Magazin KULTURELLE BILDUNG Nr. 5 /// Flagge zeigen. Kulturelle Bildung 2010

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Gutscheinsysteme für Kindertheater und Kinderkino etc. Die – zugegeben manchmal nicht so sexy erscheinende – Alphabetisierung in ästhetischen und künstlerischen Kommunikations- und Bedeutungssystemen droht mangels Gelegenheit wegzufallen. Die wuchernden Stundentafeln, die andere, sicher nicht unwichtigere Sujets wie Spracherwerb und naturwissenschaftlich-technische Kompetenz in eine dominierende Rolle bringen, die übrigens von den Eltern oft so gewünscht wird, lassen Fragen nach Quintenzirkeln und Zentralperspektive sehr randständig erscheinen. Zudem ist der Königsweg für den Besuch einer Ganztagsschule, deren Notwendigkeit wohl niemand bestreitet, und die Möglichkeiten, künstlerische (oder sportliche) „Freizeit“-Angebote zu nutzen, noch nicht gefunden. Künstlerische Projekte, die immer wieder an Bildungseinrichtungen angedockt werden und die gerade aufgrund der besonderen, anderen Qualitäten und Kompetenzen von Künstlern neue Farben, Dimensionen, Erlebnis- und Entfaltungsmöglichkeiten, Neugier, Interdisziplinarität, Teilhabe, Realisierung kultureller Vielfalt ermöglichen, sind ein großartiger Gewinn für den Bildungsalltag, für alle Beteiligten. Diese Eulen will ich hier nicht nach Athen tragen, ich selbst habe in Berlin an unterschiedlichen Stellen gerade für die Ermöglichung dieser Künstler-Schul-Projekte gekämpft und großartige Praxis erlebt. Sie sind aber nur dann ein Gewinn, wenn sie nicht als Alibi für die strukturellen Defizite benutzt werden und wenn sie konsequent als „andere Seite der Medaille“ Kultureller Bildung in die Bildungsinstitution eingebettet werden: nicht um sie zu nivellieren, sondern um die Erfahrungen und Erlebnisse aufzufangen und „Lust auf mehr“, also Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Und daran hapert es an allen Ecken und Enden. Ich erlebe (exzellente) Lehrer, die bitten, „bei aller Liebe“ nicht noch ein hochkarätiges Kunstprojekt angeboten zu kommen, solange keiner oder nur ein einziger ausgebildeter Kunsterzieher an der Schule unterrichtet; ich erlebe den Sek-I-Bereich, wo gerade mal noch eine Wochenstunde für Musik oder Kunst übrig ist; ich erlebe die Bitterkeit derer, die den mühseligen, aber unumgänglichen Instrumental-Anfangsunterricht (haben Sie mal Geige gelernt?) erteilen und denen die tollen DreitagesTrommel-Projekte vorgehalten werden. Ich erlebe den Kampf der Musik- und Kunst-Lehrer und ihrer Organisationen gegeneinander, was den Raum auf der Stundentafel anbelangt, und die plötzliche Einigkeit, wenn da auch noch Tanz- oder Theaterpädagogen (Architekten tauchen auch schon auf!) dazukommen wollen. Dass möglicherweise „Theater“ sinnvollerweise gar nicht auf einer Wochenstundentafel unterzubringen ist, sondern viel eher in Projektwochen, zählt nicht. Oder dass interdisziplinäre Kooperation gerade unter Teilhabeaspekten wichtig ist, auch nicht. Nur der Platz auf der Stundentafel verleiht die

höheren Weihen des deutschen Bildungskanons und die Akzeptanz durch Schulaufsicht und Schulleitung. Was fehlt, sind strukturelle Gesamtkonzepte, die nicht von Säulen, sondern von Gemengelagen ausgehen, und die nicht auf einer Projektkultur, sondern auf einer sich gegenseitig durchdringenden und befruchtenden Mischkultur basieren – so wie in gut geführten Gärten Kapuzinerkresse unter den jungen Obstbäumen Läuse abhält, Befruchtungsaktivitäten von Insekten intensiviert und „die allgemeine Gesundung fördert“. Was fehlt, sind die unabdingbaren Rahmenbedingungen für Projektarbeit. Wie bitter gut gemeinte Aktionen gefährdet sein können, die nicht strukturell unterfüttert sind, ist gerade bei „JeKi“ zu erleben: Die Haushaltskrisen der Städte kamen genau zu dem Zeitpunkt, wo – allerspätestens – diese Strukturen hätten auf Dauer geschaffen werden müssen. Wir warten in Berlin dringend auf die Verabschiedung des „Rahmenkonzeptes Kulturelle Bildung“ und seine finanzielle Absicherung. Die bisherigen Ideen kosten ernsthaft Geld in Form von Freistellungen und Weiterbildung von Lehrern: Zu befürchten ist Enthaltsamkeit der Politiker in Zeiten absehbaren Lehrermangels. Und es ist halt nicht so spektakulär sichtbar wie schnell zündende künstlerische Projektarbeit, so wichtig diese auch ist. Ich sehe eine ernsthafte Perspektive für Kulturelle Bildung nur in der Kooperation vieler, die Verantwortung haben oder die mittlerweile bereit sind, auch Verantwortung zu übernehmen. So hat sich in Berlin ein Bündnis zwischen Musiklehrern und ihren Fachverbänden und allen 13 Chefdirigenten und Intendanten der großen Musikinstitutionen – von den Philharmonikern bis zu den Opern – gegen die Wegquetschung des Musikunterrichts aus den Stundentafeln der allgemeinbildenden Schulen entwickelt; gemeinsam geht man zum Bildungssenator. Dies ist nicht zuletzt Ergebnis dessen, dass sich z. B. über Patenschaften die verschiedenen Welten näher gekommen sind. Noch großartiger wäre es, wenn auch die anderen Kulturinstitutionen von Museum bis Theater und die entsprechenden Verbände mitmachten. Und wenn schließlich die schulischen und die außerschulischen Verbandsvertreter ebenso wie die kulturelle Öffentlichkeit an einem Strick ziehen würden. Dann müsste die Politik vielleicht auch für Strukturen sorgen... Deshalb: Mischkultur auf die Agenda der nächsten Jahre! Dr. Dorothea Kolland ist Leiterin des Amtes für Kultur und Bibliotheken in Berlin-Neukölln.

Quellen http://jedemkind.de/programm/home.php http://oscorna.de/mischkultur.html


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