DIE FÜNFTE KRAUS LECTURE IN KÜRZE
Je ferner man Karl Kraus ansieht, desto näher blickt er zurück: In der letzten „Vorlesung“ wagen die Künstler:innen Thea Ehre, Nick Romeo Reimann und Olivia Axel Scheucher den Versuch, Kraus‘ Zugang zu Medienkritik in die heutigen Verhältnisse im digitalen Netz weiterzudenken. Wie geht man dort mit Halbwahrheiten um? Was für eine neue Männlichkeit wird allerorten in Postings zwecks Stimmungsmache transportiert? Warum spielt die Beschaffenheit von Social Media vor allem den Rechten und Rechtsextremen so in die Hände?
23. Juni, 11 Uhr
Haus der Republik / Volkskundemuseum Wien
Konzept, Dramaturgie Claus Philipp Mit Thea Ehre, Nick Romeo Reimann & Olivia Axel Scheucher durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
In Kooperation mit Wienbibliothek im Rathaus
150. GEBURTSTAG VON KARL KRAUS IN FÜNF „VORLESUNGEN“
„Nichts trostloser als seine Adepten, nichts gottverlassener als seine Gegner“, schrieb Walter Benjamin über den 1874 geborenen, oft zitierten, gleichzeitig viel zu wenig gelesenen Sprach- und Kulturkritiker, Satiriker und begnadeten Performer Karl Kraus. In der Freien Republik Wien gestalten verschiedene Künstler:innen und Intellektuelle eine Reihe von „Vorlesungen“, wie sie Kraus selbst zwischen 1910 und 1936 mit großem Erfolg u. a. im Wiener Konzerthaus, in Arbeiter:innenheimen und Theatern gehalten hat. An fünf Wochenenden wird Kraus weniger nachgebetet, als vielmehr sein „Theater der Dichtung“ entstaubt: Sprachanalysen und Textsprengungen, die er als Herausgeber der Fackel in Die letzten Tage der Menschheit, der Dritten Walpurgisnacht und hunderten Prozessen gegen korrupte Politiker und Medienmacher vorexerzierte, werden neu interpretiert.
Konzept, Dramaturgie Claus Philipp
Kraus-Lesung I Cornelius Obonya, Florian Scheuba
Kraus-Lesung II Petra Slottova, Samouil Stoyanov
Kraus-Lesung III Boris Eder, Sir Henry
Kraus-Lesung IV Clemens J. Setz, Robert Stadlober, Barbara Zeman, Onkel Gusta
durchgeführt vom Team Wiener Festwochen | Freie Republik Wien
In Kooperation mit Wienbibliothek im Rathaus
KARL KRAUS: „IN DIESEM LAND“
In diesem Land wird niemand lächerlich, als der die Wahrheit sagte. Völlig wehrlos zieht er den grinsend flachen Hohn auf sich. Nichts macht in diesem Lande ehrlos.
In diesem Land münzt jede Schlechtigkeit, die anderswo der Haft verfallen wäre, das purste Gold und wirkt ein Würdenkleid und scheffelt immer neue Ehre.
In diesem Land gehst du durch ein Spalier von Beutelschneidern, die dich tief verachten und mindestens nach deinem Beutel dir, wenn nicht nach deinem Gruße trachten.
In diesem Land schließt du dich nicht aus, fliehst du gleich ängstlich die verseuchten Räume. Es kommt die Pest dir auch per Post ins Haus und sie erwürgt dir deine Träume.
In diesem Land triffst du in leer Luft, willst treffen du die ausgefeimte Bande, und es begrinst gemütlich jeder Schuft als Landsmann dich in diesem Lande.
ALLES SCHON DAGEWESEN?
Man kann unterstellen, dass Karl Kraus aufgrund seiner sprachlichen Fähigkeiten ein Star auf Twitter (X) wäre mit einer großen Followerzahl, aber es gäbe nicht nur den einen Karl Kraus, sondern zwanzig davon, die sich permanent battlen und da wird’s dann eben wieder schwierig. Da komm ich zurück auf den wichtigsten Aspekt der Sozialen Medien: die exponentielle Vervielfältig- barkeit von allem. Rufmordkampagnen, Sensationspresse, Fake News, das alles hat es immer schon gegeben, aber in dieser Komplettvervielfältigung und dieser theoretischen Erreichbarkeit von jedem und allem zu jedem Zeitpunkt und die dadurch entstehenden Indifferenzen, dadurch gewinnt das Ganze einen völlig anderen Charakter als zur Zeit Karl Kraus als „Polemiker“ denkbar gewesen wäre. (Eva Menasse im Falter Radio, Folge #1114 „Zerstört das Internet die liberale Gesellschaft?“ )
Programmzettel der 522. Vorlesung von Karl Kraus am 22. Februar 1930. WBR, HS, H.I.N. 240246 und H.I.N. 240247
KULTURELLE TIERE, VERLETZLICH
Wir leben in einem Zeitalter, in dem sich unser Gefühl für unsere eigene Verletzlichkeit verstärkt. Die Verletzlichkeit, mit der wir es hier zu tun haben, scheinen wir dadurch zu erwerben, dass wir an einer bestimmten Lebensweise teilhaben. Menschen sind von Natur aus kulturelle Tiere: Wir nehmen notwendigerweise an einer Lebensweise teil, die sich in einer Kultur äußert. Doch unsere Lebensweise – worin auch immer sie bestehen mag – ist auf viele Arten verletzlich. Und uns, als Teilnehmenden an jener Lebensweise, wird dadurch ebenfalls eine Verletzlichkeit zuteil. Sollte die Lebensweise zusammenbrechen, so ist das unser Problem. Wir leben in einer Zeit des sich verstärkenden Gefühls, dass Zivilisationen verletzlich sind. Ereignisse überall auf der Welt – Terrorangriffe, gewaltsame soziale Umwälzungen und auch Naturkatastrophen – hinterlassen in uns ein unheimliches Gefühl der Bedrohung. Wir scheinen uns einer geteilten Verletzlichkeit bewusst zu sein, die wir nicht ganz benennen können. Ich vermute, dass dieses Gefühl auch die weitverbreitete Intoleranz hervorgerufen hat, die wir heutzutage um uns herum sehen – von allen Punkten des politischen Spektrums her. Es ist so, als ob ohne unser Beharren auf der Richtigkeit unserer Perspektive auch diese Perspektive selbst zusammenbrechen könnte. Wenn wir unserem geteilten Gefühl der Verletzlichkeit einen Namen geben könnten, wäre es uns vielleicht auch möglich, besser mit ihm zu leben.
(Jonathan Lear, Radikale Hoffnung: Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung)
DIKTAT VON FORM UND INHALT
Immer stärker bestimmen Rechte, worüber wir reden. Sie diktieren die Inhalte, mit denen wir uns beschäftigen. Sie diktieren die Form, in der wir uns miteinander beschäftigen. Sie errichten eine Diktatur der immerwährenden Wiederholung – bis wir das glauben, womit sie uns beschäftigen. Bis wir uns selbst vergessen. Es passiert schleichend. In einer veränderten, digitalen Welt, in der die alten Regeln des politischen Diskurses nicht mehr greifen, büßen wir unsere Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit ein. Denn die Kontexte, in denen wir jeweils andere Facetten unserer Persön- lichkeit ausleben – Arbeit, Freund*innenkreise, Freizeit, Familie –, verschmelzen zu einem einzigen Raum und die verschiedenen Aspekte unserer Persönlichkeit erstarren zu einer einzigen Identität. Was wir öffentlich schreiben, teilen und tun, kann von der Familie, dem Arbeitsumfeld, den Freund*innen, den Bekanntschaften und Fremden gelesen werden. Wie aber können unter den Bedingungen der digitalen Öffentlichkeit das Kindische und das Reife in uns, das Verletzliche und Selbstbewusste, das Professionelle und Schwache, das Rationale und Irrationale zugleich existieren, wenn es kein Vergessen gibt, wenn alles für immer auffindbar bleibt, als wäre unsere Vergangenheit auch unsere Gegenwart? Wie können wir unser Selbst noch gestalten, wenn wir in der Identität gefangen sind, die der Spiegel des Internets uns zeigt? In dieser neuen Welt der Unfreiheit wächst eine polarisierte Diskurskultur, die kaum Raum für Positionen jenseits des Lagerdenkens lässt. Das Internet kehrt die hässlichen Seiten unserer Gesellschaft sichtbar hervor. Es macht den Hass sichtbar, der zuvor nur für die direkt Betroffenen sichtbar war. Scheiß Ausländer! Du Schlampe! Es ist eine kurze Begegnung, jemand raunt Ihnen diese Worte ins Ohr, und niemand außer Ihnen beiden kann es bezeugen. Dieser flüchtige Moment, in dem der Hassende seinen Hass dem Gehassten offenbart, findet im Netz einen Echoraum, wiederholt sich, radikalisiert sich – und manifestiert sich so zu einer dauerhaften Öffentlichkeit. Der Hass wird zur neuen Normalität.
(Kübra Gümüşay, Sprache und Sein)
Thea Ehre wurde 1999 in Wels geboren. Ihr Debüt vor der Kamera gab sie 2019 in zwei Folgen der Fernsehserie Vorstadtweiber. Im Februar 2021 outete sich Ehre im Rahmen der Initiative #actout im SZ-Magazin mit 184 anderen lesbischen, schwulen, bisexuellen, queeren, nicht-binären und trans-Schauspieler*innen, damals noch unter dem Namen Thea David Ehrensperger. Beim Porn Film Festival Vienna und wenig später in der Dunkelkammer des Wiener Volkstheaters stand Thea Ehre 2021/22 in FUGUE FOUR : RESPONSE auf der Bühne. Ihr Kinodebüt gab Thea Ehre unter der Regie von Christoph Hochhäusler in Bis ans Ende der Nacht als Transfrau, die sich notgedrungen für einen Undercover-Einsatz der Polizei anwerben lässt. Der Film feierte im Wettbewerb der Berlinale 2023 Premiere. Thea Ehre erhielt dafür den Silbernen Bären.
Olivia Axel Scheucher (keine Pronomen) kommt aus Wien und hat nach dem Wirtschaftsstudium am Max Reinhardt Seminar Theaterregie studiert. Olivia entwickelt die Inhalte und Texte von Inszenierungen selbst, im Austausch mit den Teams und unter Einbeziehung von Fremdtexten. Scheuchers erste Inszenierung FUGUE FOUR : RESPONSE wurde zum Radikal Jung Festival 2024, zum Heidelberger Stückemarkt 2023 und zu ImPulsTanz Vienna 2023 eingeladen. Die Wand // Wandbefall nach Elfriede Jelinek läuft am Volkstheater Wien. Scheucher inszeniert kommende Spielzeit am Kosmos Theater Wien.
Nick Romeo Reimann, 1998 in München geboren, ist Schauspieler. Während seines Studiums an der Otto Falckenberg Schule gastierte er mehrfach an den Münchner Kammerspielen und spielte Rollen in unterschiedlichen Filmproduktionen. Am Volkstheater Wien arbeitete er u. a. mit Claudia Bauer, Alexander Giesche, Kay Voges, Claudia Bossard und Sebastian Baumgarten zusammen. Die mit Olivia Axel Scheucher gemeinsam entwickelte Theaterperformance FUGUE FOUR : RESPONSE wurde zum Heidelberger Stückemarkt 2023, ImPulsTanz 2023 und Radikal Jung 2024 eingeladen. Er führte, ebenfalls mit Scheucher, Co-Regie beim Ö1 Hörspiel Whistleblower. Bei der Nestroy-Preisverleihung 2023 wurde Nick Romeo Reimann mit dem ORF III-Publikumspreis ausgezeichnet.
IMPRESSUM Eigentümer, Herausgeber und Verleger Wiener Festwochen GesmbH, Lehárgasse 11/1/6, 1060 Wien T + 43 1 589 22 0 festwochen@festwochen.at | www.festwochen.at Geschäftsführung Milo Rau, Artemis Vakianis Künstlerische Leitung (für den Inhalt verantwortlich) Milo Rau (Intendant) Bildnachweis Cover @ Videostandbild Die Raben. Die letzten Tage der Menschheit via Wienbibliothek im Rathaus, S. 5. Programmzettel der 522. Vorlesung von Karl Kraus am 22. Februar 1930. WBR, HS, H.I.N. 240246 und H.I.N. 240247 aus: Katharina Prager (2018). Geist versus Zeitgeist: Karl Kraus in der Ersten Republik Wien, S.54. Eine Publikation der Wienbibliothek im Rathaus, Metroverlag Wien. Herstellung Print Alliance HAV Produktions GmbH (Bad Vöslau)
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