"die beste Zeit", April-Juni 2018

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sitiven Sinne Provinz. Christian Boros hat mal gesagt, dass er vielleicht nie der Werber - und ich füge hinzu: vielleicht auch der Kunstsammler - geworden wäre, der er ist, wenn er sich nicht in Wuppertal hätte entwickeln können. Diese Stadt hat einen Phantomschmerz wegen ihrer verloren gegangenen früheren Bedeutung, aber dieser Niedergang hat für ziemlich gute Entwicklungsmöglichkeiten in der Gegenwart gesorgt. Hier ist alles ein bisschen ungeschliffen, und es schaut auch nicht jeder jede Woche vor aller Öffentlichkeit darauf: Was macht der für Musik, was malt die für Bilder, was tanzt der so? Das sorgt für Freiräume und große Vielfalt. Wir waren ja lange Zeit die Stadt in Deutschland mit den meisten verschiedenen Religionsgemeinschaften. Und in so einem engen Tal kann man sich halt nicht gut aus dem Weg gehen, also haben die Menschen gelernt, miteinander zu leben. Das bedeutet aber auch, dass jeder sein Ding machen kann, und diese Akzeptanz ist ein sehr guter Humus für künstlerischen Ausdruck. Hier findet auch keiner Künstler seltsam, weil ja eh alle ein bisschen seltsam sind. Und ein paar Seltsame mehr oder wenige fallen dann gar nicht weiter auf. Es existieren demnach Freiräume, die notwendig sind, um so eine Seltsamkeit und etwas Eigenes zu entwickeln. Ein idealer Ort für Kunstproduktion ist es deshalb aber ja noch nicht. Was braucht diese Kunst- und Kulturszene hier, ohne dass dieses Eigentümliche dabei verloren geht? Ich habe am Tiefpunkt des Wuppertaler Sprechtheaters vor Jahren mal dafür plädiert, das Schauspiel - nicht das Schauspielhaus, sondern die Schauspielsparte - zuzumachen. Die Frage war für mich damals: Brauchen wir wirklich zwischen Düsseldorf, Bochum, Essen und Hagen hier noch ein Stadttheater, das leider kaum besucht wird? Man hätte als Stadt Wuppertal ja sagen können: Das Geld sparen wir gar nicht bei der Kultur ein, sondern nehmen es, um stattdessen in Wuppertal die Freie Szene zu etwas ganz Besonderem zu machen. Von den frei werdenden zwei Millionen Euro hätte man eine Million auf den künstlerischen Opernetat draufpacken und die andere Million Frau Heigermoser vom Kulturbüro für eine echte Förderung der Freien Szene geben können. Jedes Jahr eine Million Euro extra - damit wäre hier in kürzester Zeit die Hölle los gewesen, im positiven Sinne. Und mal ganz grundsätzlich: In der Wahrnehmung von kulturaffinen Menschen - besonders aber von Künstlerinnen und Künstlern selbst - wird immer nur gekürzt, gestrichen und geschlossen. Das ist aber de facto nicht wahr: 64

Wir geben als Staat sogar immer mehr Geld für Kultur aus. In den letzten zehn Jahren sind die Kulturausgaben inflationsbereinigt um fast 15 Prozent gestiegen. Dennoch ist die öffentliche Wahrnehmung, die Kultur sei auf dem Rückzug - und das stimmt nicht. Wohin gehen die Gelder? Kultur ist ein Personalbetrieb, die Gelder gehen immer zu fast 90 Prozent in Menschen. Die Frage lautet, ob sie mehrheitlich die Künstler erreichen. Außerdem werden sicherlich die Hälfte aller zum Kulturbereich zu rechnenden Veranstaltungen von freien Künstlerinnen und Künstlern gemacht. Die bekommen aber nicht mal fünf Prozent der staatlichen Kulturförderung. In allen Landesverfassungen steht, dass die Bundesländer verpflichtet sind, die Kultur zu schützen, zu pflegen und zu fördern - da besteht für mich ein eklatantes Missverhältnis zwischen staatlichen Kulturangeboten und denen der Freien Szene. Ich glaube nicht, dass wir im 21. Jahrhundert ein Theatersystem des 19. Jahrhunderts einfach so weiterführen sollten. Diese Struktur ist in einer völlig anderen staatlichen Verfassung entstanden. In einem anderen kulturellen Wettbewerb und in anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Vor Schallplattenaufnahmen, Radio, Fernsehen, Internet, Mobilfunk. Nur unser System der Kulturangebote ziehen wir mit Scheuklappen durch. „Wenn du merkst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab“, sagte einst ein Indianerstamm. Wuppertal ist 2016 als Transformationsstadt proklamiert worden. Welche Rolle spielen dafür Kunst und Kultur? In der Stadt ist aktuell das Pina Bausch Zentrum ein großes Thema, auch auf Landes- und Bundesebene. Könnte das Schauspielhaus ein Ort sein, an dem Transformation über die breite Kunst- und Kulturszene geschieht? Wenn das Internationale Pina Bausch Zentrum - so progressiv wie einst die Schwebebahn und der Sozialismus in der Zukunft zu einem europäischen Modell für städtische Kulturorte werden könnte, wäre ich in 20 Jahren ein noch stolzerer Wuppertaler. Diese Stadt braucht im besten Oldenburg‘schen Sinne einen „Dritten Ort“, der die Idee des Kulturzentrums für das 21. Jahrhunderts noch mal neu definiert: Vom Probenzentrum für internationale Tanzproduktionen bis zum Makerspace für die nächsten durchgeknallten Künstlerinnen und Künstler, die wir noch gar nicht haben. Wir hinken in der Entwicklung künstlerischer Ausdrucksformen der technischen Entwicklung weit hinterher: Neue Generationen wachsen in einem digitalen sozialen Lebensraum auf, der künstlerisch noch überhaupt


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