Rengha Rodewill EINBLICKE

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E I NBL IC K E k端nstlerische

- literarische

Rengha Rodewill Fotografin

Ingeborg Hunzinger Bildhauerin

Rosa Luxemburg Autorin

Karin Kramer Verlag Berlin

-

politische












Leo Jogiches Paris, 19. März 1895 Mein Teurer! Ich schicke Dir den Leitartikel für die Januarnummer. Ich schicke ihn deshalb, damit Du mitteilst, ob Du nicht zu sehr schimpfst, wenn er gedruckt wird. Er ist schwach, ich weiß das und weiß alles, was Du mir sagen wirst, aber ich kann auf keinen Fall einen anderen schreiben. Wenn ich diesen nicht bringe, so bringe ich keinen und fülle mit irgend etwas ohne Leitartikel. Ich bin völlig außerstande zu schreiben. Adolf schreibt nichts, er kann nicht, wie er sagt. Überhaupt bedaure ich, daß ich soviel übernommen habe. Wenn dieses Geschreibe der Arbeiter nicht wäre, würde ich spätestens mit der Januarnummer aufhören. Ich kann nicht, begreife das, daß ich nicht kann, ich bin keine Maschine. Der Kopf gibt nichts mehr her, überdies fühle ich mich gesundheitlich nicht besonders (von der Haut ist es schon weg). Reiff druckt morgen die Mainummer. Den Artikel über die Sozialpatrioten habe ich nicht verbessert bis auf die allernotwendigsten Sachen, 1. deshalb, weil ich nicht weiß wie, ich habe diesen Artikel schon sechsmal geschrieben; 2. deshalb, weil der kluge Adolf en pages setzen ließ und der Setzer den ganzen Artikel und die Nummer umbrechen müßte, dabei mußte ohnehin schon umbrochen werden. Reiff setzt sehr langsam, und immer, wenn ich mit ihm Krach mache, beruft er sich auf eine ganze Reihe von Fakten, daß wir immer Krach machen und es dann vier Wochen liegt. Und er hat recht. Ich denke, daß auch jetzt alles liegenbleibt, denn es gibt noch keine Nachricht über die Abnahme. Ist denn noch gar nichts von dort gekommen?? Ein Zimmer habe ich schon, für 30, mit Aufwartung 35. Es ist sehr hübsch, groß, gebohnert, in einem Privathaus, möbliert und sauber, in demselben, wo die Wojnarowska ist. Zum Unglück schreiben Polen und Russen von allen Seiten, daß sie mich kennenlernen wollen und zu Adolfs kommen werden. Akkurat für die habe ich Zeit und Laune. Bleib gesund. Schreib, was es dort für Nachrichten gibt. Ich weiß nicht, ob ich imstande sein werde, über den »Robotnik« zu schreiben. Schick den Artikel und die Korrekturen gleich zurück, denn ich warte darauf.


Kostja Zetkin

Karl Liebknecht

Friedenau, 9. Mai 1908

Breslau, 8. August 1918

Süßer Geliebter!

Lieber Karl!

Ich komme von der Post - heute nichts von Dir gekommen. Ich weiß nicht, ob ich morgen wegen Sonntag etwas kriege, ich gehe aber hin fragen. Diudiu, Süßer, Du bekommst diese Zeilen erst Montag früh.

Zu Ihrem Geburtstag wenigstens möchte ich Ihnen einen direkten Gruß schicken. Durch Sonja Liebknecht höre ich von Ihnen oft. Ich zweifle nicht, daß Sie fest, frisch und munter sind. Alles, alles Gute! Auf Wiedersehn in besseren Zeiten!

Ich fühle mich schon etwas besser, und die Arbeit ging heute ziemlich vonstatten. Auch habe ich heute vormittag etwa zehn rückständige Briefe geschrieben, die auf mir furchtbar lasteten. Darunter auch an den Russen nach Sibirien. Jetzt ist es so still in der Wohnung. Deine Mutter ist den ganzen Tag bei den Frauen, Gertrud Zlottko ist in der Stadt, ich ganz allein; von draußen kommt durch den Balkon der Lärm der Straße: Spielen der Kinder, Rollen der Wagen, lautes Vogelgezwitscher - alles so heiter und freudig, weil es heute warm ist. Die Mandelbäumchen blühen unten in unserer Straße fast vor jedem Haus und sehen ganz bräutlich aus in dem zarten rosa Schmuck. (Der Schulz, der Tepp, sagte heute über sie: der Schlehdorn. Ein schöner Pädagoge!) - Er kam die Mutter abholen. Aber für mich ist alles wie ohne Wärme und Glanz, Du fehlst mir, um dem Frühling erst die Seele zu geben. Ich gehe deshalb kalt und still herum. Wenn ich nur tüchtig arbeiten kann! Diudiu, ich habe unseren Plan wegen der Schule heute schon um ein kleines Stückchen vorbereitet, im Gespräch mit Schulz, natürlich ohne Dich im geringsten zu erwähnen, obwohl er wie Deine Mutter durchaus wissen wollte, wen ich im Auge habe. Du mußt aber, Niuniu, einiges noch zu dem Zwecke tun. Nämlich rate ich Dir dringend, in dem dortigen Jugendverein Vorträge über einzelne Kapitel der Geschichte des Sozialismus zu halten, in dem Maße, wie Du mit der Lektüre vordringst. Z. B. über Babeuf, dann über St-Simon etc. Glaube mir, das wird 1. eine sehr gute Vorbereitung zum mündlichen Vortrag sein und 2. auch für die schriftliche Ausarbeitung; ich habe es an meinen ökonomischen Vorträgen hier gesehen, wieviel plastischer und klarer ich die Sache auffaßte nach dem Vortrag. Tu es, Geliebter! Schreibe mir, was Du davon denkst. [...]

Herzlichst Ihre R. Luxemburg


Im Sommer 2008 besuchte die Berliner Fotografin Rengha Rodewill die 93-jährige Bildhauerin Ingeborg Hunzinger nur ein Jahr vor ihrem Tod. Beeindruckt von der Persönlichkeit und dem Werk der Künstlerin entstand in ihrem Haus und Atelier in BerlinRahnsdorf die Fotoserie „Einblicke“. Der Fotografin und ihrer Kamera erschlossen sich bei diesem Besuch intime Momente und Ansichten aus dem Leben dieser ganz besonderen Frau. Fasziniert war Rodewill von der noch unfertigen Skulptur Rosa Luxemburgs, die als Krönung des Werks von Ingeborg Hunzinger auf dem gleichnamigen Platz vor der Berliner Volksbühne aufgestellt werden sollte. Leider konnte die Künstlerin diese Arbeit nicht mehr vollenden. Die Fotografin hatte jedoch bei ihrem Besuch die schwärmerische Verehrung Ingeborg Hunzingers für die Person der Politikerin erkannt und machte es sich zur Aufgabe, zwischen der Kunst der Bildhauerin und den außergewöhnlichen Briefen Rosa Luxemburgs eine Beziehung zu entwickeln. Rengha Rodewill suchte nach dem Tod Ingeborg Hunzingers das Haus in Rahnsdorf 2010 noch einmal auf, um mit der Kamera die letzten ihm innewohnenden Geheimnisse aufzuspüren. Außerdem begab sie sich 2011 in Berlin auf weitere Spurensuche, um einige bekannte und bedeutende Werke der berühmten Künstlerin zu dokumentieren

Zum Inhalt: Rengha Rodewill präsentiert mit ihren Fotos Impressionen aus Haus und Atelier der Berliner Bildhauerin Ingeborg Hunzinger, außerdem dokumentiert sie die zahlreichen Skulpturen der Künstlerin im Berliner Stadtraum. Die Liebesbriefe von Rosa Luxemburg an ihre Geliebten Leo Jogiches und Kostja Zetkin sind zartfühlend und dann wieder rebellisch; wir erleben die politische Kämpferin außerhalb der Klassenkämpfe in ihrer widerspruchsvollen Privatsphäre. Rita von Wangenheim skizziert Werdegang und Arbeiten von Ingeborg Hunzinger. Im Kapitel „Rosenstraße" beschreibt sie die am 27. Februar 1943 begonnene Verhaftungswelle der Gestapo gegen Berliner Jüdinnen und Juden. Ingeborg Hunzinger knüpft mit einem Denkmal, einem Figurenensemble an dieses Ereignis an. Mit der Skulptur „Umschlungenes Paar" erinnert Ingeborg Hunzinger an die sogenannte Köpenicker Blutwoche, und die Autorin beschreibt die Gewalttaten der SA gegen die politischen Gegner. Die „Köpenicker Blutwoche" begann am 21. Juni 1933.


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