WIEN MUSEUM
HIGHLIGHTS AUS DEM WIENER UHRENMUSEUM
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HIGHLIGHTS AUS DEM WIENER UHRENMUSEUM
IMPRESSUM Herausgeber: Wien Museum Redaktion: Peter Stuiber; Redaktion Katalogteil: Wolfgang Freitag Lektorat: Wolfgang Freitag (Katalogteil) und Fanny Esterházy Publikationsmanagement: Sonja Gruber Grafikdesign: fuhrer, zehnbeispiele.com
Eigenverlag des Wien Museums Druck: Gerin Druck GmbH © Wien Museum, 2021 ISBN 978-3-9504059-8-9 Überarbeitete Auflage, 2021
HAUPTSPONSOR DES WIEN MUSEUMS
Uhrenmuseum Schulhof 2 1010 Wien www.wienmuseum.at
Fotografien der Uhren Paul Kolp Fotostudio Otto S. 29, 46-47, 56-57, 69, 81 Birgit und Peter Kainz, Wien Museum S. 26, 97 Sonstige Fotografien Michael Goldrei S. 17 Birgit und Peter Kainz, Wien Museum S. 14, 15 Lisa Rastl S. 18, 19, 21, 119 Wien Museum S. 8, 9, 10, 12
Coverabbildungen Vorderseite Astronomische Kunstuhr (Räderwerk), David a. S. Cajetano (Rutschmann), Wien, um 1762–1769 (Nr. 10_40) Rückseite Orientalenuhr Österreich, um 1800 (Nr. 13_40)
Inhalt
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Vorwort Matti Bunzl
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Gerhard Milchram
„So sonderbar ist dieses Reich, kaum jemals hat man Ähnliches gesehen.“ Hundert Jahre Uhrenmuseum der Stadt Wien: 1921–2021
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Eva-Maria Orosz
„Meine Uhren machen mir das Sterben schwer“ Marie von Ebner-Eschenbach. Die Dichterin als Uhrensammlerin
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Uhren, von allen Seiten betrachtet Restauratorin Tabea Rude über Zeitmesser im Dauereinsatz, stehengebliebene Zeit im Uhrenmuseum und „lügende“ Uhren in der Stadt Ein Interview mit Peter Stuiber
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Uhren-Highlights 1– 40 Wolfgang Freitag
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Glossar
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Autorinnen und Autoren Ausgewählte Literatur / Ausstellungskataloge
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Etagenplan Uhrenmuseum
Vorwort
Time is a great storyteller. (Irisches Sprichwort)
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Das Uhrenmuseum ist seit mittlerweile 100 Jahren ein fixer Bestandteil der kulturellen und wissenschaftlichen Landschaft Wiens. Als wichtiger Standort der Museen der Stadt Wien ist es die Heimat der städtischen Uhrensammlung, der mit rund 7.000 Objekten größten seiner Art in Österreich. Und es ist voller Geschichte und Geschichten! Uhren stehen an einer markanten historiografischen Schnittstelle zwischen Technologie-, Design- und Kulturgeschichte. Jeder einzelne Uhrentypus hat seine eigene faszinierende Entwicklung, die am Sammlungskorpus des Uhrenmuseums ablesbar ist. Am vielsagendsten sind aber die Überschneidungen der jeweiligen Historien – sie machen den Uhrenbestand zu einem der spannendsten unter den über einer Million Objekten in den Sammlungen der Stadt Wien. Technologiegeschichte lässt sich in der Evolution von Zeitmessern auf unvergleichliche Weise nachvollziehen. Relevant ist da nicht nur die übergreifende Entwicklung von Sonne und Sand zu Mechanik, Elektrik, Elektronik und Teilchenphysik – auch die Meilensteine innerhalb der jeweiligen Etappen werden klar sichtbar. Es ist eine klassisch teleologische Geschichte, die von einer Chronometrie mit täglichen Abweichungen im Minutenbereich bis zur präzisen Messung von Jahrhunderten auf Nanosekunden führt. Und sie ist die Erzählung von Erfindungen und deren globaler Verbreitung, von Meister*innen und deren besonderen Fähigkeiten und von unterschiedlichsten Materialien und deren konservatorischen Herausforderungen. Auch im Uhrendesign finden sich herausragende Persönlichkeiten. Sie stehen allerdings für eine Stilgeschichte, die sich nicht durch stetige Perfektionierung, sondern durch paradigmatische Vielfalt auszeichnet. Jeder Zeit ihre Uhren sozusagen, an denen sich zentrale Prinzipien gleichermaßen ab- und ausbilden. Die ästhetische Logik barocker Opulenz lässt sich an der Uhrensammlung der Stadt Wien ebenso ablesen wie die radikale Zurücknahme bei Art déco und späteren
Spielarten der Moderne. In der angewandten Uhrenkunst von Persönlichkeiten wie Adolf Loos oder Josef Hoffmann bündeln sich ganz konkrete Vorstellungen von Anmut und Funktionalität, sie wird Teil eines jeder Designkonzeption immanenten Lebensentwurfes. Aber es ist wohl die Kulturgeschichte, an der sich die weitreichendste Bedeutung der Uhrensammlung festmacht. Zeit ist schließlich eine fundamentale Kategorie des menschlichen Lebens. Aber nicht nur das. Sie steht im Knotenpunkt des Spannungsverhältnisses zwischen Natur und Kultur – der eigentlichen Essenz der Conditio humana. Tage und Jahre haben eine vom Menschen unabhängige Realität (deren Verständnis auch erst historisch gewachsen ist). Andere Zeitmaße sind vollkommen willkürlich: die Unterteilung des Tages in 24 Stunden oder des Jahres in zwölf Monate etwa. Strukturen solcherart unterscheiden sich von Kulturkreis zu Kulturkreis – der jüdische, islamische oder gregorianische Kalender sind da nur einige der bekanntesten Varietäten. Zeit, in diesem Sinne, ist historisch begründet und kulturell beliebig; trotzdem – oder gerade deshalb – kontrolliert, ja konstruiert sie unsere individuelle und kollektive Lebenswelt. Die Geschichte der Uhren ist daher auch eine Sozialgeschichte. Besonders deutlich wird das am Angelpunkt der Moderne, die im europäischen Kontext nicht zuletzt durch die Systematisierung der Zeit gekennzeichnet ist, von den Standardisierungen im Kontext des aufkommenden Bahnverkehrs bis zu Fordismus und Stechuhr. In diesem Sinn fungiert das Uhrenmuseum nicht nur als ein historisches Archiv der Zeit, sondern als veritabler Brennpunkt für unsere Geschichte und unsere Geschichten. Mögen die nächsten 100 Jahre diese Erkenntnisse noch erweitern und vertiefen.
Matti Bunzl Direktor Wien Museum 7
Gerhard Milchram
„So sonderbar ist dieses Reich, kaum jemals hat man Ähnliches gesehen.“ Hundert Jahre Uhrenmuseum der Stadt Wien: 1921–2021
Rudolf Kaftan (rechts) bei einem Rundfunkinterview im Uhrenmuseum, 1931
Rechts: Die Sammlung Rudolf Kaftans um 1916. Kaftan bewohnte die Mansardenräume in der Privatheilanstalt von Prof. Dr. Heinrich Obersteiner in der Billrothstraße in Wien-Döbling
Den Grundstein für das spätere Uhrenmuseum legte die Privatsammlung des Lehrers, Esperantisten und Uhrensammlers Rudolf Kaftan. Geboren am 13. April 1870 im oberösterreichischen Haslach als Sohn eines Lehrers, maturierte Kaftan in Linz und studierte an der Universität Wien Mathematik und Physik. Nach dem Studienabschluss arbeitete er von 1899 bis 1917 als Mittelschullehrer, unter anderem am Währinger Gymnasium, und als Hauslehrer bei Heinrich Obersteiner, dem Leiter und Inhaber des Sanatoriums Görgen in der Billrothstraße 69. Gleichzeitig leitete Kaftan die vom Esperantoverein gegründete Sprachschule Danubio. Kaftan interessierte sich seit frühester Jugend für Uhren und Uhrwerke und konstruierte auch selbst Uhren. Für die Erfindung einer Schulpausen-Läutuhr erhielt er 1906 auf der Hygiene-Ausstellung in Wien eine Silberne Fortschrittsmedaille. Schon während seiner Gymnasialzeit begann er zu sammeln, bis 1917 wuchs seine Sammlung auf rund 10.000 Objekte an. Sie umfasste Uhren und Uhrwerke aller Bauarten von den ersten Anfängen der Uhrmacherei bis hin zu den technischen Entwicklungen der Uhrengroßindustrie des 19. Jahr8
hunderts. Untergebracht war sie in Zimmern und einer Dachkammer des Sanatoriums Görgen in Döbling. „So sonderbar ist dieses Reich, kaum jemals hat man Ähnliches gesehen“, schrieb Helene Tuschak, Journalistin, Frauenrechtlerin und Leiterin des Feuilletons des „Neuen Wiener Tagblatts“. „Viele, viele hunderte, tausende Uhren sind es, die da ganz dicht nebeneinander hängen, jedes Fleckchen der Wand ausnutzend. Aus allen Teilen des Reiches und der Stadt sind sie hier oben zusammengekommen.“ 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, sah Kaftan sein Lebenswerk essenziell gefährdet: Das Anwesen des Sanatoriums wurde verkauft, die darauf befindlichen Gebäude sollten abgerissen werden. In dieser Situation setzte sich Tuschak in einem Feuilletonbeitrag mit dem Titel „Der obdachlose Sammler“ vehement für die Erhaltung der Sammlung ein: „kleine Uhrenherzchen, die sehr vernehmlich klopfen oder nur mehr ganz leise pochen, als würde ihr Blutkreislauf bald stillstehen. Oder harren sie jetzt nur angstvoll? Die großen wie die kleinen? Harren ihres künftigen Geschicks? […] Von Tag zu Tag scheint das Ticken in der Bodenkammer der Billrothstraße erregter zu klingen: Wo – hin? … Wo – hin?“ Sie schlug eine Vereinigung der Kaftan-Sammlung mit der Sammlung der im Mai 1916 verstorbenen Schriftstellerin Marie EbnerEschenbach vor.
Ihr Aufruf hatte Erfolg, und es fand sich eine Lösung. Mit breiter politischer Unterstützung brachte der christlichsoziale Gemeinderat und Vorsteher der Wiener Uhrmachergenossenschaft Emil Panosch am 4. Mai 1917 den Antrag zum Ankauf der Sammlung Kaftan und der Errichtung eines Uhrenmuseums ein. Die Stadt Wien stellte Räumlichkeiten im ehemaligen Palais Obizzi am Schulhof 2 in der Inneren Stadt zur Verfügung und gliederte das neugeschaffene Museum den Städtischen Sammlungen an. Kaftan selbst wurde auf Lebenszeit zum Leiter des Museums bestellt und mit einer Dienstwohnung im Gebäude und einem Jahresgehalt ausgestattet. Die Wiener Feuerwehr unterstützte die Übersiedlung aus Döbling und brachte innerhalb eines halben Jahres in „siebzehn großen Fuhren“ die Uhren in ihr neues Heim. Die offizielle Eröffnung fand allerdings erst am 30. Mai 1921 statt, und auch dann konnte das Museum nur nach vorheriger schriftlicher Anmeldung besucht werden. Um die Erweiterung der Sammlung zu finanzieren, gründete Kaftan noch im August 1917 den Verein der Freunde des Wiener Uhrenmuseums. Dem Vorstand gehörten neben Kaftan und Panosch auch der Bankier und spätere Finanzstadtrat des Roten Wien Hugo Breitner an. Ebenfalls Mitglied im Verein war der Uhrmachermeister Alexander Grosz, der die Dichterin Marie Ebner-Eschenbach beraten
und bei Reparaturen unterstützt hatte. Den Ehrenschutz des Vereines übernahm Bürgermeister Richard Weiskirchner. Dank dieser guten Vernetzung konnten finanzielle Mittel für Neuerwerbungen aufgetrieben werden. Der erste große Ankauf des Vereines war die Sammlung von Ebner-Eschenbach, ermöglicht mit Spenden des Konservenlieferanten der Heeresverwaltung Bernhard Wetzler und des Industriellen und Haupt-Geschützlieferanten der k. u. k. Monarchie Karl von Škoda und einer anonymen Spende. Im folgenden Jahr erwarb der Verein zwei weitere wichtige Sammlungen: 110 wertvolle Stockuhren aus dem Nachlass des Fabrikanten Gustav Leiner und die technisch herausragende Sammlung des in Uhrmacherkreisen höchst geschätzten Wiener Uhrmachers und Chronometerherstellers Josef Nicolaus – ein „außerordentlicher Schatz“ von 450 Taschenuhren mit vielen mechanischen Raritäten, um die sich Kaftan sehr bemüht hatte und die sein ganzer „Stolz“ gewesen sein sollen. Nicolaus hatte seine Sammlung verkaufen müssen, weil er sich als Rentner im Kriegswinter 1917/18 keine Kohle mehr leisten konnte. Nach Ende des Ersten Weltkrieges und mit finanzieller Unterstützung des Vereines und der nun sozialdemokratisch geführten Stadtregierung konnte das Uhrenmuseum seine Bestände abermals erweitern. In dieser Periode avancierte das Museum durch die rege Vermittlungstätigkeit von 9
Rudolf Kaftan zu einem Medienliebling. Zeitungen quer durch das politische Spektrum berichteten immer wieder über das Uhrenmuseum, und Kaftan nutzte auch das Radio, um akustisch durch sein Museum zu führen. Das zu dieser Zeit einzigartige Museum zog viele internationale Besucher an, die hier Raritäten bewundern konnten, die sonst nirgends zu sehen oder öffentlich zugänglich waren. Auch in der austrofaschistischen Diktatur änderte sich nichts an der Beliebtheit des Museums, dessen Leiter sich geschmeidig an die neuen Verhältnisse anpasste. Er und das Museum konnten sich unter dem neuen Bürgermeister Richard Schmitz weiterhin finanzieller Unterstützung und medialer Aufmerksamkeit erfreuen. Auch 1938 mit dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland gab es für das Museum keine grundlegenden Änderungen. Kaftan wusste sich auch jetzt an die neuen Verhältnisse anzupassen und zu profitieren. Dabei war ihm sein jahrzehntelang gepflegtes Netzwerk zu Sammlern und Uhrmachern ebenso behilflich wie die unmittelbare Nähe seines Dienst- und Wohnortes am Schulhof zur Oberaufsicht der kommissarischen Verwalter, zur Zunft der Juweliere und Uhrmacher und zur „Arisierungsstelle der Zunft der Uhrmacher und Juweliere und der Gilde des Uhren- und Juwelenhandels“ am Schulhof 6. So konnte er auf kurzem Dienstweg an Informationen über „arisierte“ Bestände gelangen. In dieser Zeit erwarb das Museum Uhren aus den Sammlungen von Rudolf Schwarzstein, Alexander Grosz, Emil Politzer, Josef Ungar, Albert Pollak und aus dem ehemaligen Besitz der Rothschilds. Der Eisen- und Metallwarenhändler Rudolf Schwarzstein verlor seine private Uhrensammlung, die später ins Uhrenmuseum kam, schon kurz nach dem „Anschluss“ im Zuge einer Beschlagnahmung durch die Gestapo, er starb Mitte Mai 1938 an einem Herzinfarkt. Alexander Grosz war ein Wiener Uhrmacher und Antiquitätenhändler, der dem Uhrenmuseum selbst viele Objekte vermittelt und geschenkt hatte. In der NS-Zeit wurde sein Geschäft liquidiert, Kaftan erwarb die Uhren direkt vom 10
Untergebracht in einem der ältesten Häuser Wiens: das Uhrenmuseum am Schulhof 2, aufgenommen 1927
kommissarischen Verwalter des Geschäftes, Grosz selbst starb 1940 im New Yorker Exil. Emil Politzer hatte ein Juwelier- und Antiquitätengeschäft in der Wiener Innenstadt, verstarb im August 1938 (wahrscheinlich durch Selbstmord), aus seinem Nachlass gelangten ebenfalls einige wertvolle Stücke in die Museumssammlung. Aus dem Besitz des Goldschmieds und Juwelenhändlers Josef Ungar wiederum wurden zwei „arisierte“ Taschenspindeluhren und ein Spindelrepetierwerk ans Uhrenmuseum übergeben. Ungar und seiner Frau gelang 1938 die Flucht nach London, 1941 emigrierten sie in die USA. Albert Pollak war Generaldirektor der Wollhandels AG in Wien. Aus seinem beschlagnahmten Vermögen erhielten die Städtischen Sammlungen Bilder, Miniaturen, Porzellan, Möbel und Uhren. Pollak gelang die Flucht nach Holland, wo er 1943 im Alter von 65 Jahren in Groningen verstarb. Nachweislich in zwei Fällen war Kaftan persönlich in die Verhandlungen eingebunden. Die Sammlung Schwarzstein besichtigte er bereits wenige Tage nach dem „Anschluss“, und die „arisierten“ Uhren des Mitglieds des Freundesvereines des
Uhrenmuseums Alexander Grosz holte er persönlich in dessen Wohnung ab. In allen Fällen muss er über die verzweifelte Lage der ehemaligen Besitzer und die Unrechtmäßigkeit seines Handelns Bescheid gewusst haben. Das Uhrenmuseum war Gegenstand zahlreicher Beiträge der NS-Medienberichterstattung, etwa über den 45.500. Besucher im Mai 1938 oder den Ersten Großdeutschen Uhrmachertag im Juli 1939, an dem sich auch das Museum beteiligte. Auch die zahlreichen Neuerwerbungen des Hauses wurden thematisiert, wobei allerdings unerwähnt blieb, dass diese Ankäufe vielfach aus entzogenem jüdischem Eigentum stammten. Auf Grund der zunehmenden Gefahr von Bombenangriffen begannen im Juni 1943 Vorbereitungen für eine Bergung des Museumsbestandes. Im Jänner 1944 wurde das Uhrenmuseum geschlossen und der größte Teil der Bestände auf Bergungsorte in Niederösterreich verteilt. In Schloss Thalheim und im Pfarrhof in Klein-Engersdorf, wo viele der Uhren gelagert waren, kam es zu Kriegsende zu zahlreichen Diebstählen durch Wehrmachtssoldaten, die einheimische Bevölkerung und Sowjetsoldaten. Besonders betroffen
waren die Sammlungen Ebner-Eschenbach, Leiner und Nicolaus, wo große Verluste zu verzeichnen waren. Nach der Befreiung Wiens und dem Kriegsende wurden die noch vorhandenen Uhren schrittweise nach Wien gebracht, und am 7. Juni 1948 eröffnete Bürgermeister Theodor Körner das Uhrenmuseum wieder. Die Position Kaftans wurde nicht angetastet, er blieb bis zu seinem Tod 1961 im Alter von 91 Jahren Direktor des Museums. 1962/63 erfolgten eine Restaurierung des Obizzipalais und eine Neuaufstellung der Sammlung. Im Zuge eines weiteren Umbaus 1986 wurden die ehemalige Wohnung Kaftans und eine Hausbesorgerwohnung zu Museumsräumlichkeiten umgestaltet. Ab 1998, mit Beginn der systematischen Provenienzforschung im Wien Museum, wurden Schritt für Schritt, nach teilweise langer Erb*innensuche, sämtliche noch vorhandenen „arisierten“ Uhren restituiert. Im Jahr 2000 wurde von den Architekt*innen Renate Prewein und Markus Eiblmayr Raum für Veranstaltungen und Sonderausstellungen geschaffen und das Haus insgesamt modernen musealen Bedürfnissen angepasst.
Quellen und Literatur: Konstantin Ferihumer: Arisierungsstelle der Zunft der Uhrmacher und Juweliere und der Gilde des Uhren- und Juwelenhandels, in: Lexikon der österreichischen Provenienzforschung, www.lexikonprovenienzforschung.org/search/content. Rudolf Kaftan: Das Uhrenmuseum der Stadt Wien, in: Bergland, IX (1927), Nr. 4, S. 16–22. Rudolf Kaftan: Illustrierter Führer durch das Uhren-Museum der Stadt Wien, zugleich eine kurze Darstellung der im UhrenMuseum ersichtlichen Geschichte der Räderuhr, Wien 1929. Rupert Kerschbaum, Sylvia Mattl-Wurm: Drei Etagen Zeit. Von der Privatsammlung Rudolf Kaftans zum Museum: ein historischer Abriss, in: Wolfgang Kos (Hg.): Highlights aus dem Wiener Uhrenmuseum, Wien 2010, S. 8–9. Gerhard Milchram, Tabea Rude: „Helping to save the works of our old masters from oblivion“. The master clockmaker Alexander Grosz, in: Antiquarian Horology, Vol. 42, No. 2 (June 2021), S. 72–186. Gerhard Milchram, Tabea Rude: Die Stunde des Bicycles, in: Wien Museum Magazin (https://magazin.wienmuseum.at/fahrraederund-uhren). Gerhard Milchram: Beiträge zu Alexander Grosz, Rudolf Kaftan, Paul Schwarzstein, Uhrenmuseum und Josef Ungar in:
Lexikon der österreichischen Provenienzforschung, www.lexikonprovenienzforschung.org/search/content. Gerhard Milchram, Michael Wladika: „Es konnte festgestellt werden, dass tatsächlich Verwüstungen und Plünderungen sowohl durch SS-Truppen als auch durch Russen und Landbewohner stattfanden“. Bergungen und Rückbergungen der Städtischen Sammlungen (Museen der Stadt Wien), in: Pia Schölnberger, Sabine Loitfellner (Hg.): Bergung von Kulturgut im Nationalsozialismus. Mythen – Hintergründe – Auswirkungen, Wien, Köln, Weimar 2016, S. 219–248. Eva-Maria Orosz: „Meine Uhren machen mir das Sterben schwer“. Marie von Ebner-Eschenbach. Die Dichterin als Uhrensammlerin, siehe Beitrag in dieser Publikation, S. 13–15. Franz M. Scharinger, Robert Waissenberger: Das Wiener Uhrenmuseum. Anmerkungen zur Entstehung der Sammlung, in: Uhrenmuseum Wien (Katalog), Wien o. J. (1989), S. 8–9. Helene Tuschak: Der obdachlose Sammler, in: Neues Wiener Tagblatt, 29. Oktober 1916, S. 4–6, online abrufbar in: ANNO Historische Zeitungen und Zeitschriften, Österreichische Nationalbibliothek, anno.onb.ac.at.
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Julius Schmid, Marie von Ebner-Eschenbach in ihrem Arbeitszimmer, 1894
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Eva-Maria Orosz
„Meine Uhren machen mir das Sterben schwer“ Marie von Ebner-Eschenbach. Die Dichterin als Uhrensammlerin
Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916) gilt als eine der bedeutendsten Dichterinnen des 19. Jahrhunderts. Bekannt wurde sie vor allem mit ihren sozialkritischen und psychologisierenden Erzählungen. Zumindest in den Fachkreisen der Uhrmacher und Kunsthändler war sie auch als Sammlerin von Uhren berühmt. Mit ihrer Erzählung „Lotti, die Uhrmacherin“, verfasst 1879, „adelte“ die Aristokratin ein Handwerk, das sie hoch schätzte und in dem sie über praktische Kenntnisse verfügte: EbnerEschenbach wartete und reparierte ihre Uhren eigenhändig. Dankbar hat daher die Genossenschaft der Uhrmacher diese literarische Würdigung ihres Berufsstandes aufgenommen und die Dichterin zu einer Art Galionsfigur auserkoren. Zu ihrem 70. Geburtstag wurde sie zum Ehrenmitglied ernannt,1 ab 1908 war sie auch Patronin der neuen Fahne der Genossenschaft.2 Die Verbundenheit zum Uhrmacherhandwerk besiegelte die Dichterin über ihren Tod hinaus mit dem Vermächtnis einer Rente von 1200 Kronen, die in der Genossenschaft als „Baronin von EbnerEschenbach-Widmung“ verwaltet wurde.3 Ihre kostbare und berühmte Sammlung von 270 Taschenuhren aus der Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert konnte 1917 für das Wiener Uhrenmuseum erworben werden. Obwohl nach den Wirrnissen des Zweiten Weltkriegs nur mehr 51 Uhren erhalten sind, stellt die Sammlung Ebner-Eschenbach nach wie vor einen Bestand von herausragender Qualität und Faszination dar, dem im Museum ein eigener Raum gewidmet ist. Zwei ihrer Taschenuhren werden im vorliegenden Katalog vorgestellt (Nr. 12_40, S. 50, und Nr. 14_40, S. 54). Marie von Ebner-Eschenbach hatte in Faible für schöne Uhren. Ihre Sammlung umfasste viele Taschen- und Fantasieuhren, deren Gehäuse aufwendig und kostbar geschmückt waren – mit
prachtvoller Emailarbeit in bestechender Farbenpracht, zarten Perlen und glitzernden Diamanten. Rund 70 Uhren waren Geschenke des „lieben großmütigen“ Bruders Adolphe – wie Ebner-Eschenbach in ihrem Inventarbuch vermerkt – darunter fast alle Formuhren.4 Die Uhrenfachwelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts ließ trotz hymnischer Gesamtbeschreibungen der Sammlung manchmal auch leise Kritik durchklingen. „Ein echt fraulicher Standpunkt“ Uhrenspezialisten, Techniker mit Leib und Seele, äußerten die Meinung, die Dichterin habe die Uhren nur um deren Schönheit willen gesammelt5 und dass nicht jedes ihrer Stücke ein Musealobjekt sei.6 Und Rudolf Kaftan, Gründer und langjähriger Leiter des Uhrenmuseums, meinte überhaupt: „Sie nahm zu ihren Uhren eher einen echt fraulichen Standpunkt ein. Form und künstlerische Ausführung interessierte sie daran mehr als die Konstruktion des Werkes. Sie sammelte vor allem als Kunstliebhaberin, Aesthetin und Aristokratin.“7 Doch Ebner-Eschenbach war keineswegs eine nur am Liebreiz der Uhren interessierte, sondern eine ausgesprochen sachkundige Sammlerin. Die Uhrmacherei hatte sie am Werktisch praktisch erlernt8 und in rund 50-jähriger Beschäftigung ein breites historisches Wissen erworben. Sie kannte die Entwicklungsgeschichte der Uhren, ihre bedeutendsten Meister und sogar jede Uhrhemmung. Einen Abriss ihrer Kenntnisse und heitere Episoden aus der Entstehungsgeschichte ihrer Sammlung von Taschen- und Fantasieuhren schrieb sie 1895 in dem Aufsatz „Meine Uhrensammlung“ nieder.9 Ihre Kollektion vermittelt jedoch keine reine Technikgeschichte. Sie gewährt darüber hinaus Einblick in den Wechsel der Moden und geschmacklichen Vorlieben im Laufe der Zeit. 13
Inventarbuch der Taschenuhren von Marie Ebner-Eschenbach, vor 1915
Außerdem vermittelt sie die Fertigkeiten der Gehäusemacher, Emailleure, Goldarbeiter und Juweliere, die Form und Aussehen der Taschenuhren maßgeblich beeinflussten. Anhängeruhren – zum Beispiel in Form eines Apfels oder einer Violine – waren vornehmlich Schmuckstücke und erst in zweiter Linie Zeitmesser. Bei diesen Objekten riefen Originalität in Form und Ausführung allgemeine Verzückung hervor, die Uhrwerke waren Nebensache und technisch selten innovativ. Dadurch ergibt sich auch eine gewisse Nähe zu einer weiteren bedeutenden Wiener Uhrensammlung, jener von Therese Bloch-Bauer.10 Diese umfasste eine mindestens ebenso hervorragende Auswahl von Fantasieuhren des 18. und 19. Jahrhunderts. Chronik des Sammlungsankaufes „Meine lieben Uhren, sie machen mir das Sterben schwer. Wer wird sie mir noch so gut behandeln?“11 Testamentarisch hatte Marie von Ebner-Eschenbach verfügt, dass die Sammlung verkauft und die Hälfte des Erlöses für die Errichtung eines Kindergartens in ihrem Geburtsort Zdislawitz in Mähren verwendet werden sollte.12 Ankaufsinteressenten für die weltberühmten Uhren ließen nicht lange auf sich warten. Die Sammlung lief Gefahr, ins Ausland verkauft oder gar im Handel komplett zersplittert zu werden. So wurden in Wien Stimmen laut, diesen Schatz für ein Museum zu sichern – namentlich für das Technische Museum 14
für Industrie und Gewerbe.13 Die Dichterin selbst hatte sich sehnlichst gewünscht, dass die Preziosen in Wien verbleiben mögen, wo sie von 1863 bis zu ihrem Tod 1916 lebte. Viktor Graf Dubsky, Neffe der Verstorbenen, machte der Stadt Wien, die am 4. Mai 1917 den Ankauf der Uhrensammlung von Rudolf Kaftan und die Errichtung eines Uhrenmuseums am Schulhof beschlossen hatte, ein Anbot. Bald wurde aber klar: Aus den Mitteln der Gemeinde Wien war ein Ankauf der 270 Uhren nicht möglich! Den Ausweg fand man in der Gründung des Vereines der Freunde des Uhrenmuseums und mit öffentlichen Spendenaufrufen in Tageszeitungen. Zwei Großindustrielle, der Kanonenfabrikant Freiherr von Škoda und der Konservenfabrikant Bernhard Wetzler, sowie ein Ungenannter brachten schließlich den gewünschten Kaufpreis von 301.000 Kronen auf, sodass der Stadtrat am 13. September 1917 den Beschluss fassen konnte, die berühmte Uhrensammlung Marie von Ebner-Eschenbachs für das Uhrenmuseum zu erwerben.14 Bereits während des monatelangen Akquisitionsverfahrens, als der Ausgang der Verhandlungen und Bemühungen noch ungewiss war, wurde die Uhrensammlung der Dichterin der Öffentlichkeit präsentiert, zunächst im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, anschließend im Technischen Museum. Von dort wurde sie am 9. November 1917, nach Fixierung des Ankaufes, durch den triumphierenden und stolzen Museums-
direktor Rudolf Kaftan abgeholt: Kaftan hatte sich vom Feuerwehrkommando einen Wagen ausgeliehen und war mit einigen Feuerwehrmänner ausgerückt, um die eiserne Kiste, in der die Uhren verwahrt wurden, in sein Museum zu transportieren. „Sie Schatzräuber“, soll der Direktor des Technischen Museums gerufen haben, „Sie wollen uns jetzt wirklich die Uhren davontragen?“ – denn auch das Technische Museum war am Ankauf der Sammlung interessiert gewesen.15 Erst eine Woche später, am 16. November 1917, wurde einem schon
beunruhigten Kaftan der Schlüssel zur eisernen Kiste überreicht, eine weitere kommissionelle Besichtigung durchgeführt und die Sammlung der Dichterin definitiv in die Verantwortung des Uhrenmuseums übernommen. Dieser Zuwachs war nach dem Erwerb der Uhrensammlung von Rudolf Kaftan der sammlungsgeschichtlich erste große Ankauf des noch jungen und in Aufbau befindlichen Uhrenmuseums der Stadt Wien.
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Uhrenmuseum Wien, Katalog, Wien 1989, S. 60. Die Fahnenweihe der Wiener Uhrmachergenossenschaft, in: Österreichisch-Ungarische Uhrmacher-Zeitung, Juni 1908, S. 27f. Uhrmacher-Fachblatt, 5. Jg, Nr. 9, September 1916, S. 54. Die Sammlung wuchs auch durch Geschenke anderer Familienmitglieder und Freunde an, wie u.a. Emmo Dubsky, Hofrat von Ebner, Schwägerin Gisela, Bruder Heinrich, Freiherr Hornborstel Magnus, Stiefgroßmutter Sofie, Schwester Fritzi und Eleonore Gräfin Graevenitz. Kostbare Uhren, in: Volks-Zeitung, 31.5.1918. Die Uhrensammlung der Ebner-Eschenbach, in: Wiener Tagblatt, 15.10.1916. Rudolf Kaftan: Wie die Uhrensammlung Marie Ebner-Eschenbachs für Wien gerettet wurde. Zum hundertsten Geburtstag der Dichterin, in: Neues Wiener Journal, 15.9.1930, S. 3f. Alexander Grosz: Marie Ebner von Eschenbach, Ehrenmitglied der Uhrmacher-Genossenschaft zu ihrem 100. Geburtstage, in: Der Uhrmacher. Alleiniges offizielles Organ des Reichsfachverbandes der Uhrmacher Oesterreichs, 3. Jg., Nr. 17, 1930, S. 341. Ihr Lehrmeister dürfte Uhrmachermeister Ignaz Hartl, in Wien 15, Sorbaitgasse 4 gewesen sein. Freundlicher Hinweis von Rupert Kerschbaum.
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Marie von Ebner-Eschenbach: Meine Uhrensammlung, in: Velhagen & Klasings Monatshefte, 10. Jg., 5. Heft, Jänner 1896, S. 531–540. Christine Weder: Raffiniertes Wechselspiel der Medien. Marie von Ebner-Eschenbachs Zeitschriftenbeitrag „Meine Uhrensammlung“ (1896), in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, H. 153, Jg. 39, 2019, S. 29–36. Elisabeth Sturm-Bednarczyk: Phantasie-Uhren. Kostbarkeiten des Kunsthandwerks aus der Sammlung Therese Bloch-Bauer, Wien 2002. Alexander Grosz: Marie Ebner von Eschenbach, Ehrenmitglied der Uhrmacher-Genossenschaft zu ihrem 100. Geburtstage, in: Der Uhrmacher. Alleiniges offizielles Organ des Reichsfachverbandes der Uhrmacher Oesterreichs, 3. Jg., Nr. 17, 1930, S. 341f. Rudolf Kaftan: Gewinnung der Uhrensammlung der Frau Baronin Ebner-Eschenbach für das Uhren-Museum der Stadt Wien durch den Unterzeichneten. Archiv Uhrenmuseum. Richard Edler v. Schickh, in: Fremden-Blatt, 30.11.1916, S. 11. Franz M. Scharinger, Robert Waissenberger: Das Wiener Uhrenmuseum. Anmerkungen zur Entstehung der Sammlung, in: Uhrenmuseum Wien, Katalog, Wien 1989, S. 9. Rudolf Kaftan: Wie die Uhrensammlung Marie Ebner-Eschenbachs für Wien gerettet wurde. Zum hundertsten Geburtstag der Dichterin, in: Neues Wiener Journal, 15.9.1930, S. 3f.
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