FormatOst Leseprobe
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ObjektWelten 100 Entdeckungen
ObjektWelten 100 Entdeckungen Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen
Grusswort der Stadtpräsidentin Hellrote Spitzdächer, kleine, eng aneinander gedrückte Häuser, geschützt von einer mächtigen Stadtmauer, überragt von Kirchtürmen und Stadttoren – das Stadtmodell im Historischen und Völkerkundemuseum lädt seit 100 Jahren ein, das historische St. Gallen zu erkunden. Wie viele Kinder haben schon vor der grossen Vitrine gestanden und sind mit den Augen durch die schmalen Gassen gewandert? Wie viele Erwachsene haben die alte Stadt mit der heutigen verglichen? Seit 100 Jahren ist das Stadtmodell ein beliebtes Anschauungsobjekt. Inzwischen ist es selbst ein museales Stück und verdeutlicht zwei wesentliche Aspekte der Museumssammlung: die Dokumentation der St. Galler Stadtgeschichte einerseits und andererseits die Vermittlung dieser Geschichte an Gross und Klein. Stadtgeschichte bedeutet in St. Gallen ein lokales Erbe, das weit über 1000 Jahre zurückreicht. Sie bedeutet gleichzeitig auch die Verbindung mit der Welt: St. Galler Kaufleute, Sammlerinnen und Auswanderer waren in Asien, Afrika, in Nord- und Südamerika unterwegs. Sie haben Kunstwerke und Alltagsdinge erworben und mit in die Ostschweiz gebracht. Die vielen Objekte erzählen von all diesen Geschichten. Sie berichten von den Bräuchen und Sitten der Menschen in anderen Weltgegenden und von Reisen und Lebensläufen von Ostschweizer Persönlichkeiten. So arbeitete der St. Galler Agronom Thilo Walter Hoffmann im vergangenen Jahrhundert in Sri Lanka und begeisterte sich für traditionelle Masken. Seine wertvolle Sammlung schenkte er dem Museum. Diese erlaubt uns aufregende Blicke auf singhalesische Rituale und Legenden. Ein wertvolles Halsband aus Delfin-Zähnen gelangte von den Salomon-Inseln dank Othmar Rietmann nach St. Gallen. Der ausgebildete Lehrer lebte von 1857 bis 1863 in Australien und schloss sich dort einer Forschungsexpedition an. Bei seiner Heimkehr hatte er nicht nur Waffen, Tierexponate und Schmuck im Gepäck, sondern brachte auch eine Vielzahl von Geschichten und Anekdoten mit. Solche Erlebnis berichte lassen die Museumssammlung lebendig werden. Sie zeugen von Verhandlungsgeschick, von detektivischem Spürsinn bei der Herkunftsana lyse von Objekten und von sehr persönlichen Erinnerungsmomenten. Die wertvollen Verbindungen zwischen erlebter Geschichte und gezeigtem Gegenstand gelten sowohl für exotischen Federschmuck oder indische Prozessionsfiguren als auch für vertraute Objekte wie etwa den Krämerladen, den ein junger St. Galler für seine Schwester baute: Ein Laden im Puppenhausformat, der fast 100 Jahre alt ist und ein kleines Stück St. Galler Familien- und Alltagsgeschichte erzählt. Was heute Gegenwart ist, ist morgen Geschichte. Das Museum bleibt nicht stehen, die Sammlung wächst. So konnte 2012 ein wunderschönes Porträtgemälde von Marie-Louise Bion erworben werden. Es zeigt ein Mädchen am Fenster mit einem nachdenklichen, berührenden Blick. Ein Glücksfall, dass dieses Bild Eingang gefunden hat in die Sammlung, ist es doch ein gelungenes Werk einer in ihrer Zeit bedeutenden St. Galler Künstlerin. Eine über fünf-
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zig Jahre alte Schoppenflasche aus der Hebammenschule St. Gallen mutet zwar noch vertraut an, sieht aber deutlich anders aus als aktuelle Modelle. Heutzutage können wir uns auch fast nicht vorstellen, dass ein einfacher Lederhelm wie jener des Flugpioniers Adolf Schaedler ihn schützen konnte. Doch berichtet ein sorgfältig recherchierter Katalog, dass Schaedler damit acht Flugunfälle überlebte, darunter eine Landung in einem Zaun, zwei Überschläge und zwei Kopfstände in einem Bach. All diese Objekte haben ein Ziel: einen vielseitigen und reichhaltigen Blick auf unsere Gesellschaft zu werfen. Sie öffnen Türen zu andern Menschen, Kulturen und andern Zeiten. Sie konfrontieren uns mit unserer Gegenwart, mit dem was wir aktuell für selbstverständlich oder wichtig erachten. Was wird wohl in 100 Jahren ausgestellt? Welche Geschichten werden dann von uns erzählt? Doch sind wir noch in der Gegenwart. Längst sind nicht alle Rätsel der Vergangenheit gelöst – es bleibt spannend. Tauchen Sie ein in all diese Geschichten, die uns das Historische und Völkerkundemuseum bietet!
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Maria Pappa
Einleitung
Am 31. März 1921 öffneten das «Historische Museum und die Sammlungen für Völkerkunde» in St. Gallen als «Neues Museum» im Stadtpark erstmals ihre Türen. Gross war die Neugier auf das reich ausgestattete Interieur und die Präsentationen. Von aussen hatten die St. Gallerinnen und St. Galler dieses letzte Grossprojekt der Stickereiblüte unter der Ägide der Ortsbürgergemeinde St. Gallen über sechs Jahre begleitet. 30 000 Personen ergriffen in den ersten drei Monaten die Chance und besichtigten den Neubau, an dem so viele Handwerker und Fachkräfte aus Stadt und Region mitgewirkt hatten. Auf rund 3000 Quadratmeter Ausstellungsfläche erwartete sie eine aussergewöhnliche Mischung, ausgehend von der globalen Vernetzung der Handelsstadt St. Gallen: Lokalgeschichte und Weltgeschichte unter einem Dach. Auf ausgiebigen Spaziergängen durch Räume und Zeiten begegnete man Kulturgut aus der Region ebenso wie Zeugen ferner Länder. Schon damals waren sich die Museumsverantwortlichen der Wirkung von Inszenierungen bewusst. Eine Schlafkammer mit Himmelbett aus vergangenen Tagen war den Leuten vielleicht noch bekannt, aber den Empfangssaal eines Fürstabts der Renaissance zu betreten oder einem lebensgrossen «Oglala-Sioux-Indianer» zu begegnen, war sicher ein beeindruckendes, manchmal auch irritierendes Erlebnis. Neben den zahlreichen Ausstellungsobjekten, die der Historische Verein des Kantons St. Gallen und die Ostschweizerische Geografisch-kommerzielle Gesellschaft in rund 60 Jahren zusammengetragen und 1917 der Ortsbürgergemeinde für das «Neue Museum» überlassen hatten, dienten auch speziell angefertigte Modelle als Anschauungsmaterial, zum Beispiel Ostschweizer Burgen und Pfahlbauten oder Boots- und Hausmodelle aus Asien. Sie zeugen bereits vom Wunsch nach einer didaktisch ausgerichteten Vermittlung. Man sprach damals vom «Lehrzweck» der Sammlungen. Höhepunkt dieser Art war das grosse, vom St. Galler Architekten Salomon Schlatter von 1919 bis 1921 angefertigte Stadtmodell, das noch heute ein zentraler Anziehungspunkt für die Museumsgäste ist. Die Vermittlung hat in diesem der Kultur und Geschichte verpflichteten Museum seit jeher einen hohen Stellenwert. So wurde bereits 1988 eine eigene Stelle für die Museumspädagogik geschaffen. Zur Eröffnung des «Neuen Museums» erschien eine kurze Wegleitung, die den Besuchenden eine Orientierungshilfe sein sollte, jedoch noch keine Erläuterungen zu den Objekten enthielt. 1928 gab der Leiter des Historischen Museums, Konservator Johannes Egli, einen ersten «Führer durch die Sammlungen» heraus – Vorläufer der vorliegenden Publikation. Er nahm die Lesenden mit auf einen Rundgang und stellte alle Ausstellungsobjekte in den Räumen zur Geschichte und Archäologie so detailliert vor, dass sich die Einrichtungen noch heute rekonstruieren liessen. Die völkerkundlichen Säle waren dabei ausgenommen, sozusagen ein «blinder Fleck» – ein Spiegel der damaligen Situation mit zwei Verantwortlichen. Erst 2004 wurde mit Direktor Daniel Studer das ganze Museum unter eine Gesamtleitung gestellt.
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Den Anfang des Rundgangs machte 1921 die archäologische Abteilung, «Antiquarium» genannt, mit den «ältesten Zeugen menschlichen Lebens in unserer Heimat und in den Alpen überhaupt», also den Funden aus den Höhlen Wildkirchli, Drachenloch und Wildenmannlisloch. Sie waren damals im grossen Nordsaal im Erdgeschoss untergebracht und wurden von Geschichtslehrer Hans Bessler betreut. Dazu hiess es: «Das Arbeitsgebiet unseres Museums umfasst die Kantone St. Gallen und Appenzell. Die Fundsammlung, die sämtliche Originalfunde des oben beschriebenen Gebietes zu vereinigen hat, erfüllt die vornehmsten Pflichten des Museums als kantonale Anstalt.» Heute ist die 1966 gegründete Kantonsarchäologie St. Gallen als eigene Abteilung im Museum eingemietet. Ihre Anfänge gehen wie die der anderen Abteilungen auf die Initiative des Historischen Vereins des Kantons St. Gallen zurück, als 1862 unter dem Präsidium von Hermann Wartmann die ersten Schenkungen vorlagen und entschieden wurde, eine Museumssammlung aufzubauen. Der weitere Rundgang im Erdgeschoss war in chronologischer Reihenfolge angelegt – mit dem «gotischen Zimmer», dem Raum für Kirchenkunst und den Prachtsälen aus Renaissance und Barock, das heisst dem Empfangssaal des Fürstabts Joachim Opser aus Wil und dem Saal des Kleinen Rats der Stadt St. Gallen aus dem 1877 abgebrochenen Rathaus. Der Ausstellungsraum mit dem Stadtmodell widmete sich der baulichen Entwicklung der Stadt. Im Obergeschoss folgte eine Reihe weiterer «Period Rooms» mit historischen Raumausstattungen. Zu sehen waren auch Staats- und Rechtsaltertümer, Textilien, Trachten und Uniformen, Keramik sowie – als Höhepunkt über dem Foyer – der grosse Waffensaal. Das Untergeschoss war schliesslich dem Handwerk und Gewerbe gewidmet, geordnet nach Materialien. Hier fand man zudem eine Küche, Familienandenken, Erinnerungsstücke der öffentlichen Hand wie Strafwerkzeuge oder Feuerlöschgeräte, aber auch eine alte Postkutsche und Fahrräder. 1932 erschien ein erster «Führer durch die st. gallischen Sammlungen für Völkerkunde», verfasst von Konservator Hans Krucker, der 1928 auf Robert Vonwiller gefolgt war. Damit die Präsentation der Objekte nicht als «blosse Schaustellung von Seltsamkeiten und Merkwürdigkeiten fremder Völker» wahrgenommen wurde, wollte Hans Krucker mit seiner Wegleitung auf Wesentliches hinweisen und gleichzeitig grössere Zusammenhänge aufzeigen. Die Völkerkunde verstand er als «Geistesgeschichte der Menschheit». Bei einer Neuauflage 1966 betonte er zudem: «Den menschlichen Rassen eine unterschiedliche Bewertung geben zu wollen, ist Täuschung. Die Andersartigkeit fremder Völker ist kein Grund, geringere Begabung anzunehmen. Unterschiedliche Temperamente und Charaktere bestehen überall.» Sein Rundgang begann auf der Südseite des Foyers mit Vorderasien und der Welt des Islam, gefolgt von Indien und Indonesien. Der grosse Südsaal im Erdgeschoss war Ostasien, Ozeanien und Australien gewidmet. Gegenstände
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aus dem alltäglichen Leben wie Strohmatten, Essbestecke oder Kämme spielten hier bereits ebenso eine Rolle wie kostbares Kunsthandwerk oder reli giöse Statuen und Kultobjekte. Um den Rundgang im Obergeschoss fortzusetzen, musste man die Treppe beim Stadtmodell nehmen. Über den Ostschweizer Textilsaal mit Leinenstickereien, verziert mit christlichen Motiven, geriet man unmittelbar in die «Urwaldgebiete Kameruns». Dass Übergänge fehlten, war eine verpasste Chance und verrät das Nebeneinander der beiden Museumssammlungen anstelle eines Miteinanders. Der grosse Südsaal im oberen Stock zeigte Objekte aus Afrika – mit einem Schwerpunkt auf Musikinstrumenten, Schnitzarbeiten und der Eisentechnik. Zwar wurde etwa den Masken im Museumsführer künstlerische Qualität bescheinigt und einige Techniken wurden erklärt, insgesamt blieb die Beschreibung der Objekte jedoch tabellarisch. Die lebensgrosse Darstellung einer Frau der Herero diente nur als Aufhänger, um ihre Kleidung zu erwähnen und einen Hinweis auf das «Viehzuchtvolk» zu geben. Der Völkermord in der Kolonie «Deutsch-Südwestafrika» während und nach dem Herero-Aufstand von 1904 kam nicht zur Sprache. Dies änderte sich erst mit der neuen Wegleitung von 1989, die Konservator Roland Steffan verfasste. Ihm war es ein Anliegen, auf die Schattenseiten der Kolonialisierung, aber auch auf «gewisse Formen des Tourismus unserer Tage» hinzuweisen. Auch in der historischen Abteilung kam ein neues Geschichtsverständnis zum Ausdruck. Konservator Louis Specker, der ein Jahr nach der Gründung der Stiftung St. Galler Museen (1979) die Leitung des Historischen Museums übernommen hatte, war der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verpflichtet. Er beleuchtete in seinen Ausstellungen immer wieder die Schattenseiten der Industrialisierung beziehungsweise der Ostschweizer Textilindustrie und die Situation der Arbeiter, Frauen und Kinder. Die Ausstellungssäle haben sich in den letzten 100 Jahren immer wieder verändert, die Museumsbestände sind stetig gewachsen. Längst hat nicht mehr alles Platz in den heute semipermanenten Dauerausstellungen, viele interessante Objekte warten in den Museumsdepots, bis auch sie wieder ins Scheinwerferlicht rücken dürfen. Der Sinn einer Publikation wie dieser ist daher nicht mehr, den Besucherinnen und Besuchern eine Wegleitung für Rundgänge durchs Museum zu sein, sondern interessante und einmalige Sammlungsstücke vorzustellen, ungeachtet ihres Standorts. Es ist keine erweiterte Beschriftung, sondern eine kurzweilige Lektüre für zuhause. Einige der hier vorgestellten Stücke zählten schon vor 100 Jahren zu den Highlights, wie etwa das Stadtmodell, die Burgunderfahnen oder der grosse sitzende Bodhisattva Avalokiteshvara aus Nordchina. Viele aussergewöhnliche Stücke kamen im Laufe der Zeit hinzu, immer wieder haben Donatorinnen und Donatoren ihr St. Galler Museum berücksichtigt. Dazu zählen etwa Friedrich Eugen Girtanner (Schweizer Porzellan 1943), August Giger (Grafiken mit Schweizer Ansichten 1964 und 1972), Arnold Eversteyn-Grütter (Möbel und
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Ostasiatika 1967), Giovanni Züst (Silber 1969), Franz Lakner (Flachgewebe aus Indonesien 1998), Kurt Gull (Textilien und Schmuck aus Vorder- und Zentralasien 2002) oder Otto und Erika Stadler (Prozessionsfiguren aus Südindien 2014). Auch zwei Sammler von Weltrang sind vertreten: 1940 wurden Teile der berühmten Kollektion von Han Coray angekauft, 1964 erhielt das Museum testamentarisch Teile der Südsee-Sammlung von Eduard von der Heydt geschenkt. Für viele Sammlungsbereiche gibt es mittlerweile detaillierte Kataloge. In dieser Publikation sind jedoch erstmals alle Abteilungen vereint – Archäologie, Geschichte, Ethnologie und sogar das Kindermuseum. So bietet sich die Möglichkeit zum Vergleich und zu einer Gesamtschau. Ausgewählt wurden Gegenstände, die eine besondere Geschichte erzählen. Dabei sollten möglichst viele Räume und Zeiten, Materialien und Sparten vertreten sein. Wert wurde insbesondere darauf gelegt, Frauen vorzustellen: historische Persönlichkeiten wie die St. Galler Ärztin Frida Imboden, Künstlerinnen wie Hedwig Scherrer, Donatorinnen wie Bertha Hardegger, Porträtierte wie Margaretha Zili oder Frauen in verschiedenen Kulturkreisen – als Kultfigur, Königin oder Mutter mit ihren Kindern. Entstanden ist ein Gemeinschaftswerk mehrerer Autorinnen und Autoren, die ihre Erfahrungen, Sichtweisen und ihren eigenen Stil eingebracht haben. Wir wünschen viel Vergnügen beim Schmökern!
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Monika Mähr
Katalog
1 Vorhängeschloss des Brühltors mit Grotesken St. Gallen, um 1573 Eisen geschmiedet, graviert Schenkung Markus Kaiser 2016 G 2016.502
Der tägliche Lockdown früher Vorhängeschloss des Brühltors, St. Gallen Unter den Beispielen der Schlosserkunst im Museum sticht dieses Stück hervor, weil es Einblick in einen speziellen Aspekt des öffentlichen Lebens gewährt: das nächtliche Abriegeln der Stadt zum Schutz ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Das Schloss ist nach der Erneuerung des Brühltors 1573 entstanden, wobei nicht überliefert ist, welcher Zugang damit verriegelt wurde. Beim Karlstor kann man heute noch erkennen, dass es ein inneres und ein äusseres Tor gab. Im Dekor des Vorhängeschlosses spiegelt sich der Handwerksstolz der Schmiedezunft, zu der die Schlosser zählten: Zwischen fein gravierten Ranken tauchen lustige Fratzengesichter (Grotesken) auf – eine Vorliebe der Renaissance, die das Kunsthandwerk in unserer Gegend von 1525 bis 1635 prägte. Jeden Abend wurden die Stadttore nach dem Läuten einer Glocke um 22 Uhr geschlossen. Für diese wichtige Aufgabe waren zwei Torschliesser mit mehreren Schlüsseln zuständig. Sie lösten die Torhüter ab, die untertags den Verkehr kontrollierten. Kurz vor Torschluss erschallte der Ruf: «Lauf!» Wer jetzt noch draussen war, musste sich sputen. War das Tor verriegelt, traten die sogenannten «Torwachter» ihren Dienst an. Sie patrouillierten in der Nacht und prüften die Schlösser. Immer wieder gab es Vorfälle, die den Rat der Stadt beschäftigten. 1566 rügte er die Torhüter, weil sie, statt Personen zu kontrollieren, Hühner und
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Eier aufkauften. 1572 musste er wiederum die Torschliesser ermahnen, sie sollten ihre Waffe bei sich tragen und «nicht in blossen hemperen wie die wöscheren [Wäscherinnen] dastehen». Liederliche Wachter wurden 1661 verzeigt, weil sie Frauenbesuch hatten. Man erklärte sich damit auch die steigende Zahl von Einbrüchen in der Stadt. 1834 war der nächtliche Spuk vorbei, die Torsperren wurden aufgehoben. Beim Abbruch des Brühltors 1836 erwarb Landeshauptmann Joseph Anton Alois Sutter vom Schloss Appenzell das Vorhängeschloss mit der Bemerkung: «Me chas velicht no e mol bruuche.» mm
2 Bernsteinschmuck Montlingerberg, Oberriet, 1100 – 975 v. Chr. Bernstein KASG MB 1913:580a
Grenzenloser Handel Bernsteinschmuck vom Montlingerberg, Oberriet 1913 kamen während Steinbrucharbeiten auf dem Montlingerberg Bernsteinperlen und -knöpfe zum Vorschein, die insgesamt stattliche 355 Gramm wiegen. Die zwölf kugeligen und halbkugeligen Knöpfe waren als Zierde auf Kleidungstücken aufgenäht. Die langen, spiralig gerillten, bronzezeitlichen Perlen vom Typ Allumiere gehörten wahrscheinlich zu einer mächtigen Halskette. Das fossile Harz aus dem Ostseeraum war seit der Steinzeit wegen seiner Schönheit begehrt und auch wegen der magischen Kraft, die ihm zugeschrieben wurde. Da muss jemand auf dem Montlingerberg gelebt haben, der sich das Luxusgut Bernstein leisten konnte. Tatsächlich lebten hier seit etwa 1050 v. Chr. Menschen in einer Siedlung, die durch einen mächtigen Wall geschützt war. Auf dem Areal fanden sich Objekte aus Nord- und Mittelitalien, aus dem Tirol, dem schweizerischen Mittel-
land und Süddeutschland. Der Montlingerberg war also ein Verkehrsknotenpunkt in einem paneuropäischen Handelsnetz! Es gab zwar noch keine Strassen. Dafür reisten die Menschen und Güter übers Wasser, zu Fuss und auf Saumpfaden durchs Mittelland, über die Alpen, in alle Richtungen. Die Allumiere-Perlen gelangten nicht direkt von der Ostsee ins Rheintal. Sie wurden möglicherweise in einer Werkstätte südlich von Padua verarbeitet (Frattesina di Fratta Polesine, Provinz Rovigo). Allumiere-Perlen sind in ganz Nord- und Mittelitalien verbreitet. So ist der Bernstein also erst von der Ostsee nach Italien gereist, um danach als Schmuckkette wieder die Alpen zu überqueren und auf dem Montlingerberg getragen zu werden. Von wem? Von einem Mann oder einer Frau? Auf jeden Fall von keiner bescheidenen Person, denn mit einer solchen Kette klotzt man, aber richtig! Die Bernsteinkette war wohl nicht nur ein Zeichen für Reichtum, sondern für Macht und Ansehen. Vielleicht war sie ein Dankesgeschenk oder Zeichen eines politischen Bündnisses, vielleicht die Mitgift einer wohlhabenden Frau – auf jeden Fall ist sie Ausdruck des grenzenlosen Handels 1000 Jahre vor Christi Geburt. js
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3 Hängerolle einer Kanbun bijin Japan, um 1700 Tusche und Farbe auf Seide Schenkung Arnold und Claire Eversteyn-Grütter 1932 VK B 3598
Schönheit – eine Frage der Betrachtung? Hängerolle einer Kanbun bijin, Japan
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In der Malerei des 17. Jahrhunderts war das japanische Verständnis von Schönheit eng mit der Darstellung der Kleidung, des Makeups und der Körperhaltung verbunden. Ganz im Gegensatz zur europäischen Kunst dieser Zeit, welche die Schönheit des Menschen vor allem in der nackten Figur und dem weiblichen Körper an sich zu finden glaubte. Unser Damenporträt gehört zu der Bildergattung der Kanbun bijin-e oder «Bilder von Schönheiten der Kanbun-Ära». Solche Hängerollen repräsentieren aktuelle Schönheitsidole wie beispielsweise modisch gekleidete Kurtisanen, Tänzer oder junge Schauspieler der Kanbun-Zeit (1661 – 1672). In der Darstellung verschwinden die Konturen des weiblichen Körpers gänzlich unter den mehrlagigen, exquisiten Gewändern. Sie lenken die Aufmerksamkeit voll und ganz auf die kontrastierenden Muster und Schnitte der opulenten Stoffe der Kanbun-Zeit. Unterstrichen wird die elegante Pose der vornehmen Frau durch das weiss geschminkte Gesicht und die zarte Hand, die den kostbaren Kimono zurechtrückt und den Blick auf eine kleine Katze freigibt. Malereien mit Frauenporträts wie diese Hängerolle sind selten und gehören zu den Vorläufern der bekannten Ukiyo-eFarbholzschnitte («Bilder der fliessenden Welt»), die wenige Jahrzehnte später in Japan zuhauf in jfe Umlauf kamen.
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4 Schaufigur einer Herero-Frau Hamburg, vor 1920 Firma Umlauff Papiermaché-Masse Ankauf 1921 VK 2007.187
Der erste Völkermord im 20. Jahrhundert Schaufigur einer Herero-Frau, Hamburg / St. Gallen
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Nachdenklich und etwas müde sitzt sie da – heute im Depot, davor jahrzehntelang in der AfrikaAusstellung. Sie gehört zu den 29 ethnographischen Schaufiguren, die man für die Eröffnung unseres Museums 1921 gekauft hatte. Zwanzig davon sind noch heute erhalten. All diese Figuren, produziert von der Firma Umlauff in Hamburg, erzählen mehrere Geschichten, die Herero-Frau die wohl empörendste und bedrückendste. Sie erinnert an den Herero-Aufstand 1904 – 1908. Südwestafrika, das heutige Namibia, war 1884 deutsche Kolonie geworden. Der Aufstand der Herero gegen die Landenteignungen endete mit einer schrecklichen Niederlage. Tausende verdursteten mit ihren Rinderherden – der Lebensgrundlage der Herero – in der Wüste, wohin das deutsche Kolonialheer sie vertrieben hatte. Seit dieser Kata strophe gehören die überlieferten Lebensformen dieses Bantu-Volks endgültig der Vergangenheit an, ebenso die aus Leder gefertigte Tracht der Herero-Frauen. Um 1900 waren solche «lebensechten» Schaufiguren ein beliebtes Mittel, um in Völkerkundemuseen aussereuropäische Kulturen zu inszenieren. Sie sollten die verschiedenen «Menschentypen» darstellen. Als Vorlage dienten meist Fotografien aus der entsprechenden Weltgegend. Ausgestattet waren die Figuren mit Kleidung und Utensilien, die man ebenfalls für «typisch» hielt: Schmuck, Arbeitsgeräte, Waffen – darunter viele originale Stücke. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Schaufiguren zunehmend als veraltet und fragwürdig empfunden, als exotisch-kulissenhafte, ja rassistische Verallgemeinerung, die den jeweiligen Menschen und Kulturen nicht gerecht wird. In den 1970er-Jahren waren die meisten Figuren aus den Museen verschwunden. Seitdem werden sie nur noch gelegentlich ausgestellt, insbesondere in historischem Kontext und in Form künstlerischer Interventionen. pm
5 Wirtshausschild zur Sonne Alt St. Johann, 1702 Kasein oder Eitempera auf Holz Ankauf 1910 G 8432
Ein Fenster in die Klimageschichte Wirtshausschild zur Sonne, Alt St. Johann Ein wunderbares Wirtshausschild: Es stammt aus Alt St. Johann im Obertoggenburg und ist auf 1702 zu datieren. Die Menschen in der Ostschweiz damals waren viel stärker vom Wetter abhängig als heute – nur schon wegen der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelversorgung. In dieser Beiz in Alt St. Johann war die Sonne sicher ein Dauerthema, und die Gäste wussten allerlei über sie, aus der eigenen Erfahrung, dem eigenen Alltag – ganz ohne SRF Meteo, ganz ohne Wetter-App. Bemer-
kenswert auch: Damals befand man sich mitten in einer globalen Kälteperiode, die heute als «Kleine Eiszeit» bezeichnet wird. Sie dauerte vom späten 13. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert. Eine besondere Kältephase zog sich über die Jahre 1688 – 1701, sie brachte Missernten, Mangel, Hunger und Not – auch Tote. Auch darüber erzählten sich die Gäste in der «Sonne» sicher allerlei. In die «Sonne» ging man aber nicht nur, um zu trinken und zu diskutieren. Wirtshäuser waren auch im Toggenburg eigentliche Brennpunkte der traditionellen Volkskultur, schreibt der Historiker Fabian Brändle, der sich eingehend mit dem Thema beschäftigt hat. Sie waren Orte der Entspannung und der Kommunikation, des Feierns und Politisierens, des Geschäftens und der Beziehungspflege. Sein Fazit: «An einem einzigen Abend mochte ein Gast trinken, ein Gespräch führen, seinen politischen Standpunkt äussern und ein Geschäft in pm Form des ‹Weinkaufes› abschliessen.»
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7 Hochrad Oberriet, um 1890 Metall, Leder, Holz Ankauf 1932 G 14086
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6 Haschisch-Täfelchen Ägypten, vor 1904 Schenkung Oscar Scheitlin-Sonnenfeld 1903 VK C 0745
8 Richtschwert St. Gallen, 1572 Eisen, Stahl, Schlangenhaut Altbestand G 2004.032
9 Siegel des St. Galler Siechenhauses St. Gallen, 1347 Messing Umschrift: + (Malteserkreuz) S * LEPROSOR * APD * SCTV * GALLVM Sigillum leprosorum apud Sanctum Gallum (Siegel der Leprakranken bei Sankt Gallen) Ankauf um 1920 G 18422
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Zu alt für einen Joint Haschisch-Täfelchen, Ägypten
Ein Rennrad ohne Übersetzung Hochrad, Oberriet
Auch im Museum gehen Objekte gelegentlich vergessen. Man kann ja nicht alles präsent haben, und schon gar nicht alles ausstellen. Die beiden Haschisch-Täfelchen sind ein Beispiel. Sie schlummerten lange im Depot vor sich hin und wurden erst vor vier Jahren wiederentdeckt. Zwei Haschisch-Proben, gut 120 Jahre alt. Würden sie heute noch ihre Kraft entfalten? Eine Anfrage beim Forensisch-Naturwissenschaftlichen Dienst der Kantonspolizei St. Gallen 2016 ergab: wohl kaum. Weil die Probe sehr alt sei, dürften chemische Abbaureaktionen zu Veränderungen geführt haben. Würde man das Haschisch rauchen, würde es wohl etwas anders «schmecken» und die halluzinogene Wirkung ausbleiben. Interessante, reizvolle Museumsobjekte sind die beiden Täfelchen trotzdem – aber nicht die ältesten ihrer Art. Die MarihuanaMuseen von Amsterdam und Barcelona zum Beispiel dürften noch ältere Haschisch-Proben besitzen. Dafür besitzt unser Museum in seiner Sammlung noch ein anderes Drogen-Muster: Koka-Blätter aus Peru, eine Schenkung von 1905. Auch sie dürften ihre Wirksamkeit inzwischen verloren haben. pm
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Das Hochrad stammt mutmasslich aus der Produktion der ersten Fahrradfabrik auf kontinentaleuropäischem Boden, der Firma Goldschmidt & Pirzer, ehemals ansässig im bayrischen Neumarkt. Sie fertigte die Hochräder vermutlich nach englischen Vorbildern. Schnell hatte das Fahrrad seine Anhängerschaft gefunden. Veloclubs wurden gegründet, und in den Städten entwickelte es sich zum geeigneten Mittel für den Individualverkehr. Im Vergleich zu Pferd und Kutsche war es wesentlich günstiger zu erwerben und zu unterhalten. Permanent suchten die Erfinder nach Lösungen, um die Technik des neuen Verkehrsmittels zu verbessern. In den 1880er-Jahren kamen Luftreifen auf, und der übersetzte Antrieb wurde eingebaut. Der Komfortgewinn und die Fahrbarkeit stiegen mit der nun möglichen Verwendung von Vorder- und Hinterrad in gleicher Grösse. Das Hochrad hatte noch keines dieser Komfortmerkmale vorzuweisen, einzig der Schnursattel der Firma Nagel sorgte für ein wenig Entspannung für das «Sitzfleisch». Aus heutiger Sicht wirkt ein Hochrad mit seinen zwei ungleich grossen Rädern ungewohnt, ja akrobatisch. Bei allen Schwierigkeiten, die es bot, wie beispielsweise das Aufsteigen über das Hinterrad, ermöglichte der direkte Pedalkurbelantrieb auf das grosse Vorderrad viel höhere Geschwindigkeiten, als man es bis anhin gewohnt war. Mit etwas Verspätung wurde auch in der Schweiz die Fahrradproduktion aufgenommen. 1895 sind 14 Fahrradfabriken verzeichnet. Wie dieses Exemplar in die Schweiz und an seinen Verwendungsort in Oberriet kam, ist nicht überliefert. 1932 fand das Hochrad nach geschätzten vierzig Jahren auf der Strasse den Weg in die Museumssammlung. Seitdem wird es nicht nur aus Sicherheitsgründen nicht mehr gefahren, sondern auch um der Nachwelt ein einzigartiges Zeugnis der Veras kehrsgeschichte zu erhalten.
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Ein Werkzeug der makabren Art
So en arme Siech!
Richtschwert, St. Gallen
Siegel des St. Galler Siechenhauses
Das Schwert, das in seiner Aufmachung sehr schlicht gehalten ist, wird der Scharfrichterfamilie Näher beziehungsweise Neher zugeschrieben. Familienmitglieder aus diesem Geschlecht übten das Amt von Ende des 16. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert in verschiedenen Städten der Schweiz und des angrenzenden Auslands aus – auch in St. Gallen. Auf dem Schwert ist die Jahreszahl 1572 eingraviert, ferner das Meisterzeichen eines unbekannten Schmieds. Als letzter verwendete das Schwert mutmasslich Sebastian Näher, der es nach 101 Urteilsvollstreckungen an die Obrigkeit der Stadt St. Gallen übergab. Die Arbeit des Henkers war Präzisionsarbeit. Die Trennung eines Kopfs vom Körper durch das Schwert musste präzis ausgeübt werden, mehrere Hiebe zur Durchtrennung des Halses waren als dilettantisch verpönt. Der Beruf des Scharfrichters galt als unehrenhaft, und die Bürger waren gehalten, den Kontakt zum Scharfrichter und dessen Familie möglichst zu vermeiden. Gelegentlich war ein heimlicher Besuch bei ihm allerdings hilfreich. Sein Beruf brachte es mit sich, dass er umfangreiche Kenntnisse über die menschliche Anatomie besass. Schliesslich war er auch bei der «peinlichen Befragung» vor Gericht, also bei Folterungen, anwesend und musste die Angeklagten nach dem Verhör wiederherstellen, ihnen zum Beispiel die ausgekugelten Gelenke einrenken. Man suchte ihn also auch auf, wenn man sich im Alltag etwas ausgerenkt hatte, oder um magische Heilmittel zu erwerben. So gehörte der Scharfrichter im weiteren Sinn zum medizinischen Personal und konnte sein Wissen auch nutzen, um Verletzungen zu lindern und zu heilen. as
Bildliche Darstellungen sind wertvolle Ergänzungen zu schriftlichen Quellen, die Geschichte wird besser fassbar. Dieses Beispiel zeigt einen Aussätzigen beziehungsweise Leprakranken und ist ein besonders seltenes Zeugnis aus dem Spätmittelalter. Die Lepra war von der Antike bis ins 18. Jahrhundert in Europa allgegenwärtig. Die Krankheit wird durch Bakterien ausgelöst und ist über Tröpfchen- und Schmutzinfektion übertragbar. Für die damalige Welt, die von der Existenz der Bakterien noch nichts wusste, standen dahinter Probleme mit der «schwarzen Galle» und eine göttliche Strafe. Wer die Diagnose erhielt, an Lepra erkrankt zu sein, war wahrlich «en arme Siech» («siech» = immerzu kränklich; vgl. englisch «sick»). Dann hiess es, Abschied von der Familie zu nehmen. Fortan lebte man abgesondert und als Aussenseiter der Gesellschaft im Siechenhaus. Das älteste Leprosorium in der Schweiz geht auf den St. Galler Klostergründer Abt Otmar (reg. 719 – 759) zurück. Eine weitere Einrichtung für die Stadt entstand vor 1219 ausserhalb der Stadtmauern im Linsenbühl. Das obige Siegel ist erstmals auf einer Urkunde von 1347 erhalten. Neben dem Heiliggeist-Spital war das Siechenhaus die wichtigste Fürsorgeinstitution der Stadt – mit Landgütern im Umland, um die Versorgung sicherzustellen und den sozialen Auftrag erfüllen zu können. Neben dem Siechenhaus stand die ehemalige Linsenbühlkirche, verbunden über eine gedeckte Brücke. Die Aussätzigen waren zu fleissigem Kirchgang angehalten, dienten auch als Fürbitter für andere Menschen. Um zu ihrem Lebensunterhalt beizutragen, mussten sie betteln gehen. Wie auf dem Siegel zu erkennen ist, trugen sie spezielle Kleidung, eine Almosenschale und eine Klapper. Damit machten sie auf sich aufmerksam, gleichzeitig war es ein Signal für alle, die Abmm standsregeln einzuhalten.
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10 Drei Inrō mit Netsuke Japan, 18./19. Jahrhundert Gold-, Schwarz-, Rotlack, Hirschhorn, Holz, Achat, Perlmutt, Glasperle Schenkung E. Schürpf- von Schantz 1945 VK B 3205, B 3217, B 3237
Die Welt am Gürtel Drei Inrō mit Netsuke, Japan
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Inrō sind kostbare Behälter in handlicher Form. Sie wirken unscheinbar, doch ein genauerer Blick eröffnet uns eine Welt voller raffinierter Details in Dekor, Form, Materialität und Funktionalität. Ihre Konstruktion besteht aus mehreren Fächern, die man am Gürtel des traditionell taschenlosen Kimonos mithilfe eines Sicherungsknebels in Knopfform (Netsuke) befestigen kann. Das Inrō, seine Kordel und sein Netsuke bilden somit eine untrennbare Einheit, deren sensible Abstimmung ein besonderes Kunstwerk im Miniaturformat ergibt. Die kleinen Container haben in Japan eine lange Tradition. Sie dienten einst dem Transport von persönlichen Siegeln, Stempelkissen, Nachrichten, Pillen, Tabak oder Tusche. Die früheste bekannte Schriftquelle zur Verwendung von Inrō in Japan ist ein Bestandeskatalog des Engaku-Tempels in Kamakura aus dem Jahr 1363. Die dort beschriebenen, frühen Formen waren hauptsächlich aus Elfenbein geschnitzt und wurden als Tobutsu, «chinesische Dinge», bezeichnet. Inrō und netsuke befanden sich demnach in China schon weitaus früher in Gebrauch. Erst unter Shogun Ashikaga Yoshimasa (1435 – 1490) bildete sich die heutige Gestalt der Inrō als kunstvoll dekorierte Lackarbeiten heraus. Verwendet wurden wertvolle Materialien wie verschiedenfarbige Lacke, Perlmutt, Edelsteine, Metalleinlagen, Silber- und Golddekore. Für die Anfertigung eines Inrō auf Schwarzlack wurden beispielsweise bis zu zwanzig Schichten Lack aufgetragen und poliert. Erst danach konnte mit dem Auft rag des Streubilds (Maki-e) begonnen werden, sodass man zur Fertigstellung eines Motivs mit bis zu sechzig Arbeitsschritten rechnen jfe musste.
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11 Würfelspiel «Reise durch die Schweiz» Ravensburg, 1891 Otto Maier Verlag Farblithografie auf Papier, Karton Schenkung Thomas Braunwalder 1996 G 1996.008
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Erster Halt: Ostschweiz! Würfelspiel «Reise durch die Schweiz – Voyage en Suisse», Ravensburg Reisespiele sind Klassiker und eine willkommene Abwechslung für die ganze Familie. Die Schweiz als Sehnsuchtsort, mit ihren Kurbädern und Zahnradbahnen, mit ihrer Natur und Kultur, lädt hier zum Erkunden ein. Heute fliegt man mit kleinen Helikoptern über das Spielfeld, während die Fortbewegungsmittel um 1900 Postkutsche, Dampfschiff und Eisenbahn waren. Ausgangspunkt des Spiels ist Lindau, was mit Otto Maier zu tun hat, dem Gründer der «Ravensburger Spiele» aus der gleichnamigen Stadt. Sein erster Erfolg hiess 1884 «Reise um die Erde», ins-
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piriert von Jules Vernes Bestseller «In 80 Tagen um die Welt». Die Schweizerreise führt zuerst über den Bodensee zum Kurort Heiden. Dann heisst es schon: «St. Gallen kommt nun an die Reih’ mit seinen Schätzen mancherlei. Und Speis’ und Trank, nur fein und echt, das finden wir im Hotel Hecht.» Ein Ausflug zum Säntis verläuft noch ohne Schwebebahn; diese wird erst 1933 gebaut. Auch im Engadin ist St. Moritz noch nicht der Rede wert, ebenso wenig im Wallis das Matterhorn und Zermatt. Hingegen werden der Üetliberg besucht und der Tödi im Glarnerland. Nicht fehlen darf eine Fahrt durch den Gotthardtunnel. Es folgen bekannte Sehenswürdigkeiten wie das Schloss Chillon oder der Rheinfall, man erfährt etwas über die Schlacht bei Murten, und natürlich das Rütli. Am Vierwaldstättersee gibt es die neue Pilatusbahn zu bestaunen, die steilste Zahnradbahn der Welt, eröffnet 1888. Hingegen ist die Jungfraubahn noch kein Thema, sie folgte erst 1898. Endlich im Ziel, «grüsst freundlich uns das liebe Bern». Spiele wie dieses stammen aus gutbürgerlichen Kinderzimmern. Die aufwendige Gestaltung hatte ihren Preis. Otto Maier griff gern aktuelle Themen auf. Hier ist es der aufblühende Tourismus in der Schweiz. Auch wenn sich noch lange nicht jede Familie Ferien leisten konnte, mit der Eisenbahn wurde die Mobilität der breiten Bevölkerung zunehmend Realität. mm
12 Sprechtrommel Kamerun, vor 1904 Holz Ankauf 1921 VK C 2287
Der «Telegraf der Eingeborenen» Sprechtrommel, Kamerun Völkerkunde-Konservator Robert Vonwiller erwarb diese Trommel 1921, ein halbes Jahr nach der Eröffnung unseres Museums. Die Objektlegende, die er dazu verfasste, hat sich erhalten. Sie zeigt eine wichtige Möglichkeit, wie man Brücken zwischen fremden Kulturen und der eigenen schlug: mit Vergleichen. So wurde die Nachrichtentrommel aus dem Grasland von Kamerun zum «Telegraf der Eingeborenen», wie Vonwiller es formulierte: «Durch verschiedenartiges Anschlagen der beiden Seiten können sie die ganze Sprache ausdrücken & so eine Kunde durch Schall im ganzen Lande verbrei-
ten.» Der Vergleich hatte allerdings seine Grenzen. Die Reichweite der Nachrichtentrommeln war limitiert. Der elektrische Telegraf sorgte für die erste weltumspannende Nachrichtenübermittlung. Damit war er eine wichtige technische Voraussetzung für die Hochblüte des europäischen Imperialismus und Kolonialismus nach 1850. Verkäufer der Nachrichtentrommel war Bartholome Gantenbein (1871 – 1927), ein Mann mit einer bewegten Biografie. Er wuchs als Sohn eines Wagenmachers im ländlichen Grabs auf. 1890 trat er in die Basler Mission ein, 1896 ging er als Missionar nach Kamerun. Acht Jahre später kehrten er und seine Frau in die Schweiz zurück, weil sie gesundheitlich angeschlagen waren. In St. Gallen war Gantenbein Stadtmissionar der Evangelischen Gesellschaft und ab 1921 Pfarrer am Kantonsspital. Insgesamt schenkte oder verkaufte er unserem Museum 46 Objekte. pm
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13 Frauenmaske ngady mwaash Demokratische Republik Kongo, um 1900 Holz polychrom gefasst, Raphiagewebe, Kaurischnecken, Glasperlen Ankauf 1940 VK C 3152
Eine Schönheit, die man tanzen sehen möchte Frauenmaske ngady mwaash, Demokratische Republik Kongo Das Volk der rund 250 000 Kuba lebt in einem Gebiet, das von drei Flüssen begrenzt ist. Es besteht aus verschiedenen Gruppen. Unter ihnen gelten die Bushong als diejenige, die die Dynastie der Herrscher hervorbrachte. Neben den bekannten Ndop-Skulpturen, die verschiedene Könige darstellen, oder den Raphiageweben mit ihren auffälligen, geometrischen Mustern, sind die Kuba für ihre Maskenschnitzereien bekannt. Masken waren neben Initiationsriten vor allem als Ritualtänze während wichtiger Zeremonien am Königshof zu sehen. Dabei wurde der gesamte Körper des Tänzers bedeckt und der Kopf unter farbenprächtigen Stülpmasken versteckt. Drei Masken typen, die in Zusammenhang mit der Schöpfungsmythologie der Kuba stehen, stechen hervor: Die Masken mbooy und ngady mwaash stellen das Königspaar Woot und Mweel dar, gleichzeitig Bruder und Schwester. In Konflikt mit den beiden steht Bwoom, der Woot die Beziehung zur Schwester und den materiellen Besitz missgönnt. Die Gesichtsmaske der ngady mwaash (Mweel) fällt durch ihr geometrisches Oberflächendesign auf, mit schillernden Kontrasten von Farbe, Muster und Textur. Von den Augen aus verlaufen «Tränenlinien» über die Wangen. Über die Nase und bis zur Oberlippe ziehen sich schwarz-weiss kon trastierende Rechtecke. Dreiecke und Linien überziehen das restliche Gesicht. Glasperlen formen die Augenbrauen. Die Maske allein, als statisches Objekt betrachtet, bringt noch nicht die ihr gebührende Weiblichkeit zum Ausdruck und lässt noch nicht die Frau erkennen. Die Antwort liegt im Gesamtkonzept, in dem die Maske nur ein Teil der Gesamterscheinung ist. Erst durch die sie darstellende Person wird sie lebendig, erst im Tanz und durch die Art der Bewegungen wird ihre Weiblichkeit zum Ausdruck gebracht. Es ist eine Schönheit, die man as tanzen sehen möchte!
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14 Bronzestatuette Vild, Sargans, 500 – 200 v. Chr. Bronze KASG 34.008.0001.001
Ein Männchen steht im Vilde Bronzestatuette, Sargans Das armlose Männchen aus Bronze trägt einen kurzen Panzer und einen Helm. Gefunden wurde es per Zufall 1861, zusammen mit einem weiteren, heute verschollenen Figürchen, an der alten Schollbergstrasse bei Vild, Sargans, in der Nähe des römischen Gutshofs Malerva. Helm und Panzer sind mit Kreisaugen verziert. Die Nase ist markant, das Kinn leicht vorstehend, der Mund fein, die Füsse sind schuhlos. Der Penis fehlt, vielleicht war er separat eingesetzt. Der Helm ist so fein gearbeitet, dass der Typ bestimmt werden kann: Es ist ein Negauerhelm. Diesen Helmtyp hatten die Etrusker im 5. Jahrhundert v. Chr. im heutigen Italien geschaffen. Er wurde dann im Alpenraum bis zur römischen Eroberung getragen. Im Rheintal finden sich viele weitere Objekte aus den Regionen südlich der Alpen, vor allem Fibeln zum Schliessen der Kleidung und auch Keramik. Das Rheintal hatte also schon lange vor den Römern und den italienischen Gastarbeitern ein Flair für die Lebensweise unserer südlichen Nachbarn! Ganz ähnliche Figuren hat man in Balzers im Fürstentum Liechtenstein, in Lindau und Bregenz sowie im Tirol gefunden. Früher nannte man sie auch «Mars-Statuetten», in der Annahme, dass sie eine kriegerische Gottheit zeigen. Ebenfalls denkbar ist, dass sie die Person darstellen, welche das js Figürchen einer Gottheit geweiht hat.
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15 Figurengruppe «Die Weinprobe» Kilchberg bei Zürich, um 1780 Zürcher Porzellanmanufaktur Porzellan glasiert, Muffelfarben Schenkung Friedrich Eugen Girtanner 1928 G 13102
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