FormatOst Leseprobe
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René Lüchinger
Edgar Oehler Ostschweizer
Unternehmer. Politiker. Journalist.
René Lüchinger
Edgar Oehler Ostschweizer
Unternehmer. Politiker. Journalist.
Impressum © Verlag Konzept und Realisation Lektorat Bildredaktion Cover-Fotografie Cover-Gestaltung Gestaltung Koordination Druck
Edgar Oehler, Balgach FormatOst, Schwellbrunn, formatost.ch Lüchinger Publishing, Zürich Regula Walser, Zürich René Lüchinger Stefan Walter Konrad Bruckmann, Kandern/D bbf.ch Nicola Eichmann, Victoriadruck, Balgach Cavelti AG, Gossau
ISBN 978-3-03895-034-9 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden, insbesondere nicht als Nachdruck in Zeitschriften oder Zeitungen, im öffentlichen Vortrag, für Verfilmungen oder Dramatisierungen, als Übertragung durch Rundfunk oder Fernsehen oder in anderen elektronischen Formaten. Das gilt auch für einzelne Bilder oder Textteile.
Vorwort
Brot und Spiele
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Voller Körpereinsatz für den FC St. Gallen
Gips und Grips
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Student mit dreckigen Schuhen
Von Balgach nach Bern
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Sturmlauf in den Nationalrat
Zeitung für Christdemokraten
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Wortgewaltiger Schriftleiter der Ostschweiz
Patron und Topmanager
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Jakob Züllig macht Journalisten zum Chef seiner Arbonia Forster
Operation Kalif
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Auge in Auge mit Saddam Hussein
Das grosse Comeback
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Wiedereinstieg bei Arbonia Forster als Mehrheitsbesitzer Quellenverzeichnis
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Bildnachweise
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Personenregister
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Vorwort
Eine Schweizer Zeitschrift setzte einmal als wohl kürzeste mögliche Schlagzeile zwei Worte: «Das Unikum». Der Artikel handelte von Edgar Oehlers Leben. Als Politiker im Nationalrat für die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) seines Heimatkantons St. Gallen. Als Chefredaktor der Tageszeitung Die Ostschweiz, ebenfalls in St. Gallen. Und als Unternehmer bei der Arbonia Forster in Arbon und der Hartchrom in Steinach, die heute Surface Technologies International (STI) heisst. Schon diese rudimentäre Auflistung zeigt: Die Qualifizierung als Unikum ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Kein zweites Beispiel existiert hierzulande, in dem ein Einzelner zwei Dutzend Jahre in der grossen Kammer in Bern politisiert und über ein Dutzend Jahre eine Tageszeitung leitet sowie 35 Jahre lang als Unternehmer aktiv ist. All das tat Edgar 7
Oehler stets in Verbindung mit seinen familiären Ostschweizer Wurzeln. Und er tat es keineswegs leise, sondern mit seinem eigenwilligen Rheintaler Kopf. Erstmals haben wir vor zehn Jahren über eine Biografie zu seiner Person gesprochen. Edgar Oehler war damals nicht abgeneigt. Am Ende meinte er aber, es sei wohl noch zu früh. Im Nachhinein hat er recht behalten. Nach seinem für ihn durchaus schmerzvollen Abschied von der Arbonia Forster – dort war er unter dem grossen Patron Jakob Züllig einst ins Unternehmertum eingestiegen, hat dessen Erben die Firma später abgekauft – gibt er mit über 60 Jahren bei der STI nochmals ein Comeback als Unternehmer – sein zweites. Edgar Oehler hat dieses Buch finanziert. Weil er weiss, dass es sonst nicht hätte entstehen können. Er hat es natürlich vor Drucklegung auch gelesen. Er wollte kein einziges Wort geändert haben. Wohl, weil er als ehemaliger Journalist um die Freiheit des Wortes weiss. So wird nun erstmals das Leben dieses streitbaren und facettenreichen Ostschweizers erzählt. Es ist die Geschichte vom Sohn eines Malermeisters und einer Bäckerstochter aus dem sankt-gallischen Weindorf Balgach. Ar8
beitssame Menschen sind die Oehlers immer gewesen. Mussten sie auch sein. Die Mutter ist eine aus der Familie Eschenmoser, die noch heute die Bäckerei Eschenmoser betreibt – sie ist eines von zehn Geschwistern gewesen und hat neben Edgar Oehler noch sechs Mädchen zur Welt gebracht. Der Kampf ums Überleben ist in dieser Familie alltäglich gewesen. Wie bei so vielen im Rheintal in den Zwischen- und Nachkriegsjahren. Auch davon handelt dieses Buch. Für Edgar Oehler ist es eine Art Geburtstagsgeschenk. Wenn es erscheint, wird er 79 Jahre alt. René Lüchinger, Februar 2021
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Brot und Spiele
Vom Fussball versteht er nicht viel. Für ein neues Stadion für den FC St. Gallen wirft sich Edgar Oehler dennoch ins Zeug wie einst als rechter Flügel beim FC Nationalrat: mit vollem Körpereinsatz. Er will Ablenkung für die Büezer der Region in der Spielstätte, die AFG Arena heissen muss.
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Brot und Spiele
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ls die Not am grössten ist, muss der Turnlehrer Durchhalteparolen durchgeben. Und die Not ist gross in St. Gallen. Das Hinspiel in der Barrange um den Abstieg in die Challenge League hat der FC St. Gallen an diesem Samstag des 17. Mai 2008 im Stadio Communale in Bellinzona mit zwei zu drei Toren verloren. Fussball in extremis. Dauerregen. Das Fussballfeld, ein Brei von Morast. Die Tessiner liegen Mitte der zweiten Halbzeit mit zwei Toren vorn. Deren Trainer Vladimir Petkovic sieht sich schon fast als Sieger. Aber der FCSG kämpft sich zurück. Versenkt innert fünf Minuten zwei Bälle im gegnerischen Netz. Dann aber, in der 89. Minute, bezwingt Tausendsassa Senad Lulić mit einem «phänomenalen Weitschuss», so die Neue Zürcher Zeitung, den St. Galler Keeper Daniel Lopar. Vor dem entscheidenden Rückspiel gegen die Tessiner sind alle Augen auf diesen Torwart gerichtet. Jetzt geht es für den ältesten Fussballklub des Landes um alles oder nichts. Hält dieser Daniel Lopar seinen Kasten nicht rein, verlieren die Grün-Weissen gar erneut, steigen sie aus der höchsten Spielklasse des Landes ab. Eigentlich undenkbar. Es wäre ein Tränenmeer
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Voller Körpereinsatz für den FC St. Gallen
für die Region. Ein Desaster für den Ostschweizer Patrioten Edgar Oehler. Der Patron der stolzen Arbonia Forster Group (AFG) hat gross in den Fussballklub investiert. Und er hat einen schönen Batzen auf den Tisch gelegt, damit das nagelneue Fussballstadion des Klubs in St. Gallen-Winkeln AFG Arena heissen darf. Ab der nächsten Saison soll dort sein FC St. Gallen auflaufen. Nicht auszudenken, wenn dann als Gegner statt des FC Basel oder der Berner Young Boys plötzlich der
Schöner Batzen: AFG Arena1
FC Gossau oder Concordia Basel vor halbleeren Rängen im knapp 20 000 Zuschauer fassenden Stadion auf dem Platz stehen würden. Die letzten Kräfte der Ostschweizer Landesverteidigung werden mobilisiert. Im St. Galler Tagblatt ruft der
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Brot und Spiele
ehemalige Turnlehrer des St. Galler Goalies Daniel Lopar: Hopp Dani! und drückt seinem ehemaligen Schüler alle vorhandenen Daumen. Er schreibt aber auch: «In der Sekundarschule war er von seinem Körperbau her nicht der Sportlichste, er war sogar eher etwas schwergewichtig damals.» Es ist, als hätte der Lehrer eine böse Vorahnung. In der gleichen Zeitung schreibt der in St. Gallen aufgewachsene Clown Pic vor dem bevorstehen-
Prallvoll mit Anekdoten: Espenmoos, o.D.2
den Spiel einen Nachruf, prallvoll mit Anekdoten über das Espenmoos, auf dem er als Jugendlicher einst noch selber gekickt hatte. Titel des Opus: Abpfiff im Espenmoos. Ein schlechtes Omen? Anderen hat es buchstäblich die Sprache verschlagen. Spieler, Trainer, Staff: Alle haben sie nun einen Maulkorb verpasst bekommen. «Inszenierung des grossen Schweigens», schreibt
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Voller Körpereinsatz für den FC St. Gallen
der Blick, «St. Galler Psycho-Tricks im Abstiegssumpf.» Und die gewöhnlich zu äusserster Objektivität neigende Sportinformation (SI) fragt in ihrer Vorschau zum Spiel der letzten Entscheidung schon bange: «Wird die Derniere zum Alptraum?» Derweil rüstet auch der Gegner in diesem Nervenkrieg siegessicher auf: mit Grossleinwand auf der Piazza del Sole in Bellinzona, Bierständen und Wurstgrill. Dienstagabend, 20. Mai 2008, 19.45 Uhr. Anpfiff zum Spiel der Spiele gegen die Tessiner und zum letzten Spiel im ehrwürdigen, knapp 100 Jahre alten Espenmoos. Ein Stadion, baufällig zwar, aber voller Geschichten. Hier hat lange Zeit keine Anzeigentafel existiert – ein Kirchturm in Sichtweite hat als Orientierung genügt. Hier haben bis in die 1950er-Jahre hinein noch weidende Schafe den Platzwart unterstützt. Und hier haben die Grün-Weissen einmal den FC Luzern rekordhoch mit siebzehn zu null Toren abgefertigt. Und jetzt steht im gegnerischen Halbfeld der AC Bellinzona – nach 18 Jahren in der Zweit- und Drittklassigkeit heiss wie nie auf den Aufstieg in die höchste Spielklasse. Das Espenmoos ist ausverkauft. 11 300 Zuschauer drängen sich auf den angejahrten Tribünen. Ein High-Risk-Spiel, sagen Sicherheitsbeamte. Die Emotionen dürften hochgehen. Ein einziges Törchen würde dem FC St. Gallen nach den zwei Auswärtstoren für den Ligaerhalt in der höchsten Spielklasse reichen. Was aber, wenn es nicht fällt?
Weidende Schafe: Espenmoos, 19293
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Brot und Spiele
Es fällt. Auf der falschen Seite. Geschossen ausgerechnet von einem Stürmer der Tessiner, der einst in den Diensten der Grün-Weissen gestanden hatte. Das Spiel ist 36 Minuten alt, der Zeiger auf dem nahen Kirchturm steht auf 20.16 Uhr, als auf dem Espenmoos der Katzenjammer ausbricht. Und in der 92. Minute, während der Nachspielzeit, trifft der verflixte Senad Lulić gar noch zum zwei zu null für die Gäste. Das ist «der Gnadenstoss», schreibt die Sportinformation nur Minuten nach dem Abpfiff. Und in der später nachgeschobenen Matchanalyse ist von einem «hilflosen Eindruck» die Rede, es habe «schlicht an Klasse» gefehlt. Grosssponsor Edgar Oehler hat im Herzen gehofft und gebangt, aber der Kopf hat ihm, schon als er im Espenmoos Platz nimmt, gesagt: «Nein. Das wird nichts.» Als das auch dem letzten Espen-Fan klar ist, entlädt sich Wut und Frust. Es ist schon fast Mitternacht, rapportiert der Blick, als im Espenmoos zwischen Chaoten-Fans und Polizisten noch immer Metallstöcke und Gummischrot hin und her fliegen, während Klubpräsident Dieter Froehlich das Stadion unter Polizeischutz verlässt. Auch Edgar Oehler fackelt nicht lange. Am Tag nach der grossen sportlichen Demütigung bestellt er die für das sportliche Desaster Verantwortlichen – Klubleitung, Sportabteilung, Trainer – zu sich und liest ihnen in klaren Worten die Leviten, spricht von einer «völlig missratenen Saison», fehlender «Qualität an allen Ecken und Enden», donnert, nun benötige es «Wechsel auf allen Ebenen, neue qualifizierte Leute braucht dieser Klub». Der Ärger des Geldgebers ist verständlich. Er ist schliesslich unter den Ostschweizer Unternehmern der
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Voller Körpereinsatz für den FC St. Gallen
Erste gewesen, der damals, im November 2003, über seine Unternehmen Arbonia Forster und Hartchrom wie auch als Privatperson ein grösseres Paket Aktien einer noch nicht einmal gegründeten FC St. Gallen AG gezeichnet hatte. Und der Weg dorthin war ein dornenreicher gewesen. Die Kluboberen: seit zwei Jahrzehnten eine Ansammlung von gut meinenden Amateuren mit grossem grün-weissem Herzen. Die Präsidenten oszillieren zwi-
Am Ball: Espenmoos, 19364
schen sportlichem Grössenwahn und der permanenten Angst vor wirtschaftlichem Ruin und Lizenzentzug. Es gibt solche, die horrende Spielergehälter bezahlen und mit einer Ansammlung von Ballkünstlern aus Südamerika luftige Höhen der Tabellenspitze erklimmen wollen. Die Nachfolger auf dem Präsidentenstuhl müssen dann meistens bei Mäzenen und Fans auf Betteltour
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Brot und Spiele
gehen, um das Lichterlöschen auf dem Espenmoos zu verhindern. Es gibt solche, denen die Sanierung tatsächlich immer wieder gelingt, manchmal freilich zum Preis des Absturzes in die fussballerische Zweitklassigkeit. Und dann gibt es einen, der will den stolzen Klub in eine Aktiengesellschaft überführen und eine Mehrheit an eine dubiose Gesellschaft aus der Lombardei verhökern, weil diese 8 Millionen Franken Cash verspricht, womit die langfristige Existenz gesichert wäre. Dumm nur: Die Italiener machen kurz danach Bankrott und der Klubpräsident, der mit den Tifosi aus Mailand eigenmächtig einen Vorvertrag unterschrieben hat, tritt zurück. Er poltert: Seit Jahren stürze der FC St. Gallen von einem Defizit ins nächste und habe dabei das gesamte Tafelsilber aus über 100 Jahren verkauft. Und dann folgt das grosse Lamento des Ex-Präsidenten: «Wir besitzen keinen Spieler mehr, wir haben kein Stadion mehr, wir haben das Bewirtungsrecht nicht mehr, wir haben nichts mehr. Wir sind ein leerer Sack.» Dass dieser Sack dringend mit einer ansehnlichen Anzahl von Batzen zu füllen ist, ist freilich weniger Ostschweizer Einsicht geschuldet. Es sind Forderungen von Fussballfunktionären aus dem Haus des Schweizer Fussballs in Muri bei Bern, die im Headquarter des Fussballverbands beschlossen haben, den Schweizer Profifussball auf ein ganz neues Fundament zu stellen. Die ehrwürdige Nationalliga A wird auf die Saison 2003/04 in den Anglizismus Swiss Football League umbenannt, in der nur noch zehn Spitzenteams um die Fussball-Schweizermeisterschaft kämpfen dürfen. Wer zukünftig in diesem erlauchten Kreis kicken darf, das hängt freilich nicht ausschliesslich von sportlichen Re-
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Voller Körpereinsatz für den FC St. Gallen
sultaten ab. Zwingend für eine Lizenz im Berufsfussball ist die Überführung der Vereine in Aktiengesellschaften und der Nachweis eines modernen Stadions, das den höchsten Kriterien des Europäischen Fussballverbands (Uefa) entspricht. All dies wirft Schockwellen bis nach St. Gallen. Klubleitung und Fans wissen: Bei beiden Vorgaben hinken die Grün-Weissen weit abgeschlagen hinter den Anforderungen der Moderne hinterher. Es droht also der Auszug des Spitzenfussballs aus der Gallus-Stadt. Und keiner weiss wohl besser, was fussballerische Heimatlosigkeit bedeutet, als gerade Edgar Oehler. Als Bub darf er keinem Lederball hinterherrennen, weil der Vater etwas gegen Fussball hat. Als Bursche muss er sich vom Zuhause in Balgach ins benachbarte Heerbrugg davonschleichen, um dort, auf dem Bolzplatz der Firma Wild Heerbrugg, seinem Sport zu frönen. Eine bescheidene Karriere resultiert daraus dennoch. Später, in den 1970er-Jahren, rennt Edgar Oehler auf dem rechten Flügel des FC Nationalrat mit vollem Körpereinsatz. Zu einem Tor hat es freilich nie gereicht, und dass sein Ostschweizer Politikerkollege Franz Jaeger am Ball schneller ist, erträgt er mit sportlichem Grossmut. Und grossmütig räumt er auch ein, dass er im Grunde vom Fussball nicht viel verstehe. Ihm geht es bei seinem grosszügigen finanziellen Engagement für den FC St. Gallen um anderes. «Brot und Spiele», pflegt Edgar Oehler zu sagen, seien wichtig – panem et circenses haben es schon die römischen Kaiser genannt. Den hart arbeitenden Büezern in den Fabrikhallen der Region müsse in der Freizeit schliesslich etwas geboten werden. Und der Restschweiz müsse
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Gips und Grips
Hineingeboren wird Edgar Oehler in eine katholische Bäckersfamilie im sankt-gallischen Balgach, die über Kriege und Krisen hinweg um den Familienbetrieb kämpfen muss. Er ist umgeben von starken Frauen und seine berufliche Zukunft scheint vorbestimmt. Doch er bricht aus. Studiert und gründet als 25-Jähriger seine erste eigene Firma.
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Gips und Grips
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Daumen hoch: Edgar Oehler, 19457
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anches Mal, wenn die Bewohner von Balgach im ersten Friedensjahr nach dem grossen Krieg in ihrem Dorfkern Richtung Heerbrugg unterwegs sind, recken sie auf der Höhe der Bäckerei und Conditorei Eschenmoser ihre Köpfe nach rechts. Nicht nur, weil dort im Schaufenster frisches Brot zum Einkauf lockt oder neben dem Ladeneingang eine Reklame für Chocolat Maestrani St. Gallen hängt. Es ist dieser kleine Bub, der öfter einmal an der Hauswand auf einem Stuhl sitzt, der die Aufmerksamkeit erregt. Es gibt noch eine Fotografie, die Edgar Oehler 1945 als dreijährigen Knirps auf eben diesem Stuhl zeigt, akkurat gekämmt mit Seitenscheitel links und in sonntäglichem Gewand. Der rechte Daumen ist nach oben gereckt, der Blick keck auf die Linse gerichtet. Fast so, als wollte der Dreikäsehoch jedem Passanten zurufen: Frischeres Brot als
Student mit dreckigen Schuhen
beim Bäcker Eschenmoser gibt es nirgendwo im Dorf. Und doch dürfen diese rätseln: Warum sitzt der Bub da? Weil seine Mama Rosa, eine geborene Eschenmoser, keine Zeit hat für ihren Bub, da sie im Laden Hand anlegen muss? Weil der Papa, Malermeister Ludwig Oehler, dem ganzen Dorf zeigen will, dass nach drei Töchtern bei den Oehlers doch noch ein Stammhalter zur Welt gekommen ist? Oder vielleicht soll der jüngste Spross der Familie einfach nur eilende Menschen kurz entschleunigen und so vielleicht zum Eintritt in den Laden verführen? Die Oehlers in Balgach: eine lange Geschichte. Erstmals überhaupt taucht der Familienname im Jahre 1376 in einem Lehenbuch des Damenstifts Lindau auf – damals
Stammhalter: Ludwig Oehler mit Sohn, 19458
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Gips und Grips
noch unter der Schreibweise Oeler. Damit sind sie heute das älteste noch existierende Geschlecht im Dorf. Ein Hans Oeler war damals von der Äbtissin des Frauenklosters Lindau als Lehnsherr auf das zum Kloster gehörende Herrschaftsgebiet Hof Balgach geschickt worden. Seine Vorfahren waren am Bodensee als Oeler tätig gewesen: Aus Pflanzensamen pressen – oder oelen – diese Berufsleute Öl, daher der Name. In Balgach tauchen Nachfahren jenes Hans Oeler im Spätmittelalter als Ammann, Lehnsherren oder Rebenbesitzer auf. In diese katholische Welt bricht die Reformation mit voller Wucht herein. «Ein bedeutender Einschnitt in die Geschichte Balgachs», urteilen die Historiker Michael Köhler und Hans-Rudolf Galliker in ihrer vierbändigen Ortsgeschichte Balgach, «das Weinbauerndorf steht mitten im Sturm einer Zeitenwende. Danach ist das gesellschaftliche und religiöse Leben nicht mehr das, was es war.» Das Dorf ist tief gespalten in Katholiken und Protestanten: Um das Jahr 1650 zählt Balgach im Wesentlichen 14 Geschlechter. Die Eschenmosers, Metzlers, Oeschs oder Zünds sind katholisch, die Halters, Nüeschs, Schmidheinys oder Weders sind zu den Reformierten übergelaufen, während die Oelers und Oehlers, wie sich einige Familien damals schon schrieben, sich in beiden Konfessionen finden. Oelers finden sich in der Folge als Wirte auf dem Rathaus, als Teilhaber der Rietmühle in Balgach, als Richter, immer wieder auch als katholische Gottesmänner, als Söldner in fremden Diensten, im 19. Jahrhundert als Auswanderer bis in die Colonie Helvetia in Uruguay. Im Jahr 1929 schliesslich verständigen sie sich zumindest orthografisch auf Einheitlichkeit: Seither heissen alle ortsansässigen Mitglieder der Sippe mit Nachnamen Oehler.
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Student mit dreckigen Schuhen
In diese grosse und doch so kleine Welt in Balgach wird am 2. März 1942, einem Montag, Edgar Louis Oehler hineingeboren – am gleichen Tag wie im fernen Amerika der Schriftsteller John Irving oder der Sänger Lou Reed. Die Welt ist in keinem guten Zustand. Es herrscht Krieg. In der Schweiz haben die Behörden am Vortag die Monatsration von «Fleisch mit Knochen»
auf 2000 Gramm pro Person festgesetzt; «Mittwoch und Freitag bleiben fleischlos». In Deutschland versinkt die altehrwürdige Hansestadt Lübeck im Bombenhagel – es ist das erste Flächenbombardement der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet an diesem Tag über «Zusammenstösse der japanischen und der alliierten Flotten» bei der «Schlacht um Java»
Weindorf im Rheintal: Balgach um 19409
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