezu
Büro des Präsidenten mit all seinen Mani-
stalten und ihr soziales Ansehen heben
parabolische Überhöhung, würde sie nicht
pulationsmöglichkeiten in einem Land, in
kann. Doch seine Bewerbungen bleiben
doch äußerst realistisch dargeboten. In sich
dem die Mächtigen sich mit allen Mitteln
lange erfolglos, bis ihn Oriental Coal Mines
vereint die komplexe Figur des Ich-Erzählers
gegen eine Demokratisierung stemmen.
zu einer Auswahlprüfung einlädt, die er
einen emphatisch empfindenden, akkurat
Ob Celio auf seinem neuen Posten für den
auch besteht. Doch die Einstellungszusage
sezierenden Chronisten, der sich gleich-
Machterhalt des Präsidenten Oppositions-
lässt auf sich warten und wird schließlich
wohl jeglicher Sentimentalität enthält, und
politiker opfert oder einen nichtsahnenden
nach mehreren Jahren zurückgezogen.
den kühlen Reporter, dessen Worte den
Franzosen als Attentäter und Auslöser
Mohandas erfährt, dass der wenig qualifi-
Zorn über die berichteten Ereignisse und
einer diplomatischen Krise präsentiert – der
zierte Mitbewerber Bisnath sich seiner
deren Verurteilung keineswegs aussparen.
Roman erzählt von der Absurdität des Me-
Unterlagen bemächtigt und unter seinem
Eine gleichermaßen literarisch wie mora-
dienzeitalters, in der keine Manipulation
Namen die gutbezahlte Stellung erhalten
lisch engagierte Geschichte, die jeder lesen
undenkbar ist. Er tut das mit an Metaphern
hat. Seine immer wieder unternommenen
sollte, der sich mit der Moderne Indiens be-
reicher Sprache, mit Ironie und spannen-
Versuche, den Schwindel aufzudecken,
schäftigt.
den Wendungen. Bis ein fingierter Staats-
Dieter Riemenschneider
sogar unterstützt von einem Anwalt und
streich und seine unvorhergesehenen Uday Prakash [Indien]
Folgen vom Durchschlängler eine Entschei-
Bisnath erweist sich als gewiefter, skrupel-
Mohandas. Novelle.
dung fordern, die mit Formeln allein nicht
loser Ränkespieler, der Zeugen und das
Mohandas, 2005.
zu treffen ist. Absurd, zynisch, makaber
Untersuchungsgericht besticht. Mohandas
Aus dem Hindi von Gautam Liu
und doch menschlich und amüsant: Sinus-
verzweifelt schließlich, nachdem er gar
und Ines Fornell
bögen überm Kongo ist eine gelungene
wegen falscher Namensführung als Krimi-
Draupadi Verlag, Heidelberg 2013
Satire auf das Leben in einer afrikanischen
neller abgestempelt wird, und bittet
122 S.; EUR 14.00
Metropole und die Skrupellosigkeit der
Untersuchungsrichter, bleiben erfolglos.
darum, ihm seine Identität abzuerkennen: „Ich bin nicht Mohandas … Ich war nie für
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Mächtigen. Auf nichts ist Verlass, rein zuSiehe Weltempfänger 22 Platz 1
fällig rettet die Laune eines Gewissens ein
LiteraturNachrichten Nr.120 Frühjahr 2014