wissen|leben November 2020

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04 | F O R S C H U N G & P R A X I S

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KURZ GEMELDET

Ausbreitungen von Infektionen verstehen

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hysiker haben ein Modell zur Ausbreitung von Krankheiten entwickelt, um die Wirkungen von Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 zu testen – etwa Gesichtsmasken, GebäudeSchließungen oder „Social Distancing“. Die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Raphael Wittkowski beschäftigt sich mit Statistischer Physik; der Beschreibung von Systemen, die aus sehr vielen Teilchen bestehen. Dabei nutzen die Physiker die „dynamische Dichtefunktionaltheorie“ (DDFT), welche die Beschreibung von wechselwirkenden Teilchen ermöglicht. „Menschen die Social Distancing betreiben, kann man sich wie gegenseitig abstoßende Teilchen vorstellen, weil sie zum Beispiel die gleiche elektrische Ladung haben“, erklärt Michael te Vrugt. Basierend auf dieser Idee entwickelten sie das „SIR-DDFT-Modell“, welches das SIRModell (eine Theorie zur Beschreibung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten) mit DDFT kombiniert. Die Simulationen zeigen, dass die Infektionszahlen durch Social Distancing deutlich sinken. Nature Communications DOI: 10.1038/ s41467-020-19024-0

Laien helfen häufig bei Bränden

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ei Bränden muss die Feuerwehr in acht bis 15 Minuten den Einsatzort erreichen. Deshalb ist das Eingreifen von Laien bis dahin oft entscheidend. Aber können Laien ohne Feuerwehrausbildung einen Brand löschen? Dieser Frage ist jetzt erstmals ein Forscherteam um Prof. Dr. Meinald Thielsch von der Arbeitseinheit Organisations- und Wirtschaftspsychologie der WWU nachgegangen. Die Psychologen untersuchten das hypothetische Verhalten der Testpersonen mithilfe von Fragebögen und einem Brandversuch, bei dem die Teilnehmer ein brennendes Kissen vorfanden. 95 Prozent der 64 Testpersonen unternahmen einen Löschversuch. Dabei unterliefen ihnen einige Fehler. Trotzdem gelang es fast allen das Feuer zu löschen. Eine der Schlussfolgerungen lautet, dass es regelmäßige Schulungen für Laien mit einer praktischen Übung geben sollte. Ergonomics DOI: 10.1080/00140139. 2020.1825824

Fische unter Strom

Tierbestände kartieren, Pestizide erfassen: Gewässerökologen untersuchen den Zustand der münsterschen Aa

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per“ bedeutet das, dass bis zum roppe, Steinbeißer Jahr 2027 das „gute ökologische oder Bachforelle Potenzial“ erreicht werden muss. sind nur noch selDieses Ziel ist nach Einschätten anzutreffende Fischarten zung der Wissenschaftler in den in der Münsterschen Aa. Der kommenden sieben Jahren nur Zustand des 43 Kilometer sehr schwer – wenn nicht unlangen Flusses ist schon seit möglich – zu erreichen. Stofflivielen Jahren schlecht und che Einträge, etwa Stickstoff und durch Begradigung, LandentPhosphor, belasten regelmäßig wässerung, Stauhaltungen, die Gewässer im Einzugsgebiet Landwirtschaft sowie Abwasder Aa. Zudem weisen viele Gesereinträge geprägt. Wissenwässer strukturelle Defizite auf, schaftlerinnen und Wissendie dazu führen, dass verschieschaftler der WWU wollen dene Arten der fließgewässertyes genauer wissen und unterpischen Lebensgemeinschaften suchen im Rahmen eines von nicht die erforderlichen Bedinder Deutschen Bundesstiftung gungen für eine dauerhafte BeUmwelt geförderten Projekts, siedlung vorfinden. unter der Leitung von Prof. „Der Druck steigt, Gewässer Dr. Tillmann Buttschardt vom wieder in ihre naturnahen ZuInstitut für Landschaftsökolostände zu überführen, um die gie, den hydrochemischen und Ziele der WRRL zu erreichen“, biologischen Gewässerzustand ist sich Carsten Bohn von der der Aa. Arbeitsgemeinschaft Wasser- und Die Experten für GewäsBodenverbände Westfalen-Lippe serökologie sind in den letzten Jahren dutzende Male an Student Michel Harre (l.) und Wissenschaftler Patrick Günner fischen mit einem Elektro-Kescher in der Aa zwischen und Praxispartner im Projekt sizahlreiche Standorte in dem Kinder-haus und Coerde – Wathosen und VDE-Handschuhe schützen sie vor dem Stromfeld im Wasser. Beide besitzen eine cher. „Die Interessen zwischen Siedlungswas172 Quadratkilometer großen spezielle Ausbildung und Erlaubnis für die Elektro-Befischung. Fotos: WWU - Naturschutz, serwirtschaft, Landwirtschaft Einzugsgebiet der Aa gefahren, Peter Leßmann und Hochwasserschutz sind nicht leicht in menspiel des chemischen und ökologischen die die sogenannte untere Naturschutzbeum Daten zu erheben. Dabei kartieren sie Einklang zu bringen – vor allem das agrarZustandes bewerten“, sagt Landschaftsökohörde jeweils genehmigt. Dabei leitet ein Fischbestände und Makrozoobenthos – dazu geprägte Münsterland ist wirtschaftlich auf logie-Student Michel Harre. „Heute haben Elektrofanggerät einen Impulsstrom von bis gehören kleine tierische Organismen wie Acker- und Grünlandflächen angewiesen. wir auf einer Strecke von 400 Metern mehr zu sechs Ampere durch das Wasser. Fische, etwa Krebse oder Muscheln. In einem Teil Die Maßnahmen müssen daher mit allen als 500 Fische gefangen – darunter typische die sich im Stromfeld befinden, schwimmen des Projekts, das Prof. Dr. Christine Achten beteiligten Akteuren partizipativ erarbeitet Arten für norddeutsche Tieflandbäche, zu zur Anode und werden mit einem Kescher aus der Angewandten Geologie der WWU werden“, ergänzt Tillmann Buttschardt, der der auch die Aa gehört, wie etwa Rotauge eingesammelt, bestimmt und vermessen. „Es leitet, werden auch spezielle gewässerchemisich seit vielen Jahren mit der ökologischen und Hasel. Wir haben aber auch Bitterlinhandelt sich um eine sehr schonende Art des sche Parameter, etwa Spuren von Pestiziden Umwelt- und Gewässerplanung beschäftigt. ge und Groppen gefunden. Diese Arten sind Fischfangs. Die Fische werden nur wenige oder Medikamentenrückstände, erfasst. „Bei der Maßnahmenplanung berücksicheher selten für die Aa und stehen unter NaSekunden narkotisiert und schwimmen nach Um Vielfalt, Altersstruktur und Anzahl tigen wir das sogenannte Strahlwirkungsturschutz“, ergänzt Kommilitonin Sam Lucy der Untersuchung weiter“, erklärt Projektder Fische zu bestimmen, führen die Wisund Trittstein-Konzept. ‚Strahlursprünge Behle. mitarbeiter Patrick Günner vom Institut für senschaftler eine Elektro-Befischung durch, und Trittsteine‘ beschreiben naturnahe Teil„Die Ergebnisse helfen bei der EntwickLandschaftsökologie. bereiche und strukturelle Elemente eines Gelung eines Entscheidungs-UnterstützungsDie Befischungen wässers zur Förderung der Biotopvernetzung, systems auf Einzugsgebietsebene für die finden im Frühjahr und welches das Überleben von Tier- und PflanWasserpolitik. Dazu gehört ein integrierim Herbst statt, da die zenarten sichert“, sagt Carsten Bohn. tes Konzept mit passgenauen Maßnahmen Aa zu diesen ZeitpunkWie das aussehen kann, zeigt der renazum Schutz und zur Bewirtschaftung der ten ausreichend Wasser turierte Gewässer-Abschnitt entlang der Aa und ihren Nebenflüssen“, sagt Tillmann führt, WassertemperaWesterholtschen Wiese in der Nähe des Buttschardt, Leiter der Arbeitsgruppe Angetur nicht zu hoch ist Stadtbads Mitte in Münster. Dort fließt die wandte Landschaftsökologie und Ökologiund die Fische damit Aa seit kurzem wieder in einem kurvenreische Planung. keinem zusätzlichen chen Bachbett. Kiesschüttungen, SandbänBereits Mitte der 1980er Jahre machten Stress ausgesetzt werke und Totholz dienen den Lebewesen dort Experten sich erstmals Gedanken zur Renaden. „Diesen Herbst als gewässertypische Habitate. Wie sich turierung von Fließgewässern. Doch erst mit fischen wir das letzte diese Maßnahmen mittel- und langfristig dem Inkrafttreten der Europäischen WasMal in der Aa. Danach auf Fischpopulationen, Wasserqualität und serrahmenrichtlinie (WRRL) im Jahr 2000 folgt die Datenanalyse, Hochwasserschutz auswirken, können die wurde ein rechtlicher Rahmen für die Wasbei der wir alle Werte Experten jedoch erst in einigen Jahren beantserpolitik geschaffen. Für die Aa als „künstmiteinander vergleiNarkotisierter Flussbarsch (Perca fluviatilis): Den Forschern ging ein worten. Kathrin Kottke licher und erheblich veränderter Wasserkörchen und das Zusambesonders schönes Exemplar dieses Fisches ins Netz.

Gestörtes Fluchtverhalten

Welchen Effekt hat das Wetter aufs Radfahren?

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m Raubtieren zu entkommen, haben Tiere – darunter Insekten und Fische – Strategien entwickelt, Informationen über Bedrohungen an ihre Artgenossen zu übermitteln. Die Informationen übertragen sich innerhalb einer Gruppe in (Flucht-)Wellen. Diese kollektive Reaktion sichert ihr Überleben – kann jedoch durch spezielle Parasiten manipuliert werden. Wissenschaftler der WWU fanden heraus, dass infizierte Fische die Übertragung des Fluchtverhaltens stören. Proceedings of the Royal Society DOI: 10.1098/ rspb.2020.1158 Anzeige

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November 2020

Studie weist regionale Unterschiede beim Radverkehrsaufkommen nach and aufs Herz: Fahren Sie auch bei Regen Fahrrad, oder sind Sie ein Schönwetter-Radler? Wirtschaftswissenschaftler der WWU haben herausgefunden, dass Münsteranerinnen und Münsteraner auch bei schlechtem Wetter viel öfter das Rad nutzen als Menschen in anderen deutschen Städten. In einer vergleichenden Studie von 30 Städten in Deutschland analysierten sie erstmals die Verhaltensweisen der Radfahrer bei ungünstigen Wetterbedingungen wie zum Beispiel Regen, starkem Wind oder extremen Temperaturen. Mit den Daten von 122 automatisierten Fahrrad-Zählstationen in den Städten und einem Schlechtwetter-Index, der sich aus Lufttemperatur, Niederschlag, Windgeschwindigkeit, relativer Luftfeuchtigkeit und Bewölkung zusammensetzt, berechneten die Wissenschaftler stadtspezifische Wetter-Elastizitäten – eine Art lokaler meteorologischer Bequemlichkeitsfaktor – des Radverkehrsaufkommens. Der Fokus der Untersuchung liegt vor allem auf dem Pendelverkehr zur Arbeit, Schule oder Universität. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die ,Wetter-Elastizitäten' zwischen den Städten erheblich variieren. Städte wie Münster, Oldenburg und Göttingen sind in Sachen Radverkehr gut aufgestellt und verfügen schon seit vielen Jahren über ein ausgebautes Verkehrswegenetz, Parkmög-

sicher ist, muss die Infrastruktur in lichkeiten und getaktete Ampelschalden Städten weiter ausgebaut und tungen. Für diese drei Städte konnten zu zusammenhängenden Netzen wir zeigen, dass der Radverkehr bei verbunden werden – zum Beispiel schlechtem Wetter um weniger als durch geschützte Radspuren, Radfünf Prozent zurückgeht. In Städten schnellwege, Fahrradstraßen und mit einer weniger stark ausgeprägten genügend Radstellplätze. Die StuFahrradkultur und mit eher schlecht die der Universität Münster zeigt ausgebautem Radwegenetz, wie zum deutlich, dass auch die Qualität der Beispiel Herzogenaurach, Stuttgart Radverkehrsinfrastruktur das Radund Würzburg, geht der Radverkehr fahren positiv beeinflusst – selbst um bis zu 30 Prozent zurück“, sagt bei schlechtem Wetter“, sagt ADFCDr. Jan Wessel vom Institut für VerBundesgeschäftsführer Burkhard kehrswissenschaft der WWU. Stork. Insbesondere ein hoher Anteil junKünftig erhoffen sich die Wissenger Einwohner und eine hohe Dichschaftler, dass der Wetter-Elastizitätste des Radverkehrsnetzes gehen in Index für weitere Städte berechnet der jeweiligen Stadt mit einer hohen wird, da immer mehr Städte autoWetter-Resilienz einher – der Widermatisierte Fahrrad-Zählstationen standsfähigkeit gegenüber ungünszur Verkehrsanalyse einsetzen. „Eine tigen Wetterbedingungen. Die Ergrößere Stichprobe erlaubt uns vergebnisse legen darüber hinaus einen lässlichere Aussagen über die Zupositiven Zusammenhang zwischen sammenhänge des Wetters und des der Topographie und der Wetter-ReRadverkehrsaufkommens zu treffen. silienz nahe: Je flacher das Gelände, desto öfter nutzen die Bürger ihr Rad. Jan Wessel forscht zum Radverkehr. Foto: WWU - Kathrin Kottke Darüber hinaus könnte eine Analyse der Wetterelastizitäten über Städte in Als Folge der vermehrten Nutzung verschiedenen Ländern hinweg zusätzliche verkehrs und die Staubelastung in den Städvon Pedelecs ist es denkbar, dass die TopErkenntnisse über das Verhalten von Radten. graphie in Zukunft an Bedeutung verliert. fahrern und der Entstehung lokaler oder Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club Als weitere Einflussfaktoren untersuchten nationaler Fahrradkulturen liefern“, fügt e.V. (ADFC) plädiert für einen Ausbau der die Wissenschaftler die Anzahl der Unfälle, Jan Wessel ausblickend hinzu. Radverkehrsinfrastruktur. „Damit das Radden PKW-Besitz, die Bevölkerungsdichte, Kathrin Kottke fahren bei jedem Wetter Freude macht und die Qualität des öffentlichen Personennah-


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