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Quo vadis, Waldorfschule?

Ein Gespräch ...

... zwischen Leonhard Weiss und Tobias Richter

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Die Frage dieser MoMent-Ausgabe lautet: „Quo vadis, Waldorfschule?“ – Man könnte auch fragen: Wohin kann oder soll sich die Waldorfschule entwickeln?

LW: Ich hatte vor Kurzem ein Gespräch mit Schülerinnen und Schülern der 12. Klasse über ihre Wahrnehmungen von Waldorfschule, ihre Fragen an die Waldorfpädagogik. Dabei ging es u. a. um den Informatik- bzw. Medienunterricht. Ein Schüler wies dabei darauf hin, dass man in diesem Bereich doch so viel mehr machen könne, als er es anscheinend an der Schule erlebt hat, etwa, wenn mehr „anwendungsorientiert“ gearbeitet würde, beispielsweise in Richtung von Computerkunst, -design, -grafik, etc. Daraufhin meinten andere, dass aber natürlich nicht jeder alles machen könnte und wollte. Und dieses Thema wurde dann zum ganz großen Schwerpunkt des Gesprächs der Schülerinnen und Schüler: Sie wollen Dinge selbst erarbeiten und vertiefen können – und sie wollen selbst mehr wählen und entscheiden können, was sie in der Schule lernen und erarbeiten. Dass Waldorfschülerinnen und -schüler das so stark als Wunsch an ihre Schule formulieren, hat mich sehr beeindruckt.

TR: Ja, ich glaube das ist etwas, das es noch viel stärker zu entwickeln gilt, dieses selbstverantwortliche Lernen und Arbeiten. Dabei werden die Schülerinnen und Schüler auch erfahren, was sie können, wie sie es können und was sie zusätzlich brauchen, um etwas zu können… Wenn sie so ihr eigener Lehrer, ihre eigene Lehrerin werden, ist das nicht ein nachhaltiger Gewinn? Mein Ansatz, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, wohin die Waldorfpädagogik gehen möchte, führt ebenfalls in Richtung der Tätigkeit. Wenn man beispielsweise das Tätigkeitsprofil eines Waldorfschülers, einer Waldorfschülerin anschaut, sieht man von der Unterstufe über die Mittelstufe bis hinein in die Oberstufe, wie umfangreich es ist, auch wenn es sich altersspezifisch ändert bzw. sich ändern muss: Formenzeichnen, Schreiben, Malen, Plastizieren, Stricken, Häkeln, Spinnen, Weben, Üben und Spielen eines Instruments, Schnitzen, Sägen, Schmieden, Kupfertreiben, Bäume fällen, Anpflanzen, Umgraben, Kochen, usw. Daran stellt sich mir jetzt die Frage: Welche moralischen Fähigkeiten entwickeln sich durch und an diesen Tätigkeiten? Es geht mir nicht um eine konventionelle Moral, eine Gesellschafts- oder Lehrermoral, sondern um eine Moralität, eine Haltung der Achtung, der Aufmerksamkeit, Zuwendung, Rücksichtnahme, Empathie, die aus der praktischen Tätigkeit resultiert. Und dieses Moral- oder Haltungsthema habe ich angesprochen gefunden in einem Interview mit Dennis Snower1, dem amerikanisch-österreichischen Wirtschaftswissenschafter und Präsident der Global Solutions Initiative am Institut für Weltwirtschaft in Kiel: Auf die Frage, was für die Menschheit in Zukunft entscheidend sei, antwortet er knapp und dadurch umso nachdrücklicher: „Mitgefühl“. Wenn wir dieses ausbilden, dann habe das Konsequenzen bis in die Strukturierung unserer Gehirne. Um das zu entdecken, hätte er dreißig Jahre gebraucht. So lange sei er mit seinen Zukunftskonstruktionen in die falsche Richtung gerannt.2 Und damit zu dem Wunsch, den die Schülerinnen und Schüler formulierten: sich Dinge, Themen selbständig zu erarbeiten. Das kann natürlich auch zu Hause stattfinden, wie sich in den letzten beiden Jahren zeigte, Schule braucht es dazu nicht. Allerdings kommt diese als eine Einrichtung ins Spiel, durch die man Anteil nehmen kann an dem, was die Kolleginnen und Kollegen sich erarbeitet haben – und nicht nur was, sondern auch wie… Daraus können dann neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit entstehen, neue Fragestellungen auftauchen, die wieder vertieft werden. Anteilnahme, Aufmerksamkeit sind dazu notwendig –vielleicht Geschwister des Mitgefühls?

Welche Möglichkeiten eröffnen vielfältige Lernangebote?

LW: Vielleicht noch ein Nachtrag zu dem Gespräch mit den Schülern. Ein Punkt, der ihnen auch wichtig war, war der: selbst zu wissen, warum ich etwas tue, bzw. auch überzeugende Antworten auf diese Frage nach dem Warum zu bekommen. Natürlich müssen solche Antworten immer altersgemäß anders ausfallen, das war auch den Schülerinnen klar, aber grundsätzlich haben sie m. E. schon Recht. Denn wenn ich weiß, warum ich etwas tue, sehe ich ja auch den Sinn darin und verbinde mich ganz anders damit.

TR: Das halte ich für eine ganz wichtige Sache. Dazu ein Erlebnis: Kürzlich nahm ich an einer Lehrerkonferenz teil, und dabei ist für mich in den verschiedenen Gesprächsbeiträgen deutlich geworden, wie stark diese geprägt waren durch die jeweiligen Tätigkeiten der Kolleginnen: Was und wie konnte ein Drechselmeister sprechen, wie der Mathematiker, wie die Eurythmistin, wie der Musiker usw. Da konnte man die ganz unterschiedlichen Lebenskonzepte, verbunden mit der Wirkung eines Fachgebiets – eigentlich dem „Sinn“ eines Faches –erleben. Wie ist das bei den Schülerinnen und Schülern?

Erleben sie auch in der Art, wie jemand (ein Lehrer, eine Lehrerin) z. B. ein Stück Holz in die Hand nimmt und weiß, wie es bearbeitet werden möchte, oder wie jemand anderer an der Tafel mit Zirkel und Lineal konstruiert, den Sinn (oder die Substanz) dieses Fachgebietes? Was hat dieses Fachgebiet aus dem Lehrer, der Lehrerin gemacht, was leistet es? Kurzum, neben der Erklärung und Begründung einer Sache spielt vielleicht noch deren wahrnehmbare biografische Wirkung eine Rolle, sodass die Frage, „warum mache ich etwas?“ quasi biografisch gedeckt ist durch diejenigen, die ein Fach vertreten. Was lässt sich durch diese Vielfalt der Leben gewordenen Fächer nicht alles entdecken? Und da wäre ich wieder bei dem „Signalmotiv“ von Dennis Snower: Mitgefühl, Miteinander, Mitarbeit. Kann Waldorfschule nicht das zu ihrem Schulprofil machen: eine Schule des Miteinander?

LW: Meinst du jetzt das Miteinander der Fächer oder der Schülerinnen und Schüler?

TR: Beides. Aber eigentlich auch noch mehr – das Miteinander mit den Eltern, mit den Kolleginnen und Kollegen, den Möglichkeiten und Erwartungen der Umwelt, der Gesellschaft …

Welche Strukturen würde eine solche „Schule des Miteinanders“ brauchen?

LW: Mir scheint, da sind wir ja teilweise noch recht konservativ, was das betrifft. Da sind sicher anderer Schularten wesentlich beweglicher und innovativer als Waldorfschulen.

TR: Oh ja! Und wie erklärst du dir das?

LW: Einmal ist dies vielleicht ein Ausdruck von Zufriedenheit darüber, dass etwas gelingt – manches hat sich bewährt, und dadurch, dass sich etwas bewährt hat, wehrt es sich auch vielleicht gegen Veränderung. Oder es hängt mit einem Traditionsbewusstsein zusammen – oder gar mit der Illusion einer Tradition, mit dem Glauben, etwas müsse unbedingt an einer Waldorfschule so sein, das sei von Anfang an, schon bei Steiner so gewesen. Oft stimmt das gar nicht, und auch wenn es so gewesen wäre, ist das ja kein Argument dafür, es bis in alle Ewigkeit weiter so zu machen. Da sind wir manchmal wohl nicht so mutig. Wie gesagt, sicher auch aus einer Zufriedenheit heraus mit dem, was sich entwickelt hat. Für mich ist die Handwerkerepoche in der 3. Klasse ein Paradebeispiel dafür: So schön das alles ist – das Kennenlernen alter Handwerke, das Besuchen von Werkstätten usw. –, eigentlich war der Ursprungsimpuls bei Steiner ein ganz anderer: Die Kinder sollten wissen, was und wie in der Welt um sie rundum eigentlich gearbeitet wird. Es ging, so wie ich es verstehe, eigentlich um ein Verständnis der gegenwärtigen Welt, in der die Kinder leben. Natürlich beruhen viele Tätigkeiten heute auf alten Handwerken, und natürlich sind diese alten Tätigkeiten für Kinder oft leichter verständlich als moderne Abläufe. Aber manchmal besteht damit auch die Gefahr, dass wir uns als Schule eine schöne Welt bauen, die sehr romantisch wirken kann, aber nicht das ist, worum es eigentlich geht.

TR: Damit schließt sich für mich der Kreis. Du hast begonnen mit dem Zukunftswunsch der Schülerinnen und Schüler nach Selbsttätigkeit. Bei diesen Sachkundeepochen steht das Tun im Zentrum. Und Kinder in diesem Alter wird man überall und immer dort finden, wo etwas getan wird, wo gearbeitet wird. Haben die Kinder so die Erfahrung gemacht: „Ich kann etwas, ich kann mauern, ich habe verstanden, wie das geht, ich weiß, warum man das so macht.“, dann ist es doch schade, wenn es mit diesem Eigenarbeits-Impuls nicht weitergeht…

LW: Wäre es nicht wunderbar, wenn während dieses dritten Schuljahres einige der Eltern, denen das möglich ist, die Kinder in ihre Berufstätigkeit einführten? Natürlich ist das vielleicht kompliziert, weil viele von uns Tätigkeiten ausüben, die nicht mehr so unmittelbar einsichtig sind. Aber sicher müsste es in der Elternschaft einer Klasse doch einiges geben, woran die Kinder teilnehmen könnten.

TR: Ein Super-Beispiel für eine Schule des Miteinander! Eine Lehrerin, ein Lehrer kann das ja gar nicht alleine bewerkstelligen.

Lassen wir es heute doch mal so weit sein.

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