Passion #4

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Essay

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Und dann werden wir erwachsen Ein Essay von Alexa Hennig von Lange

Wir kommen auf die Welt. Wir werden hineingeboren in eine Umgebung, die uns bereits erwartet hat. Wir liegen in den Armen unserer Mutter, unseres Vaters. Manchmal ist schon ein älteres Geschwister da. Es streichelt uns übers Köpfchen, Fotos werden gemacht. Vielleicht kommt nach uns noch ein jüngeres Geschwisterchen dazu. Nun sind wir das „mittlere“ Geschwister. Vielleicht bleiben wir auch für immer der „kleine“ Bruder oder die „kleine“ Schwester. Vielleicht sind wir auch die „große“ Schwester oder der „große“ Bruder. Wir verleben unsere Kindheit und Jugend miteinander. Wir spielen gemeinsam im Sandkasten oder auf dem Kinderzimmerteppich. Wir gehen zusammen zum Sport, in den Chor oder zu den Großeltern. In den Ferien fahren wir zusammen in den Urlaub. Wir teilen uns ein Zimmer, abends bekommen wir von unseren Eltern etwas vorgelesen. Wenn das Licht ausgeschaltet ist, liegen wir mit offenen Augen in unseren Betten und erahnen den Mond diffus hinter den zugezogenen Vorhängen. Wir flüstern uns leise etwas zu. Auf dem Schulhof suchen wir Schutz bei unseren größeren Geschwistern oder wir beschützen unsere jüngeren Geschwister. Wir kommen mittags aus der Schule und erzählen, was wir am Vormittag erlebt haben. Wir sitzen beim Essen gemeinsam am Tisch, wir sind dabei, wenn sich unsere Eltern streiten und hoffentlich wieder vertragen. Jeder von uns hat seine Position in der Familienstruktur. Wir lernen von unseren Eltern durch Beobachtung und wir lernen untereinander. Wir waren unsere gegenseitigen Zeugen. Fraglos hätten wir unser Leben für das unserer Geschwister gegeben. Und dann werden wir erwachsen und meistens wird es damit kompliziert. Für jeden von uns und für unsere geschwisterliche Beziehung. Wir ziehen von zu Hause aus, verlieben uns, fangen an zu studieren, haben neue Freundeskreise, eigene WG-Zimmer und neue Einflüsse. Wir erschließen uns unsere Welten, in die unsere Geschwister nicht folgen können und manchmal auch nicht folgen sollen. Es sind unsere ganz eigenen Welten, in denen wir zu Menschen werden, die wir selbst noch gar nicht kannten, von denen wir nicht einmal ahnten, dass sie in uns steckten. Wir nehmen neue Sichtweisen an, wenden uns gegen das, was wir zu Hause gelernt haben, um dessen Gültigkeit zu überprüfen. Schließlich fangen wir an zu arbeiten, heiraten, bekommen Kinder, richten unsere Wohnungen und Häuser ein, machen Urlaube und haben immer weniger

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Zeit. Wir sehen unsere Geschwister nur ein paar mal im Jahr, ab und an telefonieren wir mit ihnen und nicht selten wissen wir uns gar nichts mehr zu sagen. Wir beenden das Telefonat und fragen uns: „Warum sind wir uns über die Jahre so fremd geworden?“ Eine ganze Zeit lang mag uns das nichts ausmachen. Wir haben genug mit unserem neuen, eigenen Leben zu tun. Das Leben unserer Geschwister erscheint uns immer irritierender, sie gehen seltsame Wege, von denen wir nie gedacht hätten, dass unsere Geschwister sie gehen. Sie wählen Partner, von denen wir nie gedacht hätten, dass das die passenden für unsere Geschwister wären. Wir meinen noch immer, diejenigen zu sein, die ihre Geschwister am besten kennen, während sich unsere Geschwister immer weiter von sich selbst zu entfernen scheinen. Nur in unseren eigenen Entscheidungen erkennen wir eine gewisse Logik und Stimmigkeit. Und genau die möchten wir unseren Geschwistern gerne vermitteln. Damit wir uns nicht mehr so fremd sind und auch, weil wir stolz auf unsere eigenen Errungenschaften und Erkenntnisse sind. Wir können jetzt viel besser unsere Grenzen ziehen und all jene Fehler, die unsere Eltern gemacht haben, wollen wir in unseren Familien nicht wiederholen. Als Erwachsene wollen wir alles ganz anders machen. Jeder auf seine Weise. Nur wollen wir unbedingt, dass unsere Herangehensweise von unseren Geschwistern anerkannt wird. Und in diesem Wollen kommen wir uns nicht wirklich näher, sondern entfernen uns immer mehr voneinander. Besonders deutlich wird das auf Familienfesten, runden Geburtstagen und Weihnachten. Jeder hat so seine Vorstellungen, die beachtet werden sollen. Das kindliche Bedürfnis, von den Eltern gelobt zu werden und bestätigt wird, dass man sein Leben hinbekommen hat, ist noch immer nicht befriedigt. Wir Geschwister, die sich in der Kindheit so nah waren, erkennen sich nicht wieder und es scheint, als gäbe es keinen Weg zurück zu dieser einstigen fraglosen Verbundenheit – bis zu dem Augenblick, in dem sich das Auflösen des Elternhauses ankündigt, der Abschied von den eigenen Eltern immer näher rückt. Mit einem Mal ist das tiefe Empfinden wieder füreinander da. Aus dem Bedürfnis heraus, füreinander da zu sein. Sich gemeinsam auf das zu besinnen, was einmal die Ausgangsbasis für das eigene Leben war. Und als Geschenk an die Eltern. Zum Zeichen, dass es diese Familie einmal gab. Und das war gut. D

Alexa Hennig von Lange, 46, begann bereits mit acht Jahren zu schreiben. 1997 erschien ihr Debütroman Relax, mit dem sie über Nacht zu einer der erfolgreichsten Autorinnen und zur Stimme ihrer Generation wurde. 2002 bekam sie den Deutschen Jugendliteraturpreis für Ich habe einfach Glück. Es folgten zahlreiche Romane für Erwachsene wie für Jugendliche und Kinder. Ihr neuester Roman Die Weihnachtsgeschwister erscheint am 14. Oktober 2019 im DuMont Buchverlag. ISBN 978-3832197759

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