"die beste Zeit", Januar-März 2019

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Meinwärts Else Lasker-Schülers Weltfluchten

Ich war 13 oder 14, und mein Lieblingsort war eine alte Buchhandlung in meiner Heimatstadt. Beim Stöbern fiel mir ein Gedichtband in die Hände: „Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts“ - mit einem Geleitwort von Gottfried Benn. In diesem Band begegnete ich zum ersten Mal den Gedichten von Else Lasker-Schüler. Ich erinnere mich, dass mir ihre Gedichte in diesem Bändchen wie Fremdkörper vorkamen. Abgesehen von ihren Versen und denen Georg Trakls durchwehte ein nüchterner, ein böser und anklagender Ton die Verse. Größer konnte der Kontrast der Lyrik Else Lasker-Schülers nicht sein als etwa zu der Gottfried Benns, dessen literarische Mentorin und Geliebte sie wurde. Benn, der als Pathologe tagsüber Leichen sezierte und nachts Gedichte schrieb, schaute mit einem mitleidlosen Blick auf die Wirklichkeit. In den Morgue-Gedichten nimmt er den Leser an die Hand, führt ihn durch die „Krebsbaracke“ und konfrontiert ihn - obszön mit dem Voyeurismus des Lesers spielend - mit der physischen Seite menschlichen Leidens. Bei Else Lasker-Schüler nichts davon: kein Zynismus, kein poetisches Lautsprechertum, keine lyrischen Zampanoiaden, kein „Ecce homo-Pathos“, keine Menschheits-, keine Götterdämmerung. Stattdessen Elegien, die nicht nach außen, sondern nach innen tönen - wie etwa in der letzten Strophe des Gedichtes „Lied an Gott“: 4


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