Wien Museum Katalog „Otto Wagner“

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Paul Guadet: Französische Botschaft in Cetinje, Montenegro, 1910 Paris, Centre d’archives d’architecture du XXe siècle

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Im benachbarten Deutschen Reich war Wagners Einfluss weniger in Entwurf und Konstruktion als vielmehr in der Stadtplanung zu spüren. Eine der wichtigsten Stellungnahmen zu diesem Thema war Karl Henricis Rezension von Moderne Architektur. Der Aachener Architekturprofessor war nicht nur eine einflussreiche Stimme in den zeitgenössischen Debatten zur Stadtplanung, sondern auch ein enger Vertrauter von Camillo Sitte, Wagners Erzrivalen in Wien.14 Wie nicht anders zu erwarten, war Henrici von Wagners Buch nicht überzeugt. Im Anschluss an die Bemerkung, dass Wagners selbst erkorene Aufgabe, eine moderne urbane Architektur zu formen, in den USA bereits gelöst worden sei, kritisierte Henrici den ausschließlichen Fokus auf das Leben in der modernen Großstadt: „Es will mir scheinen, als ob die Lehre O. W.’s unter einer gewissen Einseitigkeit litte, sofern sie fast ausschliesslich an die technischen Errungenschaften der Neuzeit, an die modernen, noch immer grösserer Vervollkommnung gegenwärtiger Verkehrsmittel und das Grosstadtleben knüpft.“15 Während die Großstadt Wagners von Horizontalität und den Ansprüchen des Verkehrs bestimmt war, behauptete Henrici, dass sich Stadtplaner von der Tyrannei der geraden Linie zu befreien hätten. Die Fixierung auf Transport und Handel würde Uniformität in das Leben der Bewohner bringen und ihre spontanen und lokalen Instinkte unterdrücken: „Ich will nicht bestreiten, dass damit der Theil des Zeitgeistes, der dem modernen Großstadtleben entströmt, einen treffenden künstlerischen Ausdruck finden würde, kann aber nicht zugeben,

dass eine Nothwendigkeit vorläge, nur ihm zu frönen. Ein Anderes ist es, was den Künstlern aller Länder vor allem am Herzen liegen sollte, nämlich die Pflege einer ausgeprägt nationalen Kunst.“16 Ein Architekturtheoretiker und Lehrer, so Henrici, sollte demnach nicht nur die Kleinstadt und die Metropole thematisieren, sondern sich auch der lokalen und nationalen Qualitäten der vernakulären Architektur und der jahrhundertelangen Stadtentwicklung bewusst sein. Der moderne Rasterplan, der als Totalität auf dem Zeichenbrett eines Entwerfers entstand, war ihm ein Gräuel. Eine gemäßigtere Reaktion auf Moderne Architektur wurde 1898 von dem Architekten Richard Streiter veröffentlicht, der sich schon 1896 in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Das deutsche Kunsthandwerk und die englisch-amerikanische Bewegung“ mit den materiellen Rahmenbedingungen des modernen Lebens auseinandergesetzt hatte. Streiter befürwortete angloamerikanische Zweckmäßigkeit und Pragmatismus in Bereichen wie Kleidung, Möbel, Textilien und sanitären Anlagen nicht aus modischen Gründen, sondern weil er sie als nützlich, komfortabel und hygienisch ansah. Sein wichtigster Begriff, der in Folge auch von Wagner übernommen wurde, war „Realismus“: „Realismus in der Architektur, das ist die weitgehendste Berücksichtigung der realen Werdebedingungen eines Bauwerks, die möglichst vollkommene Erfüllung der Forderungen der Zweckmäßigkeit, Bequemlichkeit, Gesundheitsförderlichkeit, mit einem Wort: die Sachlichkeit.“ Der Charakter eines Baues solle jedoch nicht allein aus seiner Zweckbestimmung, sondern auch „aus dem Milieu, aus der Eigenart der jeweilig vorhandenen Baustoffe, aus der landschaftlich und geschichtlich bedingten Stimmung der Oertlichkeit“ heraus entwickelt werden.17 Indem Streiter ebenso eindringliche, doch unscharf definierte Begriffe wie Realismus, Verismus und Wahrheit einsetzte, war er ein natürlicher Verbündeter Wagners, wie auch aus dem Titel seiner 1898 erschienenen Publikation Architektonische Zeitfragen. Eine Sammlung und Sichtung verschiedener Anschauungen mit besonderer Beziehung auf Professor Otto Wagners Schrift ‚Moderne Architektur‘ herauszulesen ist.18 Streiter schreibt: „Also das ‚ideale Streben nach Wahrheit in der Kunst‘ ist es, wovon WAGNER das Heil, den modernen Stil, das uns eigene Schönheitsideal erwartet: die Parole des Realismus, des Verismus, der in den letzten 25 Jahren so viel gehörte Kampfruf der ‚Moderne‘ soll nun auch in der Architektur eine junge Generation zu neuen, befreien­ den Thaten anfeuern!“19 Doch obwohl Streiter Wagners Grundsätze unterstützte, konnte er in Moderne Architektur keine theoretischen Ansätze finden, die einem Architekten dabei helfen würden, den realistischen Fokus auf die Konstruktion in Kunst umzuwandeln: „Mit dem Realismus, mit der Sachlichkeit allein, ist noch keine moderne Kunst, kein moderner Stil gewonnen, sondern nur eine gesunde natürliche Grundlage hiefür.“20 Wagners Versäumnis, den Weg von der funktionellen Konstruktion zu ästhetisch ansprechender Architektur zu skizzieren, war für Streiter ein Hindernis. Zudem war er


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