Erinnern, Vergessen und das Archivieren
Stefan Gemperli
Das Gedächtnis: Philosophisches und Naturwissenschaftliches
Werfen wir zwei Schlaglichter auf das menschliche Gedächtnis, ein philosophisches und ein naturwissenschaftliches:
Bereits der Kirchenvater Augustinus (353–430), Bischof von Hippo, beschäftigt sich intensiv mit dem menschlichen Gedächtnis. Im zehnten Buch seiner «Bekenntnisse» («Confessiones») formuliert er eine Memoria-Lehre. Augustinus' Überlegungen stellen ein Novum in der abendländischen Geistesgeschichte dar. Einleitend heisst es in Paragraph 12: «Und so gelange ich in die Gefilde und weiten Hallen des Gedächtnisses, wo die Schätze ungezählter Bilder sich häufen, die mir die Sinne von vielfältigen Dingen zusammentrugen. Dort lagert […] alles sonst Geborgene und Verwahrte, das vom Vergessen noch nicht aufgezehrt und begraben ist. Wenn ich hier weile, verlange ich nur, dass mir das Gewünschte gebracht wird, und manches kommt dann sogleich zum Vorschein, anderes muss länger gesucht und gleichsam aus geheimeren Verliesen heraufge-
holt werden, manches stürzt haufenweise hervor, während man etwas anderes begehrt und sucht, und drängt sich vor, als wolle es sagen: ‹Sind wir es vielleicht?› […]». Diesem Abschnitt lässt Augustinus Reflexionen folgen, in denen er sich zur Rolle des Gedächtnisses für das Lernen beschäftigt. Er vergleicht das Erinnerungsvermögen mit dem Magen, in dem Speisen, quasi sinnlich neutralisiert, verwahrt sind – bereit für ein allfälliges Wiederkäuen. Auch mit dem Gegenpart des Gedächtnisses, dem Vergessen, befasst sich Augustinus. Er erkennt: Erinnern und Vergessen gehören wesentlich zusammen. Das Gedächtnis und sein Geheimnis sind für ihn jedenfalls etwas Erhabenes. In Paragraph 26 schreibt er voller Begeisterung: «Gross ist die Macht des Gedächtnisses, es ist […] etwas Schaudererregendes in seiner unendlich tiefen Vielfalt. […] So gewaltig ist das Gedächtnis, so gewaltig die Lebenskraft des sterblich lebenden Menschen!»1
Dieses Zusammengehören von Erinnern und Vergessen als den beiden Seiten der gleichen Medaille erklärt der bekannte Gedächtnisforscher Martin Korte in einem populärwissenschaftlichen Artikel folgendermassen:2 Gehirne
Schönes behalten wir gerne in Erinnerung. Weltausstellung in Paris 1900. Erinnerungspostkarte mit Chalet. Staatsarchiv St. Gallen W 238/08.11-03.
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1 Dieser Abschnitt inklusive der verwendeten Augustinus-Zitate aus den «Bekenntnissen» basieren auf: Christof Müller, Die augustinische «memoria».
2 Erschienen in Forschung & Lehre, 7/21.
sind «notwendigerweise» darauf programmiert, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Das Filtern der Informationen, das Vergessen, sorgt quasi für ihre Funktionstüchtigkeit. Korte berichtet vom bekannten Fall von Solomon Schereschewski (1886–1958), einem russischen Gedächtniskünstler und Journalisten. Schereschewski konnte, salopp formuliert, nicht von selbst vergessen. Wollte er es, musste er die gleiche Kraftanstrengung aufbringen, die Menschen üblicherweise benötigen, wenn sie sich erinnern möchten. Das ausserordentliche Gedächtnis, um das man Schereschweski zunächst beneidet, bedeutete für ihn teilweise geradezu einen Fluch: Grundgedanken zu abstrakten Begriffen zu vereinen oder komplexe Zusammenhänge zu erfassen, stellten für ihn Probleme dar. «Sein Verstand konnte einfach nicht auf abstrakter Ebene funktionieren, weil er von unwichtigen Details seiner Erfahrungen überschwemmt wurde, von Details, denen am besten der Zutritt ins System versagt geblieben wäre.»3 Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel, Uninova, Ausgabe Mai 2021, stellt die Arbeit des Basler Neurowissenschaftlers Andreas Papassotiropoulos vor: Etwa 60 Menschen weltweit würden unter dem sogenannten Highly superior autobiographical memory (HSM) leiden. Vereinfacht kann man sagen, dass bei diesen Menschen das Gehirn Eindrücke und Erlebnisse nicht löscht, was bei einigen Betroffenen psychiatrische Probleme auslöst. Papassotiropoulos forscht mit anderen nach den genetischen Grundlagen dieser seltenen Veranlagung.
Dokumente – materialisierte Gedanken
Geschichte zu ergründen, heisst, sich mit authentischen Informationen aus der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Andernfalls bleibt es bei historischer Spekulation. Aber sogar dafür ist ein Minimum an beglaubigter Überlieferung nützlich, an der sich Hypothesen emporranken können. Um einen aktuellen Vergleich zu bemühen: Fakenews kommen, wollen sie einigermassen überzeugen, ohne ein Quäntchen an Fakten selten aus.
(Original-)Dokumente sind wesentliche Träger historischer Informationen. Das gilt für Europa besonders seit dem Mittelalter. Eine Beweis- und Begründungskultur benötigt schriftliche Belege, die Begebenheiten, menschliche Ideen oder Handlungen, insbesondere auch «Agreements», nachvollziehbar und verlässlich aufzeichnen und verfügbar halten. Für den Staat und andere auf Dauer angelegte Organisationen, etwa Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder grosse Wirtschaftsunternehmen, ist eine ge-
ordnete Aktenführung dementsprechend unverzichtbar. Solche Gebilde sind es denn auch, die bedeutende Mengen an Schriftgut erzeugen. Nun wächst einerseits die schiere Masse an (staatlichen) Dokumenten stetig, andererseits nimmt ihr Variantenreichtum in Bezug auf das verwendete Material oder die formale Gestalt zu. Letzteres gilt heute mit Einschränkungen, denn die modernen Verwaltungen begrenzen in ihrem Bestreben um Standardisierung der Aktenführung die Kreativität ihrer Mitarbeitenden. Das ist besonders dann der Fall, wenn Dokumente mit digitalen Mitteln erzeugt werden.
Selbstverständlich sind Dokumente, zu denen zum Beispiel auch Fotos, Filme, Tondokumente oder «digitale Unterlagen» zählen, nicht die alleinigen Informationsquellen aus der Vergangenheit. Der enorme historische Zeugniswert von archäologischen, bildnerischen oder architektonischen Hinterlassenschaften ist nicht zu bestreiten. Und natürlich ist das in Bibliotheken gehütete Erbe an publiziertem Schrifttum, das ich in diesem Beitrag nicht unter
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3 Der Mann, der nicht vergessen konnte, in: Tagesspiegel, 30.12.2002.
An Lustiges wollen wir uns lange erinnern. Adolf Wismer. Erinnerung an den Weihnachtsball 1941. Karikatur. Staatsarchiv St. Gallen W 130/Seite 135.
den Begriff «Dokument» subsumiere, für die Auseinandersetzung mit der Geschichte gleichfalls unverzichtbar. Und doch sind, was die Unmittelbarkeit der Überlieferung angeht, jene schriftlichen Zeugnisse, die in der Bearbeitung oder Bewältigung privater oder staatlicher (Alltags-)Vorfälle quasi nebenbei geschaffen wurden, einmalig.
Das Archiv als Gedächtnisort, als «Aula Memoriae»
Gedanken sind flüchtig. Das gilt «cum grano salis» ebenfalls für auf Papier oder auf anderen Trägermaterialien festgehaltene Gedanken. Der Stoff, aus dem sie bestehen, ist wenig robust. Pergament, Papier, Glas (alte Fotografien), Tinte, Bleistift, Zelluloid oder Bytes sind ständig von Zerfall bedroht. Der Zahn der Zeit nagt einerseits fast unmerklich, doch anhaltend an den Trägermaterialien. Andererseits machen sich manchmal besonders zerstörerische Übeltäter über sie her, um sie rasch stark zu beschädigen oder gar ganz zu vernichten. Dabei kann es sich zum Beispiel um Elementarereignisse, gedankenlose, diebische oder kriegerische Menschen, schädliche Pilze oder gefrässiges Ungeziefer handeln.
Der Flüchtigkeit von Gedanken begegnet die Natur durch ein funktionstüchtiges, trainiertes und möglichst langlebiges Gedächtnis. Für die Gedanken in Form von Einzeldokumenten oder Akten, das Kollektiv aller zu einem Geschäft gehörenden Dokumente, gilt Vergleichbares. Die Rolle des funktionierenden Gedächtnisses übernimmt im Organisationskörper eine beständige, zuverlässige Einrichtung, die einerseits zur zeitlich unbefristeten und fachgemässen Bewahrung und andererseits zur Vermittlung der Dokumente gegenüber Dritten befähigt ist: das Archiv.
Die Metapher, ein Archiv sei das Gedächtnis seines Sprengels, also seines Wirkungsbereichs, ist gleichermassen populär wie zutreffend. Hat nicht jeder Archivar und jede Archivarin unwillkürlich die eigene Institution vor Augen, wenn der heilige Augustinus von den weiten Hallen, der Aula Memoriae, schreibt, wo viele Schätze gelagert werden, wo man danach verlange, dass einem das Gewünschte aus den geheimeren Verliesen gebracht, und man zuweilen mit unerwarteter Information überschwemmt werde? Viele Forschende, die ein Archiv wenigstens einmal intensiv genutzt haben, werden sich ebenfalls an diese Einrichtung erinnert fühlen. Freilich hat die Metapher Grenzen. Auch andere Vergleiche können das Archiv und seine Funktionen bildlich näherbringen. So kam im Staatsarchiv des Kantons Zürich rund um den Erweiterungsbau 2, eröffnet im Jahr 2019, der Begriff «Festplatte» zu Ehren. Der Autor dieses Beitrags hat das Bild der Festplatte in den letzten drei Jahren öfters verwendet, um Aussenstehenden die Rolle eines modernen Staatsarchivs verständlich zu machen.
Allerdings dürfte der Vergleich mit einer Festplatte angesichts der rasanten Entwicklungen der Informationstechnologie (IT) nicht besonders langlebig sein und vielleicht schon bald wieder in Vergessenheit geraten. Der Begriff Gedächtnis erweist sich indessen als solide.
Nicht unbedingt zur Freude von Archivarinnen und Archivaren werden Einrichtungen oder Funktionalitäten, in denen Unterlagen während längerer Zeit, letztlich aber doch befristet, abgelegt werden, umgangssprachlich «Archiv» genannt. Das gilt namentlich im Bereich der IT. Sogenannte Archivfunktionen begegnen uns dort häufig. Doch sogar für solches böte die Metapher Gedächtnis eine passende Lösung. Derartige Einrichtungen oder Funktionalitäten liessen sich treffend Kurzzeitgedächtnisse nennen.
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Franz Vettiger. Der heilige Augustinus (links, stehend). Entwurf für Wandgemälde, Kloster Ingenbohl 1883. Staatsarchiv St. Gallen ZOA 001/6.071.
Die teilweise oder vollkommene Auslöschung des Gedächtnisses beeinträchtigt die Gesundheit einer natürlichen Person massiv. Schlimmstenfalls steckt dahinter böse Absicht. Oft geht es allerdings nicht darum, Erinnerung physisch zu zerstören, sondern darum, sich in den Besitz der Gedanken eines Gegners zu bringen. Vergleichbare Motive führen seit Urzeiten zur bewussten Destruktion, zum Raub oder Diebstahl von Archivgut – vornehmlich im Krieg. Ein risikobewusster Archivbesitzer bemüht sich deshalb um Massnahmen, die solche Katastrophen möglichst verhindern helfen. Leidvolle Erfahrungen führten etwa den Fürstabt von St. Gallen dazu, sein wertvolles Archiv quasi permanent reisefertig in Fluchtkisten aufzubewahren. In der Schweiz zählen heute wichtige staatliche Archive zur besonders schützenswerten Infrastruktur des Landes. Sie sind angesichts ihrer Grössenverhältnisse freilich kaum noch mobil, weshalb der Schutz primär die bauliche Sicherheit fokussiert. Aus diesem Grund magazinieren Schweizer Staatsarchive die Gesamtheit oder wesentliche Teile ihrer wertvollen Bestände in speziellen Kulturgüterschutzräumen.
Ähnlich einem menschlichen Gedächtnis wird ein Archiv in ruhigen Zeiten als Selbstverständlichkeit angesehen, die ohne Weiteres funktionieren soll. Gelegentlich wird das Archiv übersehen, fast schon vergessen. Das ändert sich schlagartig, wenn es, respektive das darin verwahrte Gut, in akute Gefahr gerät. Im September des Jahres 2014 wurde ausgerechnet der als besonders sicher geltende Kulturgüterschutzraum des St. Galler Staatsarchivs von einem Wassereinbruch heimgesucht. Obwohl eine relativ kleine Menge an Archivgut – es handelte sich um ein paar Dutzend laufende Meter – betroffen war, entstanden Folgekosten von beachtlicher Höhe. Das Ereignis rief Politik und Bevölkerung die Bedeutung des Staatsarchivs, die Verletzlichkeit des Archivguts und damit die Notwendigkeit eines angemessenen baulichen Schutzes ins Gedächtnis. So bedauerlich der Vorfall für sich genommen war, er begünstigte das Projekt des neuen Staatsarchivs, dem das Stimmvolk am 15. Mai 2022 deutlich zustimmte, nachdem das Geschäft bereits den parlamentarischen Prozess unbestritten durchlaufen hatte.
George Orwell, das Archiv des Bösen und die Archive der freien Gesellschaften
Wenden wir uns nach der Philosophie und den Naturwissenschaften noch der Literatur zu. George Orwell lässt in seinem Roman «1984» die Hauptfigur Winston Smith im Ministerium für Wahrheit arbeiten. Die mächtige Behör-
de, untergebracht in einem ebenso monumentalen wie abschreckenden Gebäude im heruntergekommenen London, muss die Vergangenheit fortwährend der jeweils aktuellen Politik des Regimes anpassen. Dementsprechend werden alte Dokumente im grossen Stil vernichtet, respektive es wird deren Inhalt passend umgeschrieben. Fakten aus dem kollektiven Gedächtnis zu tilgen und an ihre Stelle «mainstreamgerechte» Unwahrheiten zu platzieren, machen ein Charakteristikum des Unrechtstaats Ozeanien aus. Wer über die Vergangenheit verfügt, sie nach Gutdünken manipulieren kann, der kontrolliert die Gedankenwelt der Menschen. Im Roman löst das Auffinden eines authentischen, eben unverfälschten, Dokuments, das eine der zentralen historischen Narrative Ozeaniens als Lüge entlarvt, bei Smith Entfremdung vom Regime aus – mit schwerwiegenden persönlichen Konsequenzen.
Das Ministerium für Wahrheit kümmert sich, modern gesprochen, um das staatliche Informationsmanagement. Seine Funktionen ähneln deutlich jenen eines Archivs, verkehren sie jedoch letzten Endes ins Gegenteil. Das Ministerium, jedenfalls der Wirkungsbereich der Hauptfigur, fungiert als ein eigentliches Anti-Archiv. Es ist eine ausgesprochene Lügenfabrik im Dienst einer alles kontrollierenden Staatsmacht, die den Menschen jeden Zugang zur (historischen) Wahrheit zu verunmöglichen trachtet. Über allem wacht «Big Brother». Ihm ist bewusst: Authentische Quellen aus der Vergangenheit hätten das Potential, Menschen zu befreien. Deshalb müssen Dokumente unschädlich gemacht werden. In diesem System ist Smith – gezwungenermassen – als eine Art «Unarchivar» tätig.
Selbstverständlich überzeichnet George Orwell. Dessen ungeachtet zielen repressive Systeme tatsächlich darauf ab, der Bevölkerung den Zugang zur authentischen Geschichte ganz oder teilweise vorzuenthalten. Auch vor Fälschungen schrecken sie nicht zurück. Meine Frau erzählte mir, wie ihr im sozialistischen Polen erst spät und unter vorgehaltener Hand die Wahrheit über ein Schlüsselereignis der jüngeren polnischen Geschichte, die massenhafte Ermordung der polnischen Offiziere im Wald von Katyn, offenbart wurde. Die historische Wahrheit stand im Widerspruch zur verordneten Freundschaft mit der Sowjetunion und musste deshalb verheimlicht respektive «umgeschrieben»4 werden.
In einer freien Gesellschaft müssen öffentliche Archive komplett anders handeln (können), als es Ozeaniens Wahrheitsministerium tut. Archive im demokratischen Rechtsstaat sollen Menschen einladen, anstatt sie abzuschrecken. Bestenfalls besitzt schon das Archivgebäude eine gastliche
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4 Man schob die Schuld Nazideutschland in die Schuhe.
Ausstrahlung. Vor allem aber verhalten sich Archivarinnen und Archivare (hoffentlich!) diametral anders als die Mitarbeitenden in Orwells Ministerium. Dem Archivpersonal in Demokratien obliegt die grosse Verantwortung, echte Dokumente zu sichern, in ihrer Echtheit integer und langfristig zu bewahren und sie für eine breite Kundschaft zugänglich zu machen. Deshalb müssen Archive einer raschen und sorgfältigen Erschliessung übernommener Unterlagen Priorität beimessen. Unerschlossenes Archivgut bleibt unzugängliches Archivgut. Die Möglichkeit des Zugangs richtet sich ferner nicht bevorzugt an jene Stellen, welche die Akten erzeugt haben, oder an andere Repräsentanten des Staates. Nein, sie gilt primär den Menschen ausserhalb der staatlichen Organe. Das schliesst ein, dass behördliche Handlungen auf den Prüfstand gestellt und kritisiert werden können. Die Staatskritik wird ganz bewusst in Kauf genommen. Zwar muss insbesondere aus Gründen des Personenschutzes die Zugänglichkeit zu bestimmten Informationen während festgesetzter Fristen eingeschränkt bleiben. Jedoch gelten solche Beschränkungen nicht absolut und schon gar nicht für immer. Die Berufung auf das Amts- oder Berufsgeheimnis und den Datenschutz darf ausserdem nicht dazu verleiten, dass Teile der Staatstätigkeit einer «Überprüfung durch spätere Generationen» generell entzogen bleiben, indem öffentliche Organe bestimmte Unterlagen dem Archiv erst gar nicht anbieten. Im Gesetz über Aktenführung und Archivierung garantiert der Kanton St. Gallen dem zuständigen Archiv ausserdem «expressis verbis» sogar die fachliche Unabhängigkeit, quasi als Brandmauer gegen eine durch Politik oder Verwaltung beeinflusste oder gesteuerte Archivierung.
Es ist gut, dass die Funktion der Archive für den Rechtsstaat und die Demokratie in den letzten Jahrzehnten verstärkt öffentlich herausgestellt worden ist. Der Auftrag der Archive ist heute im Allgemeinen unbestritten. Das Spannungsverhältnis zwischen Sicherung und Zugang einerseits und individuellen oder amtlichen Schutzinteressen andererseits bleibt indessen naturgemäss bestehen. Damit kann die Übernahme von besonders heiklen Akten im Einzelfall hin und wieder doch zur Diskussion stehen. Archive sind deshalb stets aufs Neue gefordert, ihren Dienst für Demokratie und Rechtsstaat verständlich zu erklären und notfalls dafür zu kämpfen. Unverzichtbar bleibt, dass die Menschen wissen, dass ein staatliches Archiv eine öffentliche Einrichtung für alle ist und nicht eine geheimnisumwitterte Institution im Dienst Privilegierter.
Erinnern und Vergessen «organisieren»
Sowohl individuelle als auch kollektive Gedächtnisse müssen vergessen können, um funktionstüchtig zu bleiben. Gerade angesichts der Flut an Daten und Dokumenten wissen moderne staatliche Archive darum. Die in der Be-
wertungsarbeit tätigen Archivarinnen und Archivare organisieren das Sichern und gleichzeitig das geordnete Vernichten von Informationen. Bewerten heisst im Kontext der Archive, aus der Unterlagenfülle der öffentlichen Organe jenen Teil herauszufiltern, der aus rechtlichen, administrativen oder historischen Gründen zeitlich unbeschränkt zu überliefern ist. Das sind nur wenige Prozente der ganzen Unterlagenproduktion. Der grosse Rest darf vergessen gehen oder muss es sogar. Die Idee, das Schriftgut staatlicher Organe und anderer öffentlich-rechtlicher Aktenbildner sei möglichst integral zu übernehmen und zu bewahren, ist sowohl falsch als auch nicht durchführbar. Eine derart unverhältnismässige Praxis würde über kurz oder lang jede Überlieferungsbildung unterlaufen. Angesicht der staatlichen Informationsmengen käme eine Einrichtung wie das Staatsarchiv des Kantons St. Gallen logistisch und finanziell rasch an seine Grenzen. Neue, leere Speicher würden in Kürze überquellen. Die Kosten wüchsen ins Uferlose. Weil die Personalressourcen weitgehend von Arbeiten rund um Ablieferungen absorbiert wären, liessen sich wichtige Bestände – wenn überhaupt – erst lange Zeit nach ihrer Übergabe ans Archiv bearbeiten. Gerade digitale Archivalien, die nur mittels wiederkehrender Migration erhalten werden können, brächte das in existenzielle Gefahr. Kundinnen und Kunden des Archivs bekämen wegen sehr mangelhafter oder fehlender Erschliessung keinen angemessenen Zugang zum Archivgut, oder sie wären durch die Unmengen von unwichtigen Informationen «overnewsed but underinformed». Es ginge ihnen gerade so wie Herrn Schereschewski. Die Politik käme über kurz oder lang nicht umhin, auf solche Missstände zu reagieren, direkt in die Archivarbeit einzugreifen und dem Staatsarchiv beispielsweise jährliche Übernahmequoten vorzuschreiben. Vielleicht ist es übertrieben zu behaupten, dass damit ein erster kleiner Schritt hin zum Ministerium für Wahrheit erfolgen würde. Daher gilt: Archivarinnen und Archivare benötigen die Kompetenz zur Bewertung des Schriftguts, und sie müssen diese Kompetenz beherzt anwenden. Kompetenz meint hier sowohl fachliches Können als auch hoheitlicher Auftrag. Das Gesetz über Aktenführung und Archivierung spricht in Art. 12 dem Staatsarchiv respektive den Gemeindearchiven im Kanton diese Befugnis zu.
Die theoretischen Grundlagen und die praktische Umsetzung der Bewertung lassen sich in diesem Beitrag nicht vertieft behandeln. Für die Theorie sei auf die umfangreiche Fachliteratur hingewiesen. Bewertungsfragen stellen Schwerpunkte der Diskussion innerhalb der internationalen und nationalen Archivcommunity dar. Hinsichtlich der praktischen Umsetzung verweist das Staatsarchiv des Kantons St. Gallen nicht ohne Stolz auf die in den letzten zirka 20 Jahren entwickelten Verfahren zur Bewertung behördlichen Schriftguts. Deutlich mehr als 90 Prozent aller kantonalen Organe respektive ihrer Schriftgutproduktion
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wurden inzwischen detailliert bewertet. Eines der Resultate dieser Arbeiten ist es, dass die gefällten Entscheide hinsichtlich Übernehmen oder Vernichten jeweils begründet werden. Das Staatsarchiv kommuniziert offen, welche Unterlagen es warum «in Erinnerung behält» und welche es «dem Vergessen übergibt». So stellt es seine Arbeit unter das «Gericht» späterer Generationen und behält sogar das bewusst Vergessene soweit nötig in Erinnerung.
Quellen
Gesetz über Aktenführung und Archivierung vom 19.04.2011 (sGS 147.1)
Verordnung über Aktenführung und Archivierung vom 19.03.2019 (sGS 147.11)
Literatur
Jakobs, Angelika. Die Frau, die nie vergisst, in: Uninova, Das Wissenschaftsmagazin der Universität Basel, 137/Mai 2021.
Korte, Michael. Was beim Erinnern in unserem Körper passiert, in: Forschung & Lehre, 7/21.
Müller, Christof. Die augustinische <memoria> als Ort der Vermittlung von Welt, Selbst und Gott. Vortrag im Haus der Begegnungen in Ulm 2003, publiziert auf www.augustinus.de (letzter Zugriff 24. Juni 2022).
Orwell, George. 1984. Diverse Ausgaben sowie Übersetzungen ins Deutsche.
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Kürschnerei und Pelzwarenhandel – Vergessenes Handwerk in der Stadt St. Gallen im 19. und 20. Jahrhundert
Max Lemmenmeier
Ein Kürschner ist ein Handwerker, der Tierfelle zu Pelzbekleidung und anderen Pelzprodukten verarbeitet. Im Ancien Régime gehörten die Kürschner in der Stadt St. Gallen zur Schneiderzunft. Das Kürschnergewerbe und der Pelzwarenhandel erlebten im 19. und 20. Jahrhundert eine wechselvolle Geschichte, bis sie in den 1990er-Jahren endgültig aus der Stadt verschwanden. Der folgende Beitrag beleuchtet diese Geschichte mit ihren Geschäften, ihren Produkten, ihren Kundinnen und Kunden, ihren Werbemethoden und ihren Kritikerinnen und Kritikern.
Die Verarbeitung von Fellen entwickelte sich in den mittelalterlichen Städten zu einem spezialisierten Handwerk. Schon früh schlossen sich die Kürschner in den grossen Kommunen zu Zünften oder Innungen zusammen. Nach ersten Gründungen in Frankreich entstand 1226 eine Zunft in Basel, 1272 in Wien und 1273 in Breslau. In Leipzig, einem wichtigen Messeort für Rauchwarenhandel (von rau/ rauch = zottig, behaart), gehörten 1555 über vierzig Meister der Zunft an. In der Stadt St. Gallen waren die Kürschner Mitglieder der Schneiderzunft und damit am Stadtregiment beteiligt.1
Die Entwicklung der Kürschnerei bis 1850
Im Oktober 1798 verkündete die Helvetische Revolution die Handels- und Gewerbefreiheit und beseitigte zugleich den Zunftzwang.2 Die Zünfte in der Stadt St. Gallen verloren ihre wirtschaftliche und politische Funktion. Die Gewerbe konnten sich fortan im Rahmen der kantonalen Gesetzgebung ungehindert entfalten. Wie sich aus den Adressbüchern der Stadt und den Inseraten aus den Zeitungen entnehmen lässt, gab es in St. Gallen zwei unterschiedliche Gewerbe, die mit Tierfellen ihre Geschäfte tätigten.3 Da waren zum einen die Fellhändler, die wie Michael «Altheer» (1779–?) oder Christian Tobler (1792–?) auch die Metzgerei betrieben.4 Auf der anderen Seite die «Kürsner» oder Kürschner. Zu ihnen gehörte Hans Ulrich Zollikofer, der im Erzäh-
1 Zwiebler, Handwerk, S. 24–30; Ehrenzeller, St. Gallen, S. 68.
2 Ebd., S. 304.
3 Adressbuch 1800, Nr. 397; 1812, S. 40, 44; 1837, Hausnrn. 5, 7, 8, 12, 17; 1844, S. 134; Erzähler, 14.05.1830, Inventar für die Kürschnerwitwe HillerFreudwyler; 12.09.1834, Versteigerung Farbhäuschen der Kürschnergenossenschaft.
ler, dem seit 1806 erscheinenden Organ von Landammann Karl Müller–Friedberg (1755–1836)5, im November 1817 «nach neustem Geschmack» verfertigte Pelerinen (Pelzcapes), Mützen, Schleifen, Handschuhe und Stolas (Schulterkragen) durch «freye Versteigerung» zum Verkauf anbot.6
Die Zahl der Fellhändler, die in erster Linie mit unverarbeiteten Tierfellen und Tierhäuten handelten, blieb während des 19. Jahrhunderts weitgehend konstant. 1901 zählte man drei Fellhandlungen, nur eine weniger als 1812.7 Im Gegensatz dazu stieg die Zahl der Kürschnereien, die sich auf die Herstellung und den Verkauf von fertigen Pelzprodukten spezialisierten: 1812 wurde erst ein Kürschner erwähnt, 1844 bzw. 1861 zählte man in der Stadt sechs bzw. vier Kürschnereien und Pelzwarenhändler.8
Die Arbeit des Kürschners bestand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus vielen nacheinander ablaufenden Prozessen und war äusserst anspruchsvoll. Zu Beginn wurden die Felle eingefettet, dann Fleischseite an Fleischseite in die Trampeltonne geschichtet, wo sie der Geselle durch Herumtreten mit blossen Füssen geschmeidig machte. Danach legte man die Bälge in Salzwasser ein und reinigte sie anschliessend auf der Gerbebank (II.) mit dem Stosseisen (VIII.) von Fett und Fleischresten. Zum Abfleischen der Häute grosser Tiere diente der Rumpelbaum (VII.). Es folgte das Gerben, das Reinigen der Haare von Fett mit dem Wärmstock (V.) und der Läutertonne (IX.), das Fär-
4 Etat Bürgerschaft, S. 8, S. 189.
5 Walther, Mediengeschichte, S. 28.
6 Vgl. Der Erzähler, 15.11.1817.
7 Adressbuch 1812, S. 40; Adressbuch 1901, S. 152.
8 Adressbuch 1844, S. 134; 1861, S. 49.
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«Immer interessiert sich die Frau für den Pelz!»
Die Anzahl der vorzüglich einfachen Werkzeuge des Kürschners. Kupferstich aus P. N. Sprengels Künste und Handwerke in Tabellen, 1782. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Werkzeuge_des_ K%C3%BCrschners,_Sprengel_1782.jpg (letzter Zugriff 27.07.2022).
ben und das Trocknen. Schliesslich wurden die Felle zu geeigneten Pelzen sortiert, mit dem Zuschneidmesser (XII.) zugeschnitten und mit Hilfe von Fingerhut (XI.), Nadel (XII.) und Nahthaken (XX.) zu einer sogenannten Zeile zusammengenäht. Aus den Zeilen entstanden dann die Endprodukte, wobei die Gleichrichtung der Haare, das schöne Muster und das Verstecken der Nähte grosses Geschick erforderten. Die Mützenform (XVIII.) half bei der Verfertigung von Pelzkappen. Muffe9 (XXVI.) und üppige Pelzherrenmäntel, sogenannte Wildschur (XVI.), waren die fertigen Produkte.10
Die ausgebildeten Kürschner betrieben zugleich verschiedene andere Geschäftsfelder, so den Kleider- und Schuhverkauf, die Hutmacherei, den Verkauf von Handtaschen und Gürteln oder das Angebot von Seidenbändern. Ausserdem liessen sich ausgebildete Kürschner aus anderen Regionen in der Stadt nieder, so der aus dem Königreich Hannover stammende und 1836 eingebürgerte Johann Anton Gustav Heylandt (1807–1887)11 oder der aus Pfäffikon ZH zugezogene Jakob Affeltranger. Affeltranger, der am Marktplatz sein Magazin betrieb, empfahl in den 1840erJahren der «Aufmerksamkeit des Publikums» wiederholt sein grosses Angebot, wie «Herren-Pelzröcke in allen Prei-
9 Muff = (meist von Frauen getragene) längliche Hülle aus Pelz, in die man zum Schutz vor Kälte die Hände von links und rechts hineinsteckt.
10 Zum Arbeitsprozess: Werkzeuge des Kürschners: Pierer’s Universal–Lexikon, Band 9. Altenburg 1860, S. 922–923, vgl. http://www.zeno. org/Pierer-1857/A/K%C3%BCrschner+%5B1%5D. Zu den Werkzeugen: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Werkzeuge_des_K%C3%BCrschners, _Sprengel_1782_(Original).jpg, (letzter Zugriff 27.07.2022).
11 Bürgerbuch 1877, S. 134.
12 St. Galler Zeitung, 15.10.1842; 19.10.1842; 20.05.1843; 23.12.1843; Der Wahrheitsfreund, 13.01.1843.
sen» (…), «moderne Frauenzimmerkrägle und Shawls mit Pelz gefüttert» und «Boa’s von 5 bis 20 fl.» (Gulden). Zugleich verkaufte er Bruchbänder, Pelerinen, Hosenträger, Fussteppiche, Fusskörbe, Pelzstiefel und Pelzschuhe.12
Verarbeitet wurden in erster Linie Felle von Rotfüchsen, Iltissen, Luchsen, Mardern und Dachsen aus der heimischen Jagd. Seit 1802 fand jährlich am Donnerstag nach Lichtmess (2. Februar) der Pelzfellmarkt in Altstätten statt, an dem sich Händler und Kürschner mit dem nötigen Material versahen.13 Die Verarbeitung der Pelze in den kleinen Handwerksbetrieben war äusserst zeitintensiv und die zum Verkauf angebotenen Artikel wurden dementsprechend teuer.14
An der Struktur und der Arbeitsweise der Kürschnereien änderte sich bis zur Jahrhundertmitte wenig. Regelmässig fanden sich in den Zeitungen Angebote für Kürschnerlehren, regelmässig suchten städtische Kürschner über Inserate Verkäufer von Tierfellen und ebenso regelmässig boten sie ihre Produkte in ihren «Magazinen» (Läden) oder am Frühjahrs- und Herbstmarkt feil. An den Märkten waren auch immer wieder Pelzwarenhändler aus anderen Regionen und Städten zugegen, die ihre «weissen und farbigen Futterfelle» oder ihre nach «neuestem Geschmack» gefertigten «Sommermodekappen» an die Kundschaft bringen wollten.15
1861 waren gemäss Adressbuch im Kanton St. Gallen in elf Ortschaften insgesamt 23 Kürschner und Pelzwarenhändler tätig. Hinzu kamen vier Kürschner in der Stadt St. Gallen. Zu ihnen gehörte Johann Jakob Hess aus Wald ZH, der zunächst erfolgreich «Kürschnerei und Huthandel» betrieb.16 1868 wurde er aber zahlungsunfähig. In seinem Haus an der Marktgasse brach während des Konkursverfahrens am frühen Morgen des 26. Januar 1869 Feuer aus. Dem folgenden Grossbrand fielen fünf Häuser zum Opfer; ein Mann des Rettungskorps kam bei den Löscharbeiten ums Leben. Kürschner Hess wurde zunächst der Brandstiftung verdächtigt, dann aber freigesprochen und für das Aufbewahren von Asche in einem hölzernen Behälter zu einer Busse verurteilt. Da der Erlös der Versteigerung von Haus und Geschäft einen genügenden Ertrag erbrachte,
13 St. Galler Tagblatt, 02.02.2010, Lichtmess– und Pelzfellmarkt; Die Ostschweiz, 12.02.1893, Lichtmess–Jahrmarkt in Altstätten.
14 Werkzeuge des Kürschners, Sprengel 1782: https://de.wikipedia.org/ wiki/Datei:Werkzeuge_des_K%C3%BCrschners,_Sprengel_1782_ (Original).jpg, (letzter Zugriff 27.07.2022).
15 Vgl. z.B. St. Galler Zeitung, 22.04.1837, Meyer und von Büren, Zürich; 03.05.1834, Fidelius Stritt aus Konstanz; 19.10.1842, Empfehlung Affeltranger.
16 Adressbuch 1861, S. 7, S. 49, S. 86, S. 89.
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setzte das Bezirksgericht Kürschner Hess im April 1869 wieder in die bürgerlichen Rechte ein. Doch schon ein Jahr später floh er ausser Landes, als er ein zweites Mal in Konkurs geriet.17
Die Veränderungen als Folge der Industrialisierung
Nach der Jahrhundertwende erlebte St. Gallen eine ungeahnte wirtschaftliche Entwicklung. 1856 erfolgte der Anschluss an das internationale Schienennetz und fast gleichzeitig verbesserte Bartholome Rittmeyer (1786–1848) die Handstickmaschine so weit, dass eine industrielle Massenproduktion möglich wurde. Die Stickereiindustrie nahm einen rasanten Aufschwung, besonders nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865. Dank der wenig später erfolgten Verlegung eines transkontinentalen Telegrafenkabels nach den USA konnte der rasch expandierende amerikanische Markt erschlossen werden. Die Bevölkerung der Stadt St. Gallen wuchs von 11 234 Einwohnerinnen und Einwohnern im Jahr 1850 auf 21 438 (ohne die Aussengemeinden) 30 Jahre später.18
Die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in Verbindung mit einer verstärkten internationalen Vernetzung veränderte das städtische Leben. Neue Konsummöglichkeiten eröffneten sich auch im Kürschnergewerbe. Die Zahl der Adresseintragungen unter den Stichworten «Kürschnereien» und «Pelzwaren» stieg bis 1890 auf sieben. Zugleich wandelten sich die Struktur der Betriebe, die Produktion und die Angebote. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufwendige Formveränderungen oder das Zeichnen detaillierter Schnittmuster nur selten angewendet wurden, formierte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die Gruppe der gut ausgebildeten «Zobelbarone», die sich an den Modezentren Berlin, Paris und London orientierten. Sie hoben sich deutlich ab von den in geringerem Ansehen stehenden «Kaninchenschlachtern», die nur einfache Pelze verfertigten. Verknüpft war diese innere Differenzierung des Kürschnerhandwerks mit der Industrialisierung des Berufszweiges. Um 1870 entwickelte Joseph Priesner in Berlin die erste Pelznähmaschine. Der Maschineneinsatz, ab 1888 auch mit Kleinmotor, ermöglichte kompliziertere Schnittformen und liess die Nachfrage nach Pelz in den gehobenen Bürgerschichten der indus-
trialisierten Regionen Westeuropas und Nordamerikas deutlich ansteigen.19
In St. Gallen war das Geschäft von G. Eberle, das seine Witwe Elisabetha Eberle (?–1876) bis zu ihrem Tod weiterführte, ein typisches Beispiel für einen «Kaninchenschlachter». Zunächst an der Schmidgasse, später am Marktplatz suchte die kleine Kürschnerei per Inserat Hasen-, Katzenund Iltisfelle, die sie einfach verarbeitete und verkaufte.20 Die Zukunft gehörte aber den «Zobelbaronen». Einer der ersten Kürschner, der ausgeprägt auf neue Kleiderformen und eine Vielfalt eingeführter Pelze setzte, war der im Kanton Thurgau heimatberechtigte Ulrich Züllig. In Inseraten, in den Adressbüchern und den Tageszeitungen pries er dem Publikum seine neuesten Modeprodukte an. So bewarb er 1879 neben Iltis-, Opossum- und Bissam-Muffen vor allem seine «Pelzgarnituren» als «Zobel, Nerz, Marder, Goldbär, Vielfrass, Skunks, Luchs, amerikanischer Dachs, Prairie-Wolf, Chinchilla, Grebes (Vogelfell) etc.»21
Zunächst am Marktplatz, dann an der Neugasse untergebracht, kaufte Züllig 1883 zwei Liegenschaften, Multergasse Nr. 35 und Nr. 37, und baute mit dem Nachbarn, dem Chocolatier und Kaufmann Louis Maestrani, ein Doppelwohn- und Geschäftshaus. Das Haus von Maestrani erhielt den Namen Marmorhaus, Züllig nannte seines Leopard. Im neuen Haus von 1900 Kubikmetern Grösse befanden sich ab 1885 das erweiterte Pelzwarengeschäft und eine Gastwirtschaft.22
Der vergrösserte Betrieb verlangte nach zusätzlichen Arbeitskräften. Diese rekrutierte man damals im Umfeld der traditionellen Gesellenwanderung. Jährlich suchten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zwischen 3000 und 6000 Handwerksgesellen aus über zwei Dutzend Nationen in der Stadt St. Gallen nach Arbeit. Unter den über 60 verschiedenen Berufen befanden sich immer auch sechs bis zwanzig Kürschnergehilfen, die das 1882 geschaffene Instrument der «Naturalverpflegung» nutzten. Gegen Vorweisung gültiger Reisepapiere erhielten die wandernden Gesellen in einem dafür bezeichneten Gasthof vorübergehend günstige Verpflegung und Unterkunft, bevor sie weiterwanderten oder am Ort in einem Handwerksbetrieb in Dienst traten. In der Stadt St. Gallen waren solche Stationen zum Beispiel das Gasthaus Ilge am Gallusplatz und ab 1889 die Herberge zur Heimat (heute: Hotel Vadian).23 17
18
17.10.1868,
St. Galler Zeitung
23.01.1869, 26.01.1869, 27.01.1869, 30.01.1869, 15.02.1869, 12.03.1869, 9.04.1870.
18 Ehrenzeller, St. Gallen, S. 465; Lemmenmeier, Stickereiblüte, S. 24. 19 Zwiebler, Handwerk, S. 29.
20 Die Ostschweiz, 27.11.1874.
21 St. Galler Zeitung, 12.10.1879, Pelzwaaren–, Kappen– und Hut–Lager.
22
Adressbuch 1888, S. 23. 23 Amtsbericht 1890–1905, sub Naturalverpflegung; Amtsbericht 1885, S. 64; Sprenger-Bernet, Heimat.
Aus diesen wandernden Kürschnergehilfen stellte Ulrich Züllig 1885 den aus der Stadt Rozmital in Böhmen (heute: Tschechische Republik) stammenden Anton Vocka (1853–1952) ein. Vocka erhielt 1878 nach einer Kürschnerlehre in Prag einen Pass für Reisen nach Österreich-Ungarn, Deutschland und der Schweiz. Von Prag ging die Reise zunächst nach Stuttgart, dann nach München und schliesslich nach St. Gallen.24 Diese Wanderung in die Ostschweiz war Teil eines seit 1875 einsetzenden Zugs von Kürschnern aus der Donaumonarchie und aus Ostdeutschland nach Westen, wo die expandierende europäische und nordamerikanische Pelzindustrie zusätzliche Arbeitskräfte benötigte. Angesichts
dieser Arbeitsmigration, die um 1900 ihren Höhepunkt erreichte, stellte ein ungarischer Kürschner 1929 fest: «Ob in Tientsin, ob in London, oder aber gar in Paris, überall kann man sich in unserer Branche deutsch verständigen».25 Mit Alfons Stavenik (1883–?) aus Mähren, Josef Johann Heinrich Trojan (1889–?) aus Wien oder Johann Kozak (1883–?) aus Böhmen liessen sich auch in St. Gallen weitere deutschsprachige Osteuropäer nieder.26
Pelzgeschäft und Pelzmode bis zum Ersten Weltkrieg
Zunächst bot die aufstrebende Stickereistadt den Kürschnereien mit ihren breiten Angeboten und ihrer Orientierung an der Mode in Paris und London ein optimales Umfeld. Sie versprachen ihren Kundinnen und Kunden «reelle Bedienung», «billigste Preise» und rasche Reparaturen. Zugleich wandten sie sich gegen die aufkommende Konkurrenz der Warenhäuser und warnten in Zeitungsinseraten das Publikum vor der Täuschung durch den marktschreierischen Naphtaly aus Zürich, der die Frechheit habe, «nat. Opossum-Muffe als Silberfuchs anzuschreiben und dem Publikum im Schaufenster vorzustellen».27
Zu Beginn der 1890er-Jahre geriet die Stickerei aber in eine längere Krise. Diese blieb nicht ohne Folgen für das Gewerbe. Das grosse und bisher erfolgreiche Kürschnergeschäft Züllig an der Marktgasse musste am 27. November 1895 den Konkurs anmelden und am 10. Dezember 1895 fand die Gläubigerversammlung statt. Die Liegenschaft wurde versteigert und das gesamte Lager kam auf die Gant. Der Versuch von Züllig, nach dem Konkurs mit einem neuen Geschäft an der Vadianstrasse nochmals ins Pelzwarengeschäft einzusteigen, scheiterte nach kurzer Zeit.28
Das Geschäft von Züllig war 15 Jahre erfolgreich. In der risikoreichen Luxusbranche liess sich generell ein häufiger Wechsel von Geschäftsinhabern feststellen. Von den 1809 verzeichneten Kürschnern und Fellhändlern war 1844 keiner mehr im Geschäft; von den sechs Geschäftsinhabern von 1880 arbeitete um 1900 noch einer. Geschäftsaufgaben oder Konkurse trafen auch die Angestellten; so zum Beispiel stand der frisch verheiratete Anton Vocka, der 12 Jahre bei Ulrich Züllig gearbeitet hatte, beim Konkurs des Geschäftsinhabers 1895 vor dem Nichts. In dieser Situation
24 StASG AGR B 1-1916-117, Kantonsbürgerrecht Vocka–Bellafronte Anton.
25 Zwiebler, Handwerk, S. 29.
26 Vgl. StASG, AGR B 1-1916-011, Kantonsbürgerrecht Stavenik; AGR B 1-1923-112, Kantonsbürgerrecht Kozak; StadtASG Kartei Einwohnerkontrolle Kozak, Trojan;
28
19
Adressbuch Stadt St. Gallen 1935, S. 89.
27 Die Ostschweiz, 28.11.1899, Bazar Globus; St. Galler Zeitung 21.10.1878, Warnung vor Täuschung.
Die Ostschweiz, 19.12.1895, Konkursrechtlicher Ausverkauf; Adressbuch 1897, sub Kürschner.
Annonce von Kürschner Ulrich Züllig im Adressbuch der Stadt St. Gallen von 1888. In seinen Anzeigen betonte er die Exklusivität seiner Pelzkleider und Hutkreationen.
entschied sich der über 40 Jahre alte Kürschner für die Eröffnung eines eigenen Betriebs im Haus Einhorn an der Brühlgasse 28.29
Im ersten Stock richtete er einen Laden mit einer Werkstatt ein. Im Parterre befand sich eine Konditorei, welche von der Hausbesitzerfamilie betrieben wurde. Gemäss Adressbuch wohnten noch zwei weitere Mieter im Haus. Die Wohnung im ersten Stock bestand aus vier Zimmern, einer Küche, einem Eingangsbereich und einem Abort. Die Wohnfläche (inkl. Küche) dürfte rund 75 m2 betragen haben. Für eine Werkstatt, ein Lager und eine seit 1900 fünfköpfige Familie waren die Wohnverhältnisse sehr beengt. Wie man der Wohnungsenquete der Stadt St. Gallen von 1910 entnehmen kann, war dies aber nicht aussergewöhnlich: Die durchschnittliche Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner betrug pro Zimmer 1,2 bis 2,5 Personen.30
Der ausgesprochene Kleinbetrieb von Anton Vocka, aber auch die anderen Pelzwarengeschäfte profitierten ausgeprägt vom erneuten Aufschwung der Stickereiindustrie, der auf der Einführung der Schifflistickmaschine und des Stickautomaten beruhte. Von 1895 bis 1912 verdreifachte sich die Menge der exportierten Stickereien und die Stickerei entwickelte sich zur wertmässig wichtigsten Exportindustrie der Schweiz. Die Stadtbevölkerung zählte 1910 zusammen mit den Aussengemeinden Straubenzell und Tablat rund 75 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Mehr reiche und wohlhabende Familien mit grösseren Konsumansprüchen lebten in der Stadt. Im Bau vieler Villen am Rosenberg manifestierte sich augenscheinlich der Wohlstand. Die steigenden Einkommen ermöglichten den Kauf von Pelzwaren in verschiedenster Anwendung, als Mantel, Hut, Stola, Handschuhe, Muff und vielem mehr. In den St. Galler Schreibmappen finden sich immer wieder Bilder von Pelzkleidern oder Kleidern mit Pelzbesatz.31
Der wirtschaftliche Erfolg des Kürschnerhandwerks lässt sich eindrücklich am Aufstieg der Firma Anton Vocka ablesen. Nach der Geschäftseröffnung 1895 auf engstem Raum konnte Vocka bereits 1903 die 168 m2 grosse Liegenschaft an der Brühlgasse 28 zum Preis von 55 000 Franken erwerben. Zwischen 1905 und 1911 versteuerte Anton Vocka ein jährliches Einkommen von 1800 Franken und ein Vermögen von 4500 Franken. In der folgenden Periode von 1910 bis 1917 lagen das steuerbare Vermögen bei 20 000 Franken und das jährliche Einkommen bei 4000 Franken. Damit verdiente Vocka deutlich mehr als die erste St. Galler Ärztin Lisette Völkin (1849–1929) mit einem Einkom-
29 Die Ostschweiz, 19.11.1898, 26.11.1898.
30 Bauarchiv der Stadt St. Gallen, Brühlgasse 28/30, Pläne; Grundbuchamt der Stadt St. Gallen, Marktgasse 20; Studer, Wohnungszählung, S. 10–11.
Die Illustration «Auf der Eisbahn» der Zollikoferschen Druckerei in der Schreibmappe von 1903 zeigt die vielfältigen Formen von Pelzmode: pelzbesetzte Hüte, Pelzcapes, pelzbesetzte bzw. pelzgefütterte Mäntel und Pelzmuffe.
men von 2000 Franken. Aber er lag deutlich hinter Alfred Vonwiller-Aepli (1867–1925), Direktor und Chefarzt des Kantonsspitals, der 9800 Franken Einkommen und 320 000 Franken Vermögen auswies.32
Zum wirtschaftlichen Erfolg gehörte es auch, dass die Familie Vocka spätestens seit 1915 das Haus an der Brühlgasse alleine bewohnte. Das Wachstum des Geschäfts, die Breite des Angebots und die Spezialisierung spiegelten sich beispielhaft in der Reklame. Im November 1898 begnügte sich Anton Vocka mit einer kleinen Anzeige in der Ostschweiz, in der er auf den Ort des Geschäfts verwies und mit dem Slogan «Elegant! Solid! Billig!» warb. Nach 1901 verkaufte er wie die anderen Pelzwarengeschäfte in der Stadt Mützen und Hüte verschiedenster Art. Als Spezialität bot er die sachgemässe Aufbewahrung von Pelzwaren gegen Mottenfrass während des Sommers an und verkaufte auch «Tier-Teppiche mit und ohne naturalisierten Köpfen». Das
31 Schreibmappe 1903, S. 7; 1906, S. 18.
32 Grundbuchamt der Stadt St. Gallen; Marktgasse 20; StASG KA R.185 B 4.64, Staatssteuerregister St. Gallen 1900–1920.
20
Oben: Reklame im Adressbuch der Stadt St. Gallen von 1911, Inserate, Nr. 115.
Rechts: Inserat St. Galler Schreibmappe von 1925, S. 94.
Angebot von Fellteppichen entsprach dem zunehmenden Wunsch der Kundschaft nach Exotischem, der sich aus der Eroberung der Welt durch die imperialistischen Grossmächte nach 1870 nährte. Dieses rassistisch angereicherte Interesse an fremden Welten manifestierte sich auch in Tier- und Menschenschauen, die sich in der Ostschweiz nach 1900 grosser Beliebtheit erfreuten.33
In ihrem Angebot richteten sich die Kürschnereien vor 1914 ganz allgemein ans Publikum. Eine spezifische Ausrichtung auf eine weibliche Kundschaft fehlte. Da eine enge Verbindung der Pelzbearbeitung zur Hutmacherei bestand, sollten «Uniform-, Schüler- und Sportmützen», «Chapellerie» und «Englische Herrenhüte», Pelzhandschuhe und Pelzmützen, aber auch Pelzmäntel und Pelzschuhe Männer ins Geschäft locken. Neue Geschäftsfelder eröffnete nach 1900 zudem das in den gehobenen Schichten vermehrt benutzte Automobil. «Praktisch für Wagen, Schlitten und Automobil» gabs bei den städtischen Kürschnern für die luftige Fahrt «feine Plüschdecken mit Pelz gefüttert».34
Vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg
Schon vor Beginn des «Grossen Krieges» 1914 setzte ein Rückgang der Stickereiexporte ein.35 Bis zum Ende des
33 Die Ostschweiz, 19.11.1898; Adressbuch 1901, S. 121; 1905, S. 125; 1910, S. 431, Annoncen Nr. 48, Nr. 93; Brändle, Wildfremd.
34 Die Ostschweiz, 19.12.1904, Pelzwaren O. Maurer.
35 Häusler, Stickerei-Industrie, S. 18–20; Lemmenmeier, Krieg, S. 28–32.
gleichzeitig im schweizerischen Durchschnitt um einen Viertel erhöhten. Die Bevölkerung der Stadt St. Gallen nahm von 1910 bis 1941 um beinahe 13 000 Einwohnerinnen und Einwohner ab. Dies hatte gravierende Folgen für das Gewerbe, die städtischen Finanzen und das Lebensgefühl der Menschen.36 Entgegen der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung konnte sich das Kürschnergewerbe erstaunlich gut behaupten: 1910 verzeichnete das Adressbuch der Stadt St. Gallen sechs Pelzwarenhandlungen, 1945 waren es deren neun, wovon sieben eine eigene Kürschnerei führten.37
Der Pelz als modisches Element erfuhr in der Zwischenkriegszeit eine erhebliche Aufwertung und seine Bearbeitung wurde weiter professionalisiert, was eine Ausweitung der Käuferschichten und einen Einbau der Pelzkleidung in die wechselnden Modezyklen ermöglichte. Zur wichtigsten Handelsmesse für Rauch- und Pelzwaren aus aller Welt entwickelte sich nach 1922 jene in Leipzig. Dort entstand 1928 auch die bedeutendste Kürschnerschule.38 Ausgehend von den Messen und Schulen entwickelte sich der Pelz «zur grossen Mode». Pelzmode und Haute Couture verbanden sich.39 Eifrig gefördert von den Illustrierten und Modemagazinen, wurde der Pelz zum wertvollsten und wichtigsten
36 Mayer, Gross–St. Gallen, S. 21; Lemmenmeier, Krise, S. 31–39.
37 Adressbuch 1910, S. 431; 1945, S. 89.
38 Zwiebler, Handwerk, S. 30.
39 Zürcher Illustrierte 1928, S. 13, Die Seite der Frau.
21
Kleidungsstück für Frauen proklamiert, zum Inbegriff des Weiblichen, des Eleganten, des Erotischen, des Verführerischen und des sozial Arrivierten.40 Die Schweizer Illustrierte schrieb 1931 mit Bezug zur Internationalen Pelzausstellung in Leipzig: «Immer interessiert sich die Frau für den Pelz! Hat sie keinen, so träumt sie von einem Fuchs. Hat sie den, so brennt sie auf einen Pelzmantel.» Für die Befriedigung dieses Bedürfnisses bot die Messe in Leipzig 287 Modelle an.41 Den wachsenden Bedarf deckten immer mehr Felle aus Edelpelztierfarmen. Allein in Kanada vervierfachte sich zwischen 1930 und 1940 die Zahl der Nerzfellzuchtbetriebe. Auch im st. gallischen Wil wurde 1931 als Massnahme gegen die Wirtschaftskrise eine Nutriazucht von rund 50 Paaren aufgebaut, welche die «weichen und haltbaren Pelze» des südamerikanischen Nagetiers liefern wollte.42
Von der internationalen Markterweiterungsstrategie profitierten auch die Betriebe in der Stadt St. Gallen. Der Sohn des erfolgreichen Firmengründers, Anton Joseph Vocka (1900–1946), schloss 1917 die Merkantilabteilung der Kantonsschule mit dem Abitur ab. Für die weitere Ausbildung trat er in das väterliche Geschäft ein. Als 23-Jähriger reiste er nach New York, Paris und Leipzig. Dort erhielt er in den wichtigen zeitgenössischen Modezentren die entscheidenden Impulse für die weitere Geschäftsentwicklung. Gestützt auf das zusätzlich erworbene Fachwissen übernahm Anton Joseph 1929 die Leitung des Geschäfts, in dem auch seine Schwester Carmelia Natalia (1897–1990) und sein Halbbruder Emil (1907–1964) mitarbeiteten. Emil war nach der Matura an der Kantonsschule St. Gallen ebenfalls in den väterlichen Betrieb eingetreten, hatte sich 1931/32 ein Jahr lang in Lausanne weitergebildet und besuchte dann die Kürschnerschule in Leipzig, die er mit Diplom abschloss.43
Trotz schwieriger gesamtwirtschaftlicher Umstände konnte Anton Joseph Vocka, der in städtischen Gewerbekreisen als «äusserst seriöser» Geschäftsmann galt, den Betrieb weiter ausbauen. Grundlage dafür war die Ausrichtung auf den Verkauf hochwertiger Produkte in bester Verarbeitung und in modischer Gestaltung, wie sie die Ausstellungen in Leipzig präsentierten. Seit der Geschäftsübernahme warb er mit dem Begriff «Spezialgeschäft» oder «Spezialgeschäft für elegante Pelzbekleidung». Zugleich hob er die lange Tradition
des Pelztragens hervor, betonte sein modernes Fachwissen und verzichtete auf jede Form von marktschreierischen Anpreisungen. Während die Konkurrenz weiterhin von «vorzüglichen Bezugsquellen» oder «Grösster Auswahl» sprach, begnügte sich Vocka & Co. mit den einfachen Begriffen «Pelzwaren», «feine Pelze» und «Spezialgeschäft».44
Der Erfolg dieser Strategie lässt sich an den Steuerdaten ablesen: 1920 deklarierte der Firmengründer Anton VockaBellafronte 70 000 Franken Vermögen und 14 000 Franken Einkommen.45 25 Jahre später, am Ende des Zweiten Weltkrieges, wiesen alle am Geschäft beteiligten Personen ein Vermögen von 249 500 Franken und ein Einkommen von 75 400 Franken auf. Das Gesamtvermögen hatte sich also mehr als verdreifacht und der Ertrag lag wesentlich über dem des erfolgreichen Modegeschäfts Wappler an der Multergasse.46
40 Zürcher Illustrierte 1928, S. 18, S. 30; Kritik im Nebelspalter 1928, Zur grossen Pelzmode 1927/28. Vgl. später: St. Galler Tagblatt 26.11.1950, Reklame Bally.
41 Zürcher Illustrierte 1931, S. 870, Pelz im Sommer.
42 Zürcher Illustrierte 1931, Nr. 6, S. 186. Auch im Rheintal entstanden Pelzfarmen, vgl.: Gallus-Stadt 1965, S. 228. Nutria, auch Biberratte genannt, lebt ursprünglich in den Gewässern Südamerikas.
43 Schweizerisches Handelsamtsblatt, Bd. 48, 1930, S. 775: Anton Josef Vocka als neuer Inhaber im Firmenregister eingetragen; Gallus–Stadt 1947, S. 160/161; StadtASG, Einwohnerkontrolle Anton Josef Vocka.
44 Vgl. Inserate in Gallus–Stadt 1944, S. 90; 1946, S. 104; 1947, S. 56.
45 StASG R 185, B 4 64 Staatssteuerregister 1900–1948.
46 Ebd.
22
Die Parfumreklame in der Zürcher Illustrierten Nr. 48 vom 26.11.1928, S. 13 zeigt die verführerische Frau im Pelz. Sie wurde zum Inbegriff des vornehm Eleganten und diente als Werbemagnet für viele andere Produkte wie Autos oder Uhren.
Reportage von Hans Staub in der Zürcher Illustrierten vom 06.02.1931, Nr. 6, S. 186/87 über die Eröffnung einer Pelzfarm in Wil SG. Dazu hiess es im Bericht: «Die Pelztiere leben in wildem Zustande an Wasserfällen oder Lagunen. Sie gedeihen in der künstlichen Aufzucht in Gehegen besser als in der Freiheit.»
In der Zürcher Illustrierten vom 26.11.1928, Nr. 48, S. 13 werden die neusten Modelle der Haute Couture gezeigt: Links: «Englische Pelzmode. Weiss ist Trumpf.»; Rechts: «Ein praktisches Pelz-Cape, für die Strasse, wie als Theatermantel geeignet. Helle und dunkle Streifen in Eichhorn, umrandet von Graufuchs.»
23
Sichtbarer Ausdruck des wirtschaftlichen Erfolgs war der im März 1933 erfolgte Kauf der Liegenschaft Marktgasse 20, in die Vocka sechs Jahre vorher seinen Laden verlegt hatte. Ende August 1933 zog die Familie Vocka in das geschichtsträchtige Geschäfts- und Wohnhaus, dessen Bausubstanz ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Der repräsentative Bau, der zwischen 1943 und 1945 durch eine Reliefplastik eines Engels mit Schriftband des bekannten St. Galler Bildhauers Josef Eduard Büsser (1896–1952) weiter verziert wurde, diente fortan auch zu Reklamezwecken: Die lange historische Tradition des Gebäudes, aber auch der Bezug zur Stadtgeschichte sollten die Kundinnen und Kunden von der Qualität und dem Wert der Pelzprodukte überzeugen.47
Anton Vocka, der 1952 als ältester St. Galler Einwohner verstarb, stieg auch gesellschaftlich in den Kreis der städtischen Honoratioren auf. Beim Beginn des «Grossen Krieges» 1914 – Vocka war bereits 61 Jahre alt – entschloss er sich angesichts der drohenden Unwägbarkeiten mit seiner Familie zur Einbürgerung. Am 18. August 1915 bewilligte das Politische Departement das Gesuch. Anschliessend prüfte die Ortsbürgergemeinde St. Gallen die vorgelegten
Berichte und Akten. Er zähle die «besten Kreise der Stadt zu seiner Kundschaft» und arbeite «in normalen Zeiten jedenfalls mit gutem Erfolg». Die Versammlung der Ortsbürger hiess den Antrag am 26. November 1916 diskussionslos gut. Die Einbürgerungstaxe betrug für die ganze Familie 1200 Franken.
Die Einbürgerung bedeutete für Anton Vocka die endgültige Aufnahme in den Kreis der angesehenen städtischen Gewerbetreibenden. 1921 trat er dem Katholischen Cirkel bei, der sich seit seiner Gründung 1882 zum Ziel setzte, sich regelmässig zu «zwangloser Unterhaltung, Belehrung und Besprechung von Tagesfragen, speziell solcher, welche die Interessen hiesiger Katholiken berühren», zu treffen. Auch wollte der Cirkel seine Mitglieder mit «gediegener Lektüre» versorgen, welche den katholischen Moralvorstellungen entsprach. Die Mitglieder des Vereins trafen sich jeden Mittwoch in Lokalen von Vereinsangehörigen. Im Zirkel verkehrten die Geistlichkeit und die katholische Elite der Stadt, so zum Beispiel Nationalrat Thomas Holenstein (1858–1942) oder Regierungsrat Edwin Ruckstuhl (1867–1939).48
Wie Anton Vocka stellten auch Alfons Stavenik und Josef Johann Heinrich Kozak ein Einbürgerungsgesuch, Stavenik 1916 in Untereggen, Kozak 1923 in Eggersriet-Grub, wo sie sich gute Chancen ausrechneten, da beide Kommunen mit Einbürgerungen ihre Gemeindefinanzen aufbesserten. Da beide Gesuchsteller schon zwei Jahre in der Schweiz wohnten, bewilligte der Bundesrat die Einbürgerung formell. Anschliessend hiessen die Ortsgemeinden die Gesuche, gestützt auf den Steuerausweis und das Leumundszeugnis, gut. Beide erhielten das Bürgerrecht, obwohl sie noch nie in den betreffenden Gemeinden gelebt hatten. Für Heinrich Kozak bestätigte «Corporal Schreiber» von der Stadtpolizei St. Gallen 1923 in seinem Rapport, dass sich Kozak «nie abschätzig über unser Land und Volk ausgesprochen habe» und somit schweizerisch gesinnt sei. Dieser Nachweis war nach der Änderung der fremdenpolizeilichen Vorschriften nach 1917 nötig geworden.49
Sowohl Stavenik, der sich 1912 selbständig gemacht hatte, als auch Kozak, der 1927 ein eigenes Geschäft eröffnete, erwiesen sich als erfolgreiche Geschäftsleute. Zusammen mit anderen Neueinsteigern – wie zum Beispiel dem aus Herisau zugezogenen früheren Maurer August Zanitti (1909–1971) – sorgten sie dafür, dass am Ende des Zweiten Weltkrieges zehn Firmen bestanden, die Pelze verarbeite-
47 Vgl. Inserate Gallus-Stadt, 1947, S. 56; St. Galler Tagblatt, 16.11.1950.
48 StASG KA R 88-5-a, Bürgerrechtsakten, Anton Vocka. Regierungsratsprotokoll 1916, 28. November 1916, Nr. 2714; Bühler-Rist, Cirkel, S. 79 bzw. S. 54 und S. 5–6.
49 StASG AGR B 1-1916-011, Kantonsbürgerrecht Stavenik; AGR B 1-1923-112, Kantonsbürgerrecht Kozak; Regierungsratsbeschluss 1923, Nr. 2126; StadtASG Kartei Einwohnerkontrolle Kozak. Für die Fremdenpolizei: Amtsbericht 1918, S. 149–150.
24
Das Foto von 1972 aus dem Bauarchiv der Stadt St. Gallen zeigt das Pelzhaus Vocka, wie es sich während der Nachkriegszeit präsentierte. Rechts die Leuchtschrift, links oben die Reliefplastik von Josef Büsser mit dem Schriftband «Engelburg».