Wien Museum Katalog „Otto Wagner“

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Historische Verwerfungen Otto Wagner und die immer noch nicht bereinigte Geschichte der modernen Architektur Werner Oechslin 16

Geschichte: Moderne – Zäsur/Epoche? „De la certitude de l’Histoire. Toute certitude qui n’est pas démonstration mathématique, n’est qu’une extrème probabilité. Il n’y a pas d’autre certitude historique.“ „Incertitude de l’Histoire. On a distingué les tems en fabuleux & historiques. Mais les tems historiques auroient dû être distingués eux-mêmes en vérités & en fables.“1 Voltaire, in: Diderot/d’Alembert: Encyclopédie, VIII, Neufchastel 1765, S. 223 und S. 224.

Die Zeit lässt sich nicht aufhalten; dies ist die Grundlage und Voraussetzung jeglicher Geschichte und somit auch der Geschichtsschreibung.2 Notierte Ereignisse werden meistens erst hinterher zu einer Geschichte zusammengefasst – und geordnet. Und deshalb gerät sie dann häufig zur Legitimation oder gar zur Propaganda wie in Caesars De bello gallico oder zuvor bei Herodot, der gemäß Voltaire den Sieg und die Überlegenheit des kleinen Volkes der Athener („d’un petit peuple généreux & libre“) über ganz Asien („sur toute l’Asie esclave“) zur Darstellung gebracht hat.3 Die Geschichte erhält aus solcher Akzentsetzung und Charakterisierung ihren Wert und tieferen Sinn; nochmals am Beispiel Herodots und in den Worten Voltaires: „[…] est peut-être ce qu’il y a de plus glorieux chez les hommes“.4 Und wer möchte letztlich nicht einen ‚Sinn‘ aus der Geschichte ziehen, wenn nicht gar das ciceronianische „magistra vitae“ beanspruchen. Die Erwartung provoziert gleich­sam die ‚tendenziöse‘ Deutung eines histo­rischen Sachverhalts. Also spricht Voltaire nicht von Wahrheit, sondern vom Aspekt (oder von der Absicht) einer Wahrheit. Sein kurzer, in der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert publizierter Text beginnt so: „HISTOIRE, s. f. c’est le récit des faits donnés pour vrais; au contraire de la fable, qui est le récit des faits donnés pour faux.“5 Ob man nun mit Jean Bodin die Historie als „vera narratio“ einführen will, wobei auch er Menschheitsgeschichte mit dem Attribut „probabilis“ verknüpft,6 oder ob man mit David Chyträus gleich auf die „EXEMPLA illustria“ zusteuert, die dann ‚klugerweise‘ als Regeln weitergegeben werden sollen („[…] utile

est in lectio Historiarum, Exempla […] prudenter accomodare ad Regulas, seu Leges vitae“),7 oder aber ob man mit Voltaire Geschichte grundsätzlich von einer absoluten (mathema­ tischen) Wahrheit abkoppelt, es bleibt ein schwieriges, menschlichem Ermessen häufig mehr als erwünscht überantwortetes und für anderweitige Bedürfnisse oft allzu offenes Geschäft. Umso auffälliger der Anspruch auf Objektivität, den Walter Gropius in seiner Internationalen Architektur (1925, 1927) mit der Beurteilung dessen verbindet, was er nun sichtlich in dieser Absicht aus der Geschichte herauslöst und über sie und gegen sie stellt. „Objektivierung“ und „objektive Geltung“ sind die Zielsetzungen; bei aller Konzession an konkretere historische Räume bevorzugt Gropius ein Schema von „drei konzentrischen Kreisen – Individuum – Volk – Menschheit“, bei dem „der letzte größte“ auch die beiden anderen umspannt: „Daher der Titel: ‚Internationale Architektur‘!“8 Zugeordnet ist die „Sehnsucht“, „die geistigen Werte aus ihrer individuellen Beschränkung zu befreien und zu objektiver Geltung em­por­zuheben“, und der „Wille zur Entwicklung eines einheit­lichen Weltbildes“.9 Erstaunlich ist dabei die Wortwahl – Sehnsucht, Wille –, mit der diese objektive Welt beschworen werden soll. Letzteres erinnert an das „Kunstwollen“, das von Alois Riegl gegen die „Sempersche mechanistische Auffassung“ gesetzt wurde und von Peter Behrens in die Architekturdiskussion eingeführt worden war.10 Ein „zweckbewußtes Kunstwollen“, eine „teleologische“ Auffassung müsse an diese Stelle treten. Und von dieser willensbestimmten, unbedingt nach vorne gerichteten Art sind sämtliche Vokabeln, die Gropius nun für alles, was geschichtliche Abläufe betrifft, einsetzt, um die Zukunftsoptionen umso besser gegen das stets in negative Formulierungen gehüllte Gegebene abzusetzen; Neu gegen Alt, gleichbedeutend mit Gut gegen Schlecht, lautet diese Geschichte ersetzende Schablone, derer sich Gropius und die moderne Propaganda bedient. „Zukunftsweisende Bedeu­tung“ und „Gestaltungswillen“ versus „Niedergang“ und das Versinken des Guten in einem „vergangenen Zeit­ abschnitt“. Dass sich hier Widersprüche ergeben, wenn etwa die „forma­listische Entwicklung“ vorausgegangener Zeit kritisiert, umgekehrt aber ein „neuer Gestaltungsgeist“ gefordert wird, ist schnell erkannt.11 Die propagandistische


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