orte Verlag Leseprobe
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Ruth Weber
DAS KORSETT Roman
orte Verlag
1. Auflage, 2022 © by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Umschlaggestaltung: Brigitte Knöpfel Gesetzt in Arno Pro Regular Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn ISBN 978-3-85830-302-8 www.orteverlag.ch
Verse des Lebens Ich lebe Ich lebe Erkennen meine offenen Augen die Wirklichkeit? Findet mein klarer Blick die Wahrheit? Wenn es so wäre läge dazwischen dennoch das Spiel von Licht und Schatten verborgen der Suche nach den Versen des Lebens Ich lebe Ich lebe wirklich Miki Sakamoto, geb. 1950
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Lena Ich hatte meine Grossmutter lange nicht mehr besucht. Nun, ein paar Tage vor Weihnachten, schob ich sie in einem Rollstuhl in den Aufenthaltsraum, in dem ein geschmückter Baum stand. Ich begann leise Weihnachtslieder zu singen «Oh du fröhliche», «Inmitten der Nacht». Meine Hand, mit der ich die ihre umfassen wollte, um sie meine Anwesenheit spüren zu lassen, um ihr und mir zu zeigen, dass wir miteinander verbunden sind, schob sie energisch zur Seite. Die Kraft ihrer Bewegung, die Energie ihres schmalen Körpers, der nur mehr aus kühler Haut und durchschimmernden Knochen zu bestehen schien, liess mich zusammenzucken. «Sein lassen», sagte sie mit brüchiger Stimme. Und nochmals, «sein lassen», diesmal lauter. Ich blieb noch ein wenig neben ihr sitzen, in einem mit Kunstleder bezogenen Lehnstuhl und wusste nicht, was ich zu ihr sagen könnte. Die Welt, in der sie sich zu befinden schien, war für mich unerreichbar. Ihre Finger spielten mit dem goldenen Geschenkband, mit dem ich das Glas mit Bienenhonig geschmückt hatte. Ich hatte nicht gewusst, was ich ihr schenken könnte und mich nach einigem Überlegen für etwas entschieden, das mir sinnvoll und praktisch erschien. Sie begann am Band zu ziehen, das Glas drehte sich und kippte um. Sie nahm es regungslos zur Kenntnis, ihre Augen unaufhörlich auf mich gerichtet. Ich nahm das Glas und stellte es für sie unerreichbar auf den Tisch. Die Augen, die mich durchdrangen, ihre Wortlosigkeit, die auch mir die Worte nahm, lösten in mir ein Unbehagen aus, das mich in meiner Tasche nach einem Taschentuch kramen liess, nach einem Hustenbonbon, einem Kaugummi. Ich stellte mir vor, dass sie aufstehen, nach dem Honig greifen und ihn nach mir werfen würde. Ein Gedanke, der mich erschreckte, hatte ich doch die Grossmutter nie wütend erlebt, kaum einmal traurig oder erfreut. 7
Und doch konnte ich eine Spannung spüren, die von ihr ausging und sich wie ein feines Netz über diesen fensterlosen Raum mit dem blauen Linoleumboden legte, über den Weihnachtsbaum und bis zur Türe, die zum Korridor hin offenstand. Ich hatte mir den Besuch anders vorgestellt, hatte gedacht, dass ich sie trösten würde. Dass die Grossmutter kein Mensch war, der getröstet werden wollte und es wohl lange her war, dass sie andere tröstete, daran hatte ich nicht mehr gedacht. Ich war mit der Sicherheit hergekommen, dass sie meinen Trost brauchen würde, ja, ich dachte, sie würde sich über meinen Besuch freuen. Nun fühlte ich mich beschämt und wütend, wütend über mich selbst, über meine Erwartung, freudig empfangen zu werden. Dabei war ich es, die es Monate nicht für nötig empfunden hatte, sie zu besuchen. Mein Unbehagen löste sich erst, als ein junger Pfleger in den Raum kam, um sie abzuholen. «Sie möchte ins Bett», sagte er, «sie möchte immer um diese Zeit ins Bett. Vielleicht sollten Sie jetzt gehen.» Erleichtert und doch unsicher, wie ich mich verabschieden sollte, strich ich mit der Hand leicht über ihre Wange. Ich könnte sie umarmen, meinen Arm um ihre schmalen Schultern legen, meine Wange an die ihre drücken, dachte ich. Doch wir hatten uns nie umarmt, und mir fehlte die Gewohnheit, es einfach zu tun. Wenige Wochen nach meinem Besuch war sie tot. Ich fuhr noch einmal zum Altersheim. Mit geschlossenen Augen lag sie in ihrem Bett. Ihre Hände waren zusammengefaltet wie zum Gebet und fühlten sich kalt an. Das Nachthemd, das sie trug, war aus weissem Leinen und hatte an den Ärmeln Spitzenborten. Es sah aus, als hätte sie es davor noch nie getragen. An den Ärmeln und über dem Bauch waren Falten, die sich in den Stoff geprägt hatten. Als Kind sah ich ihr zu, wie sie die gebügelte Wäsche in den Schrank in ihrem Schlafzimmer legte. Im obersten Regal lagen die Nachthemden, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekom8
men hatte. Wir strichen mit den Händen darüber, und in meiner Nase war ein feiner Geruch von dem Stück Seife, das sie dazwischen gelegt hatte. Dass die Nachthemden zu schade zum Tragen seien, sagte die Grossmutter, vielleicht später einmal. Später einmal, sie sagte das oft, und man ahnte, dass es dieses Später niemals geben würde. Nun, da sie tot war, trug sie eines dieser Hemden, und der Gedanke daran, dass erst nach ihrem Tod der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war, machte mich traurig. Ich dachte an die Ferientage, die ich bei ihr verbracht hatte. An meine Kinderhand, die ich beim Spazieren in ihre Manteltasche gesteckt hatte. Der Mantel war bordeauxfarben und der Kragen aus schwarzem Fell. Und wenn ich an die Farbe des Mantels dachte, hatte ich den Geruch von gekochten Brombeeren in der Nase.
1983, Lena Neben dem Haushaltsgeschäft ist das Kühlhaus. Wenn wir da rinstehen, ist Nebel um uns, und die Grossmutter verschwimmt zwischen den Schränken. Wenn sie wieder auftaucht, sieht sie aus wie Maria, die den Kindern auf dem Feld erscheint. Um ihren Kopf ein Schein aus kalter Luft, in der Hand hält sie Beutel mit gefrorenen Beeren, die sie im Sommer gesammelt hat. Auf dem Heimweg sehen wir den Herrn Bänziger. Herr Bänziger, sagt die Grossmutter zu ihm. Grüezi sagt sie auch, aber es ist kaum zu hören, das Wort murmelt in den Tiefen der Grossmutter wie ein Bergbach in einem entfernten Tal. Ich schaue die Grossmutter von der Seite an und wundere mich, dass es in einem Menschen, der kaum grösser ist als ich, so tief hinunter gehen kann. Der Herr Bänziger war Lehrer, sagt sie, als er weitergegangen ist. Die Tante war bei ihm in der Schule und der Vater auch.
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Vor dem Abendessen sitzen wir am Stubentisch und warten, bis der Grossvater aus der Schreinerei heraufkommt. Vom Buffet herab blickt mich die Tante an. Das Foto, das in einem silberfarbenen Rahmen steckt, wurde aufgenommen, als sie ein Mädchen war. Sie trägt eine karierte Schürze. Die Zöpfe sind dicht und fallen nach vorne, und ihre Augen blicken in die Ferne. Vielleicht hat sie da schon gewusst, dass sie weggehen wird. Das Foto des Buben ist auf der rechten Seite des Buffets unter dem Bild mit den Appenzeller Geissen. Ich sehe den Vater, es ist sein Gesicht ohne die Jahre darin. Dass auch er ein Kind war, kann ich mir nicht vorstellen. Er lächelt und hält eine Kreidetafel in der Hand. Er hat schwarze Haare und dunkle Augen, und ich weiss nicht, wohin er sieht. Es gelingt mir nicht, seinen Blick auf mich zu lenken, auch wenn ich es von verschiedenen Seiten her probiere. Seine Augen schauen an mir vorbei, ich kann mich anstrengen, wie ich will, unsere Blicke begegnen sich nicht.
Lena Die Geschichte meiner Grossmutter Anna zu erzählen, heisst, ein Leben zu inszenieren, das mir zu grossen Teilen fremd ist. Es sind Fragmente, die ich zu einem Ganzen zusammendenke. Erinnerungen, Beobachtungen und Gefühle, die mich mit ihr verbinden und die mir helfen, ihr Leben und damit auch das Leben meiner Familie verstehen zu können. Die Ferien, die ich als Kind bei den Grosseltern in Speicher verbrachte, haben sich mir eingeprägt. Es ist der Geruch der Wohnung, des dunklen Treppenhauses, des Estrichs, der Backerbsensuppe. Es ist das Geräusch der herannahenden Trogenerbahn, es ist das Warten auf der gegenüberliegenden Strassenseite mit dem Milcheimer an der Hand auf den Milchmann, es ist der Geschmack von stichfestem Vanillejoghurt, es sind Brombeeren, die wir am Wald rand pflückten. 10
Die Überschaubarkeit des Tagesablaufs und das Dorf Speicher, das ich auf unseren Spaziergängen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtete, liessen in mir das Gefühl aufkommen, mich in einer Märchenwelt zu befinden. Mit der Grossmutter verband mich Kinderglück. Dass dieses irgendwann Risse bekam, bemerkte ich erst, als es zu spät war. Ich wurde erwachsen, und die Grossmutter erschien mir zunehmend distanziert oder vielleicht war ich es, die sich von ihr entfernte. Die Verbundenheit der Kindheit konnte ich nicht mehr spüren, zur Begrüssung reichte uns ein knapper Händedruck, sie erzählte mir von Begegnungen beim Einkaufen und davon, wie sie ihre Mahlzeiten zubereitete. Sie schien sich nicht für mein Leben zu interessieren, und ich erkannte, dass dies wohl schon früher so gewesen war. Dass die Verbundenheit, die ich als Kind gespürt und die Wärme, die mich getröstet hatte, mehr Wunsch als Wirklichkeit gewesen waren. Ich, ein nachdenkliches, scheues Kind und Anna, die Grossmutter, geprägt von einer Kindheit, von der ich keine Ahnung hatte. Alles an Anna war unauffällig, war zurückhaltend und ohne den Anspruch, etwas Besonderes zu sein. Sie ging mit Dingen und Gefühlen sparsam um. Die Kleider, die sie trug, als ich ein Kind war, trug sie auch noch im Altersheim. Die wenigen Kostbarkeiten, die sie im Stubenbuffet aufbewahrte und die sie uns jeweils an Weihnachten zeigte, befanden sich nach ihrem Tod noch immer in der Originalverpackung. Grosszügig war Anna einzig mit dem Kirsch, den sie dem täglichen Nachmittagskaffee zufügte. Um das heisse Getränk abzukühlen, wie sie sagte. Aussergewöhnlich alt geworden, verbrachte sie die letzten Jahre in einem oberhalb des Dorfs Trogen gelegenen Altersheim. Die Grossmutter hat gern gegessen, was ihrer zierlichen Figur nicht anzusehen war. Ihr schmeckte alles, und auf die Frage, ob es ihr im Altersheim gefalle, antwortete sie, dass das Essen gut sei. Es sei gut und genug, und dazu bekomme sie jeden Tag ein Glas Wein. Sie schien verwundert darüber, dass täglich in ausreichen11
den Mengen gekocht wurde. Die Nahrungsknappheit, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatte, schien sie geprägt zu haben. Und nach den Jahren, die sie nach Grossvaters Tod alleine gelebt hatte, und sich von gebratenen Kartoffeln, Nudeln und Gurken ernährt hatte, schätzte sie das abwechslungsreiche Essen. Sie war zufrieden, mit dem Essen und dem täglichen Glas Wein, damit, dass alle nett seien, wie sie sagte. Dabei strich sie mit ihren Händen über die Tischkante, die linke Hand hielt den Tisch, die rechte strich unentwegt. Man hätte ihr sagen mögen, dass sie damit aufhören solle, dass das schabende Geräusch Gänsehaut erzeugte. Doch hat es niemand gesagt. Vielleicht, weil die Bewegung mehr war als blosse körperliche Regung. Ich stellte mir vor, dass es die Hand einer Mutter wäre, die ihrem Kind liebevoll über den Kopf streichen würde. Keiner wusste mit Sicherheit zu sagen, ob sie noch wahrnehmen konnte, was um sie herum geschah. Oder ob sie sich zurückgezogen hatte, Jahre zurück vielleicht, in eine Welt, von der sie uns nie erzählt hatte. Das Leben wich langsam aus ihr, es war ein langsames Zurückziehen, sie verschwand in sich. Ob ihr das Angst machte, ob sie den bevorstehenden Tod akzeptieren konnte und ob sie an die Ewigkeit glaubte, wusste ich nicht. Was von Anna zurückbleiben würde, war nicht mehr als ein schmaler Körper, dazu ein paar Fotos, auf denen Personen abgebildet waren, deren Namen ich nicht kannte und ein Stapel Tischtücher aus weissem Leinen, von ihrer Mutter mit Blumenranken bestickt. Keine Briefe, keine Erinnerungen an eine Kindheit, die von Verlust und Krieg geprägt war. Keine Hinweise auf einen Vater, auf Geschwister, auf verlorengegangene Menschen. Sie als hilfsbedürftigen, abwesenden Menschen zu sehen, als jemanden, der alles vergessen zu haben schien, was sich in mehr als hundert Lebensjahren ereignete, machte mich betroffen und ich fühlte mich seltsam schuldig. Schuldig, mich nie wirklich für sie interessiert zu haben, mich nicht nach ihrer Kindheit, ihren Jahren als junge Frau und Mutter erkundigt zu haben. 12
Gleichzeitig wusste ich, dass sie Gespräche, die sich in diese Richtung bewegten, abrupt zu beenden pflegte. Sie stahl sich daraus, indem sie in der Küche zu hantieren begann, den Fernseher einschaltete oder das Fenster öffnete, um nachzusehen, ob es regnete.
Anna Jeden Sonntag schickt sie die Metzgersfrau zur Frühmesse. Dass du mir nachher sofort zurückkommst und dich nicht vom Geschwätz der anderen aufhalten lässt, befiehlt sie ihr. Doch mit wem soll sie reden, sie kennt niemanden und wenn, dann sind es Kundinnen, denen sie die Wurst abschneiden und einpacken muss. Doch neuerdings begegnet sie einem jungen Mann mit einem ehrlichen Gesicht. Wenn sie die Kirche verlässt und zügig durch die Gasse geht, kommt er ihr entgegen. Grossgewachsen, mit einem Anzug gekleidet und von einem Ernst erfüllt, wie sie ihn selten gesehen hat. Grüezi, sagt er, und sie versucht es ebenfalls, Grüezi, und natürlich kann man hören, dass sie das noch nicht lange versucht. Einmal hält er kurz an, fragt sie nach ihrem Namen, erzählt ihr, dass er in der Hauptmesse im Kirchenchor singen werde. Bis sie sich zum ersten Mal zu einem Spaziergang verabreden, dem Fluss entlang, an einem Sonntagnachmittag, vergehen nochmals mehrere Wochen. Anna mag es, wie er neben ihr geht, sie mag sein Lächeln und wie er erzählt. Und ganz besonders gefällt ihr, wenn er davon spricht, wie er mit Holz arbeitet. Er beschreibt ihr den Geruch der verschiedenen Holzarten, die Strukturen, die bei jedem Baum anders sind, erzählt ihr davon, wie er aus Brettern Stühle und Tische herstellt. Dass Franz keiner ist, der ihren Körper dem seinen unterordnen will, dass er sie erst nach Monaten zum ersten Mal auf den Mund küsst, überzeugt sie davon, dass sie ihn heiraten würde. Sie ist stolz auf ihn, wenn er mit dem Töff zur Ar13
beit fährt. Gut sieht er aus, gesund und stark. Und doch ist sie hin- und hergerissen, so einen Mann wie den Franz hat sie doch gar nicht verdient. Dieser Meinung ist auch die Schwiegermutter. Was soll der Franz mit einer Ausländerin. Dass eine aus dem Österreichischen nichts für ihn sei, sagt sie, dass er etwas Besseres verdient hätte. Eine von uns, wie sie sagt. Anna weiss, dass das stimmt, was ist sie denn anderes als eine Fremde, eine aus dem Ausland, eine, die nicht dazugehört.
Lena Mit ihren Worten ging sie sorgfältig und zurückhaltend um. Wie kann es geschehen, dass ein Mensch so lange lebt und dabei mit so wenigen Worten auskommt? Ich stelle mir vor, dass die Grossmutter sich dabei sehr einsam gefühlt haben muss. Nicht, dass sie früher nicht gesprochen hätte, manchmal unterhielt sie sich auf ihren Spaziergängen mit einer Bekannten, mit der Nachbarin, mit Leuten, die sich nach ihrem Sohn erkundigten. Dann sagte sie, gut, es geht ihm gut, klar geht es ihm gut. Wenn wir dann weitergingen, sagte sie zu mir, das ist Frau Ernst, sie ist seltsam im Kopf, oder das ist Frau Zoller, ihr Mann ist Maler. Später dann, als der Grossvater gestorben war, sagte sie, gut, ich kann nicht klagen, nur die Hände, die Gelenke tun schwierig, das Häkeln fällt mir schwer. Aber sonst, man muss zufrieden sein. Die Augen, mit denen sie Stoffe, Wolle und Gehäkeltes prüfend ansah, während sie es durch die Hände gleiten liess, hatten etwas von ihrer Ferne verloren. Ihre Augen schienen zu vergehen. Dennoch blickte sie unergründlich in mich hinein und liess mich ratlos zurück. Erst später merkte ich, dass ich mich getäuscht hatte: Ihr Blick versuchte weniger, in mich einzudringen, als durch mich hindurchzusehen. Irgendwohin, wo ich niemals sein würde, an einen Ort, den nur sie sehen konnte und der weit zurücklag. 14
Anna Heimweh hat sie nicht. Doch die Stadt fehlt ihr, die Mutter. Ist es richtig, dass sie in Sicherheit leben kann und die Mutter, die Schwester, die Schulkolleginnen noch immer die Auswirkungen des Kriegs spüren. Die Trauer um die vielen Gefallenen und Verschollenen, der Schmerz über den Verlust des südlichen Tirols, das nun zu Italien gehört. Anna schreibt der Mutter Briefe, nicht oft, schreiben fällt ihr nicht leicht. Und wenn es geht, schickt sie ein Stück Speck oder etwas Schokolade. Die Briefe der Mutter kommen regelmässig, zwar schreibt sie, dass es gut gehe, dass der Joseph Arbeit habe und sie mit dem Handarbeitsgeschäft viel zu tun. Und dass sie nicht zur Hochzeit in die Schweiz kommen könne. Anna schreibt, dass sie das verstehe und legt dem Brief ein Foto bei. Franz und sie beim Fotografen, er blickt ernst, sie hält einen Lilienstrauss in der Hand, und im Brautkleid sieht sie jung und unbeschwert aus.
Lena Das Gemeinschaftsgrab steht oberhalb der Gräberreihen mitten in einem Stück Rasen, der nun schneebedeckt ist. Der Schnee ist von einer Schmutzschicht überzogen, und es bläst ein kalter Wind, der einen den Mantelkragen hochschlagen lässt. Es ist dasselbe Wetter wie bei der Abschiedsfeier für meine Grossmutter. Ein paar Leute waren da, die Familie und entfernte Verwandte, die ich noch kaum einmal gesehen hatte, dazu die Nachbarn, deren Namen und Gesichter mir geläufig waren. Die Schultern hochgezogen und die Hände in den Jackentaschen vergraben, standen wir da, die Blicke etwas gesenkt, aber auch nervös. Es galt, nichts falsch zu machen. Falsch konnte bereits das Zucken eines Augenlids sein oder ein ver15
dächtiges Räuspern. Meine Schwester, zu der ich zwei Jahre vorher den Kontakt abgebrochen hatte, schaute links an mir vorbei, als wir uns begrüssten. Unsere Hände streiften sich nur knapp, und mein Blick galt ihren Kindern. Dass wir uns nicht umarmten, war nichts Besonderes. Keiner von uns erwartete eine Umarmung oder zumindest hätten wir das nicht zuge geben. Mir war so kalt, dass ich von einem Fuss auf den anderen trat und den Schal bis zum Kinn hochzog. Seltsam, dass ich in diesem Augenblick an die Beerdigung meines Vaters dachte. Es war ein Tag im August drei Jahre zuvor, der heisseste Tag eines aussergewöhnlich warmen Jahrs. Der Sarg stand an der Mittags sonne. Wir trugen Sonnenbrillen, und der Schweiss rann mir in kleinen Bächen den Rücken hinunter. Das Gesicht meines Vaters wie aus Wachs und an der kleinen Scheibe darüber Tropfen von Kondenswasser. Die Blumen auf dem Sarg lagen leblos auf dem hellen Holz. Stellt ihn doch in den Schatten, die Hitze ist unerträglich, ich sehe doch, dass er schwitzt, sagte die Mutter. Mir wurde schwindlig, das Stehen an der Sonne, die vielen Leute, die gekommen waren, um sich von ihm zu verabschieden. Meine Ehrfurcht vor allem, was er geleistet hatte, all die Menschen, denen er uneigennützig geholfen hatte und denen er viel bedeutet hatte. Doch da waren auch seine letzten Worte an mich. Worte, die sich mir eingeprägt hatten, obwohl ich sie mit einer Handbewegung wegwischte, vorgab, ihnen keine Beachtung zu schenken. Dass er meinen Besuch nicht wünsche, sagte er zu mir, dass wir uns nichts zu sagen hätten. Er lag sterbenskrank im Spital, grau im Gesicht, Augen, die den Tod ahnten. Seine Stimme war von der Schwäche des Körpers gefärbt, die Worte jedoch klar und deutlich. Ich schaute aus dem Fenster. Vor dem Spitalgebäude waren mehrere Bagger dabei, eine riesige Grube auszuheben. Unglaublich, dass in der heutigen Zeit noch ein Spital gebaut wird, 16
sagte ich ins Zimmer hinein und alles, was ich in diesem Moment spürte, war Unverständnis über die Zerstörung einer Grünfläche, darüber, dass hier gebaut wurde, was andernorts von Schliessung bedroht war. Sein Blick war auf die dem Bett gegenüberliegende Wand gerichtet. Kurz danach verabschiedete ich mich. Alles Gute, sagte ich und verliess rasch das Gebäude. Als ich zu meinem Auto kam, steckte ein Bussenzettel unter dem Scheibenwischer. Ich zerriss ihn in kleine Schnipsel und warf sie ins Blumenbeet. Dabei dachte ich, dass mein Vater das niemals getan hätte. Schlamperei, Fehler und laute Worte waren ihm zuwider, sowieso war er der Ansicht, dass mit Worten sparsam und überlegt umzugehen sei. Der Vater war in allen Dingen sorgfältig und korrekt. Was beschädigt oder nicht mehr funktionstüchtig war, wurde von ihm repariert. Er besass Werkzeuge, Schrauben und Nägel, Pinsel und Dosen mit Farben und Lacken, säuberlich sortiert und in Schubladen und Regalen aufbewahrt. Er reparierte unsere Fahrräder, lackierte Fensterläden und Möbel, reinigte den Rasenmäher und renkte die zerbrochenen Schultergelenke unserer Puppen ein. Oft war er in seinem Büro mit dem Schreiben von Briefen, Sitzungseinladungen und Protokollen beschäftigt. In einem Regal aus lackiertem Holz, das der Grossvater geschreinert hatte, bewahrte er seine Briefmarkenalben auf. Als Kind schaute ich ihm manchmal zu, wenn er Marken mit der Lupe betrachtete, mit der Pinzette fasste und in die Pergaminstreifen schob. Er sammelte Österreicher. Ich hörte dem leisen Rascheln der Pergaminseiten zu, in meiner Nase der Bürogeruch, der mir in Erinnerung geblieben ist, eine Mischung aus Möbelpolitur, Papier und Schreibunterlage. Der Vater arbeitete konzentriert, und wie er über die Briefmarken gebeugt an seinem Pult sass, sah ich in seinem Gesicht eine seltene Zärtlichkeit. In einer Schale mit warmem Wasser schwammen aus Briefen ausgeschnittene Marken. Diese löste er von den Um17
schlägen ab, und wenn sie trocken waren, kamen sie in eine leere Pralinéschachtel. Die Schachtel war hellblau, und im Gegensatz zur Mutter mochte der Vater Pralinés. Für den Blindenverein, sagte er. Ich verstand nicht, was Blinde mit gestempelten Briefmarken anfangen könnten. Fragen wollte ich ihn nicht. Ich dachte, meine Worte würden zerstören, was ich in seinem Gesicht sehen konnte.
1983, Lena Die Mutter sagt, dass sie es schon nicht einfach habe mit dem Vater. Niemals würde sie sich beklagen, doch andere Frauen hätten ein einfacheres Leben. Ich kenne nicht viele andere Frauen. Ein paar Nachbarinnen und die Mütter meiner Schulkolleginnen. Manchmal sehe ich sie im Garten arbeiten oder die Wäsche nach draussen hängen. Einmal war ich im Haus eines Mädchens und sah, wie seine Mutter in der Küche sass und rauchte. Auf dem Tisch lag ein Heft mit einem Kreuzworträtsel und dem Fernsehprogramm, und ich zog den Zigarettenrauch in meine Nase. Der Vater war im Garten und mähte den Rasen. Ich stellte mir vor, dass ich später auch rauchen würde. In einer Hand würde ich die Zigarette halten und mit der anderen meinem Kind über den Kopf streichen. Das Kind würde lachen und glücklich sein. Meine Schwester ist überzeugt davon, dass der Mutter keine Arbeit zu viel ist. Sie kann sogar ein Haus bauen, wenn sie will, sagt die Schwester. Dass es keinen Menschen gibt, der allein ein Haus baut, sage ich. Doch, sicher, sagt sie und starrt mich an. Ich zähle auf, was die Mutter wirklich gemacht hat: Betonplatten und Bierharasse geschleppt, Rasen gesät und Bäume gepflanzt. Und der Vater hat die Wände gemalt, sagt die Schwester. Dabei streicht sie mit der Hand über die graugesprenkelte Zim18
merwand und singt ein Lied von einer Kuh. Die Schwester sieht genauso aus wie der Vater. Er denkt das wohl auch. Er nennt sie sein kleines Mädchen, und sie gehen zusammen spazieren. Sie hat einen gestrickten Esel unter dem Arm, und sie sind ein sonderbares Paar. Langsam und klein, mit dicken schwarzen Haaren und gebräunter Haut. Der Esel hat ein Loch im Bauch, aus dem kleine Schaumstoffwürfel herausfallen. Dass ich anders aussehe. Dass ich weder dem Vater noch den Geschwistern gleiche, darüber reden sie immer wieder. An einem Familienfest sagt eine Tante, das Gesicht, ja, das Gesicht könnte schon passen. Aber die Haare, weshalb braune Haare? Seht ihr nicht, dass sie der Bertha wie aus dem Gesicht geschnitten ist?, sagt meine Mutter. Bertha ist schon lange tot. Sie war meine Grosstante, die Schwester meines Grossvaters. Der Grossvater nickt und streicht mit der Hand über seine Krawatte. Sein Gesicht ist rot, und die Glatze glänzt. Alle lachen, als sie von der Bertha reden. Ich weiss nicht recht, wie sie ausgesehen hat. Aber bestimmt will ich nicht wie eine alte Tante aussehen. Ich sehe zum Fenster hinaus auf die Strasse. Das Lachen ist nicht laut und drängt sich dennoch in meinen Kopf. Es ist ein Lachen, das die Gesichter der Verwandten bewegt. Es zieht sich von ihren Augen über die Wangen und bringt die Mundwinkel zum Zucken. Die Tante Bertha war Klosterfrau, und ich habe nur ein Foto von ihr gesehen. Sie trug eine Haube, die wie ein dicker Vogel auf ihrem Kopf hockte, und das Gesicht darunter war halb verborgen. Das Kloster verliess sie dann wieder, und später arbeitete sie als Köchin bei einer reichen Familie. Eine Schönheit war sie nicht, sagt der Grossvater, aber kochen konnte sie. Wie der Grossvater weiss auch der Vater, was schön ist und was richtig. Die Fehler springen ihn an, ob er will oder nicht. In jeder Zeitung und in jedem Brief entdeckt er Fehler und kann ihnen nicht ausweichen. Die Grossmutter sagt nichts. Ihr Blick geht durch mich hin19
durch, wie ein Pfeil, der hinter mir in der weissen Täferwand steckenbleiben würde. Der Grossvater hüstelt und zeigt auf mich, das Kind hat einen Judenkiefer, sagt er. Dabei schaut er die Grossmutter an. In diesem Moment kommt das Dessert, das sich der Grossvater zum Geburtstag gewünscht hat. Eine Torte mit braunen und weissen Schichten und einer dicken Schlagrahmdecke. Der Grossvater lächelt, und seine Augen blitzen hinter den Brillengläsern. Die Grossmutter bleibt stumm, und ihre Augen sind wie die Knöpfe an einem Anzug. Ich mag keine Torte, und von Schlagrahm wird mir schlecht. Das Wort des Grossvaters habe ich zuvor nie gehört, und nun tanzt es in meinem Kopf.
Lena Ich schliesse meine Jacke und ziehe mir die Handschuhe an. Um die Namen zu lesen, muss ich näher rangehen. Dabei rutsche ich auf dem festgefrorenen Schneeschmutz aus, fast falle ich, kann mich im letzten Moment noch festhalten. Das Gemeinschaftsgrab, es ist nicht zu erschüttern und gewohnt, Lasten aufzufangen. Es ist kein Grab, wie ich es mir vorgestellt habe, sondern ein schmaler Tisch aus Eisen, auf dem eine lange Buchreihe steht. Die Bücher sind unterschiedlich dick und hoch. Ich fahre mit dem Finger der Reihe entlang, um die Grossmutter zu suchen. Anna Knechtle-Sagstetter steht auf dem Buchrücken und daneben die Jahreszahlen ihres Lebens. Kein anderer hat so lange gelebt, ich gehe die Reihe zwei Mal durch, sie ist tatsächlich die Älteste. Ihr Buch auf diesem Gedenktisch ist eines der kleineren, es ist schmal und weniger hoch als die meisten anderen. Erstaunlich, denke ich, und ob es nicht anders sein müsste. Ob nicht, wer ein besonders langes Leben bewältigte, ein dicke20
res Buch verdient hätte. Ich denke an die Grossmutter, sehe sie vor dem Küchenbuffet stehen und Kaffeebohnen mahlen. Hinter ihr hängt ein Kalender, den sie in der Drogerie erhalten hat. Auf dem Titelblatt die Ansicht einer Wiese mit Alpenblumen vor einer schneebedeckten Bergspitze. Es war ihr genug, das Bild anzusehen, mehr brauchte sie nicht. Sie war zufrieden mit Bildern von Tieren und Blumen, mit einem Kaffee, mit dem täglichen Spaziergang.
Anna Ganz bestimmt wird der Bub im Winter wieder auf den Skiern stehen. Wenn sie mit dem Säumen der Nastücher fertig ist, wird sie sich an die Nähmaschine setzen. Für den Stoff hat sie lange gespart. Ein dicker Wollstoff und doch ist er fein. Wenn sie mit der Hand darüberstreicht, kratzt er nicht. Er wird sich über die Hose freuen, eine mit langen Beinen, eine, wie er sie noch nie getragen hat, eine wie gemacht für die Wintertage. Dass heute Frau Schneider gefragt hat, wie es dem Buben gehe und ob er bald nach Hause könne. Ihr Blick hatte etwas Gieriges und wollte sie verschlingen. Anna hatte kurz den Kopf geschüttelt und war rasch weitergegangen. Der Bub, er lacht, es ist in ihrem Kopf, und es sind seine braunen Augen und die starken Beine. Weiss Frau Schneider nicht, dass der Bub mit den Skiern von der Neppenegg heruntergesaust ist, in einer Wolke aus Schneegestöber? Hat sie nicht sein Lachen gesehen, das Zischen gehört, als er mit seinen Skiern vor seinen Kollegen stehenblieb? Das Johlen der anderen Buben, die Bravorufe. Hat sie die Medaille nicht gesehen, die danach um seinen Hals gehangen hat? Sie muss sie doch gesehen haben, sie war dort, ihr Werner war kurz nach dem Buben ins Ziel gekommen. Weshalb fragt sie nach ihm, weshalb dieser Blick, dieser 21
Blick, den sie kennt, dieser Blick, der sich in ihre Haut bohrt, es ist derselbe, mit dem sie die Leute in Appenzell angeschaut haben, damals, als sie zum ersten Mal in der Metzgerei helfen musste. Noch immer kann sie die feuchten Hände des Metzgers spüren, sie waren auf ihrer Haut und in ihr und in ihrem Kopf. Vor allem waren sie in ihrem Kopf. Er kommt aus der Räucherkammer hinter die Theke. Sie ist allein dort, es ist das erste Mal, und sie hat gut achtgegeben, dass sie die Wurstscheiben gleichmässig schneidet und ins Papier wickelt. Sie denkt, dass er zufrieden ist mit ihrer Arbeit. Eine will ein Pfund Leber vom Schwein. Sie hat in die Schale gegriffen und ihre Hand nicht angeschaut. Nicht das Blut, das auf ihrer blassen Haut zurückbleibt. Sie hat nicht hingesehen, auch beim Einpacken nicht, und als ihr die Kundin das Geld entgegenstreckt, klebt das Blut an den Silberstücken. Er schaut sie an, und sie weiss nicht, was es ist, das sie in seinen braunen Augen sehen kann. Sie weiss es nicht, aber sie hat es schon einmal gesehen. Sie will nicht daran denken, sie hält ihre Hände unter den Wasserhahn. Das Blut muss weg, sie ist keine Mörderin, nur Mörder haben Blut an den Händen. Er sagt etwas. Sie kann ihn kaum verstehen, die Worte sind eng und schmal, und die Augen lenken sie ab. Er löst das Band ihrer Schürze. Er schiebt sie nach hinten, da, wo der Gehilfe die Abfälle in grosse Blecheimer wirft. Er schickt ihn weg. Der Gehilfe lacht, er ist es gewohnt, weggeschickt zu werden. Sie will von ihm weg, sie sagt, dass sie die Messer waschen muss und das Kind, das Kind braucht seinen Brei. Es ist ein Mädchen, und wer in seine Augen schaut, sieht den Metzger darin. Ich muss ins Haus, sagt sie, doch seine Hände halten sie fester, sei still. Sein Atem ist warm in ihrem Gesicht, und der Geruch nach Blut und Fleisch macht sie schwindlig. Er drückt sie auf den Boden, er hebt den Stoff ihres Rocks, er schiebt seine Hand darunter. Die Kälte des Bodens schmerzt in ihrem Rücken. Er ist der Chef, sie die Magd, die aus dem Ausland. 22
Sie schliesst die Augen. Ist das Kind, das den Schrei der Mutter hört. Das den Mann aus der Kammer kommen sieht, das sieht, wie er die Hose schliesst. Anna denkt daran und versteht. Mutter, und es ist eine Wärme in ihr, die weh tut. Und dass es aufhören muss. Die glänzende Klinge des Messers, wie sie seine behaarte Haut durchdringen würde, das Fleisch bis zu den Knochen. Es ist ihr Schrei, und sie hat seine Stimme. Seine Hand drückt schwer auf ihren Mund. Später denkt sie, dass es nichts mit ihr zu tun hat. Es braucht viel Wasser, um die Träume zu verscheuchen und die Hände des Metzgers. Beim Nachtessen schaut die Metzgersfrau in ihr Gesicht. Sie hat die Haare streng nach hinten gekämmt, und ihre dicken Wangen sind gerötet. Die Augen sind wie die einer Maus, klein und glänzend, sie sind Nadelköpfe, und sie heften sich an ihr fest. In Anna steigt Übelkeit hoch, sie steigt bis zu den Lippen, rasch die Hand vor den Mund, sie rennt hinaus. Draussen im kalten Abort würgt sie. Gelb und bitter ist das Flüssige, das in den Schüttstein tropft. Die Metzgerin ruft, Anna, ruft sie, Anna, bring das Kind ins Bett. Das Kind ist zwei Jahre alt, wenn es lacht, sind seine Wangen so rund wie die seiner Mutter. Wenn Anna ihm Geschichten erzählt, staunen seine blauen Augen, und sie denkt an ihre Schwestern, deren Augen dunkel sind. Sie alle haben diese dunklen Augen, schwarz wie die Nacht. Die Nacht ist der einzige Ort, an dem sie sich geborgen fühlt. Das Dunkel, das alles verschlingt. Die Menschen und die Angst, vor allem die Angst und die Wut, die in ihr ist. Alles verschwindet in der Nacht. Dr. W. teilt mit, dass er über Verhaltungsmassregeln betr. Schul schliessung bei Kinderlähmungsfällen angefragt worden sei. Da in Speicher nur erwachsene Personen schwere Erkrankungen aufwie sen, habe man von der Schliessung der Schule abgesehen. Es wäre richtiger gewesen, den Jahrmarkt nicht durchzuführen. Ueber das 23
Verhalten bei Kinderlähmung bestehen keine Vorschriften. Man habe auf Grund der wissenschaftlichen Erkenntnis vorzugehen. Ver fügungen seien keine getroffen worden; es habe lediglich eine Bera tung stattgefunden. Der Vorsitzende dankt Dr. W. für die Orientie rung und seine Mitarbeit in dieser Angelegenheit. Beschluss: Notiz nahme. Sanitätskommission AR (Hrsg.): Protokoll, 23. September 1954, Traktandum 83. Herisau, 1954.
Lena Ich streiche über den schmalen Buchrücken. Meine Hand auf dem kalten Metall, die Finger spüren den Buchstaben und Zahlen nach. Ein schmaler Band, eingezwängt zwischen andere, was sie verbindet ist die Endgültigkeit. Zum Atmen bleibt kein Raum, kein Raum zwischen den Erinnerungen, kein Raum, sich zu entfalten. Meine Grossmutter, «Anna», sage ich leise und nochmals, «Anna». Diesmal so laut, dass eine Frau in einem grauen Regenmantel zu mir herübersieht. Sie steht bei einem Holzkreuz, vor dem ein Kranz aus Rosen liegt. Die Frau hat ein müdes Gesicht. Ob auch Anna müde war, erschöpft vom langen Leben, verzweifelt und dem Aufgeben nah? Ich denke an das Foto, das im Album meiner Eltern zwischen Aufnahmen von Tanten und Onkeln des Vaters klebt. Anna als junges Mädchen mit lachendem Gesicht, dem man die Erfüllung all seiner Wünsche gönnen möchte. Damals war sie etwa vierzehn Jahre alt, die Schule hatte sie bereits verlassen. Ich würde gern meinen Arm um ihre Schulter legen, sie beschützen. Anna, das Mädchen, das inmitten von Krieg, Hunger und Spanischer Grippe aufwuchs und deren Enkelin ich bin. Die Frau im Regenmantel schaut noch immer zu mir herüber. «Ich habe Sie noch nie hier gesehen», sagt sie und dass sie sich lieber verbrennen lassen würde, als wie ihr Mann unter der 24
kalten Erde zu liegen. Dabei zeigt sie auf den Kranz. Die graue Farbe des Mantels liegt auch auf ihrem Gesicht, und es tut mir leid, dass sie ihren Mann verloren hat. «Der Kranz ist wunderschön», sage ich und dass ich mir vorstellen kann, dass es schwer ist, einen geliebten Menschen zu verlieren. Dabei denke ich an die beiden Menschen, deren Tod mich betroffen machen müsste. Der Mantel der Grossmutter fällt mir ein und meine Hand in ihrer Tasche auf der Suche nach einem Hustenbonbon. Es tut mir leid, dass sie nun an diesem Ort der letzten Ruhe dem Wetter ausgesetzt ist. Der Friedhof liegt im Schatten der Kirche an einem abfallenden Hang mit Blick gegen Norden. Links anschliessend das Haus, in dem sie einmal gewohnt hat, der Vater war noch ein Baby. Auf einem Foto steht der Grossvater neben der Treppe, auf dem Arm trägt er seinen Sohn. Neben ihm ein kleines Mädchen, das eine Blume in der Hand hält und lacht. «Wissen Sie, wer in diesem Haus wohnt?», frage ich die Frau und zeige mit der Hand zum Haus, das ein paar Meter vom Friedhof entfernt steht. Ich könnte hingehen, an der Türe klingeln, sagen, dass ich auf der Suche sei und gern das Haus ansehen würde. Auf der Suche nach was, denke ich und dass ich es nicht weiss. Ob man nach etwas suchen kann, ohne zu wissen, was das sein könnte? Ob die Sehnsucht ein Ziel findet? Die Frau hält ihre Fingerspitzen in ein Weihwassergeschirr und bekreuzigt sich. Nein, sie kenne diese Leute nicht, es sei eine Familie, zumindest eine Frau mit Kindern. «Ob auch ein Vater da ist, kann ich nicht sagen. Das ist ja heutzutage alles so kompliziert», sagt sie. Ich bedanke mich, wünsche ihr alles Gute, was könnte ich sonst sagen, und verlasse den Friedhof. Ich gehe weiter am Brunnen vorbei, Bürgerbrunnen ist in den Stein gemeisselt. Erbaut wurde er 1970, ein Jahr vor meiner Geburt also. Ich höre Kinderlachen und stelle mir Wasserspritzer auf erhitzter Sommerhaut vor. Es ist ein grosser Brunnentrog, der mir als Kind vorkam wie ein Schwimmbecken. Weiter gehe 25
ich auf dem Kiesweg, der am Spielplatz vorbeiführt. Ich staune, es sind die Wege meiner Kindheitsferien, dieselben Bäume, es sind Buchen, und ich spüre zwischen meinen Fingern die Schale der kleinen Nüsse, die sich an einer Kante aufdrücken lassen. Ich rieche Sonne auf warmer Haut und essigsaure Tonerdesalbe, die mir die Grossmutter auf die Fusssohle auftrug. Der Fuss war nach einem Wespenstich dick angeschwollen, und der mit Klarsichtfolie umwickelte Salbenverband knisterte bei jedem Schritt.
1983, Lena Ich höre die Grossmutter unten umhergehen. Rasch, sage ich zu meiner Schwester, sie kommt. Doch das Knarren des Dielenbodens wird leiser, und meine Schwester lacht, Angsthase, höre ich sie sagen. Sie steckt in der Dachschräge hinter dem Schrank und der Kommode fest. Ich ziehe sie heraus, sie schimpft ein wenig. Du hast an meinen Haaren gerissen, sagt sie. In ihre schwarzen Locken haben sich Staubfäden gelegt. Erst ziehe ich an den Locken, dann an den Schultern. Als sie endlich mit einem staubigen Grinsen neben mir steht, zeigt sie triumphierend auf das Ding, das vor ihren Füssen liegt. Lachsfarben und unförmig, wie eine Schale. Oder wie ein toter Fisch vielleicht. Einen Wal stelle ich mir so vor. An den Seiten sind Stoffbänder angemacht. Du bist die Ältere, sagt meine Schwester, du musst wissen, was das ist. Ich muss nachdenken. Ich setze mich auf die Kommode neben das Puppenhaus und höre dem Regen zu. Er prasselt aufs Dachfenster. Die Schwester setzt sich auf die Schaukel, die an einem Dachbalken befestigt ist. Der Haken, an den wir das Ding gehängt haben, ist eigentlich nur ein langer Nagel. Der Mantel, der daran hängt, ist aus dunkler Wolle und gehört dem Grossvater. Das Puppenhaus ist von der Tante. Als sie gross geworden ist, ist es zurückgeblie26