FormatOst Leseprobe
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MuseumsWelten 100 Jahre HVM
MuseumsWelten 100 Jahre HVM Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen
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Inhalt
Inhalt
Arno Noger
8 Vorwort 100 Jahre HVM: Vom Kulturtempel zur modernen Gedächtnisinstitution
Einstieg
14 Das HVM früher und heute Der St. Galler Fotograf Michael Rast stellt Fotos von 1921 nach
Vorgeschichte Peter Müller
34 Am Anfang war die Kantonsschule Die Vorläufer des Historischen und Völkerkundemuseums St. Gallen Peter Müller
42 Vom Verschwinden alter Kulturgüter Ein Dauerproblem des HVM
Arno Noger
18 Bauherrin, Geldgeberin, Museumsherrin Ohne die Ortsbürgergemeinde St. Gallen gäbe es kein HVM Isabella Studer-Geisser
22 Das HVM als Gesamtkunstwerk Ein Spaziergang durch die Säle, Zimmer und Korridore Peter Müller
29 Post und Gäste aus aller Welt Das globale Netzwerk des HVM
Planung, Bau und Eröffnung Peter Müller
48 Ein Museum, gebaut in schwieriger Zeit Das HVM als letzter Leuchtturm der Stadt-St. Galler Stickereiblüte Peter Müller
52 Das HVM öffnet seine Türen Eine Zusammenstellung von Texten und Bildern (1921) Quellentext: August Steimann
58 Auf dem «Meer der Geschichte» Tagblatt-Redaktor August Steinmann über das neu eröffnete HVM 60 Ein Spaziergang durchs HVM 1921 Aufnahmen aus dem Museumsarchiv
Ein rarer Einblick in eine längst vergangene Museumswelt: Die historische Abteilung war 1877 – 1921 im «Alten Museum» untergebracht, dem heutigen Kunstmuseum.
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Aus den Jahren 1921 – 2002 Peter Müller
78 Ein Tempel der Geschichte und Völkerkunde Das HVM in den Jahren 1921 bis 1979 Quellentext: Hans Krucker
82 Städte, Bauersleute, Schüler Völkerkunde-Kurator Hans Krucker über seine Besucher Quellentext: Hermann Bauer
84 Zwischen Alt St. Gallen und Neu-Guinea Museumsaufsicht Wilhelm Zollikofer im Zeitungsporträt von 1961 Peter Müller
88 Was die Völkerkunde lehren kann Die Völkerkunde-Konservatoren Robert Vonwiller und Hans Krucker Robert Mähr
91 Mein Freund, der Apache Erinnerung an einen Besuch des Völkerkundemuseums in den 1960er-Jahren Louis Specker
95 Wozu ein kulturhistorisches Museum? Vom optimistischen Geschichtsglauben zur Geschichte des Alltags Quellentext: Roland Steffan
100 Fragen einer globalisierten Welt Tibet, Islam und Afghanistan: drei Ausstellungen von Roland Steffan Peter Müller
102 Was einmal im HVM war Nicht jedes Objekt bleibt im Museum – drei besondere Beispiele
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Inhalt
Aus den Jahren 2002 – 2021 Daniel Studer
110 Ausbau zur modernen Gedächtnisinstitution Das HVM 2002 bis 2021 Benedikt Zäch
134 Drei numismatische Szenen aus dem Leben eines Historikers – und ein Plädoyer Einblicke in die Münzsammlung des HVM Peter Müller
138 Schlagzeilen aus Stadtpark-Ost Das HVM in den nationalen Medien
Hinter den Kulissen Peter Müller
145 Kaufleute, Missionare – und viele andere Ohne Donatoren und Donatorinnen gäbe es kein HVM Achim Schäfer
149 Vom Eingangsbuch zur Datenbank Ein Blick in die Sammlungsgeschichte des HVM 154 Das HVM backstage Einblicke in eine vielfältige Arbeitswelt Sara Allemann
158 Im Einsatz gegen Rost, Holzwurm & Co. Ein Blick in die Arbeit der Restaurierungs abteilung
Vermitteln, Erleben, Begegnen Jeanne Fichtner-Egloff
166 «Die Welt in der Vitrine» Museologische Herausforderungen im Spiegel der Zeit
Anhang 202 Die Konservatoren und Direktoren im Überblick Geschichte und Völkerkunde 204 Museumswelten auf Plakat und Flyer Eine Auswahl aus den Jahren 1988 – 2021
Monika Mähr
173 Die Sprache der Dinge Ausstellen im kulturgeschichtlichen Kontext Jolanda Schärli
178 Waschen, Spielen, Wünschen Bildung und Vermittlung im HVM: Ein Rückblick auf vierzig Jahre Peter Müller
185 Vom Folkkonzert bis zum Public Viewing Das HVM als Gastort für Fremdveranstaltungen
218 Autorinnen und Autoren 219 Bildnachweise
220 Bibliografie zur Geschichte des HVM 223 Dank 224 Impressum
Peter Müller
190 Fotos für die Ewigkeit Die Freitreppe des HVM als sozialer Ort und Fotokulisse 194 Das HVM im St. Galler Stadtpark Aufnahmen aus verschiedenen Archiven
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Arno Noger
Vorwort 100 Jahre HVM: Vom Kulturtempel zur modernen Gedächtnisinstitution
Mit einem Museum verbinden wir insbesondere den Gedanken an publikumswirksame Ausstellungen und interessante Begleitveranstaltungen. Dies deckt zwei seiner Kernaufgaben ab, nämlich «Ausstellen und Vermitteln» von Kulturgut. Damit das gelingt, sind aber weitere Arbeiten nötig, die oft im Hintergrund und fern der Öffentlichkeit ablaufen. Es geht ums «Sammeln, Dokumentieren, Erforschen und Bewahren». Dazu erarbeiten die grossen Verbände wie der Verband der Museen der Schweiz (VSM) oder der weltweit tätige International Council of Museums (ICOM) anerkannte Standards. Weit zurück liegen die Zeiten, in denen ein pensionierter Gymnasiallehrer eine Museumsleitung übernahm und mit viel Engagement, aber beschränkten Mitteln die Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich machte. Es gibt heute selbstverständlich Aus- und Weiterbildungsprogramme für Museumsfachleute. Wer ein modernes Museum leitet, sollte auf verschiedenen Klaviaturen spielen können. Vielfältig sind die Bedürfnisse der zahlreichen Anspruchsgruppen von ausserhalb des Museums, und ebenso vielfältig sind die Spezialkenntnisse und Aufgaben der Kuratorin-
Ende März 2021: Die sechs mächtigen Säulen des HVM erstrahlen in Gold, zur Feier des 100-Jahr-Jubiläums und gleichzeitig als erweitertes Entree der Jubiläumsausstellung «Klimt und Freunde»
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Vorwort
nen und Kuratoren, der Ausstellungsgestaltenden, der Mitarbeitenden im Sammlungsbereich, der Vermittlung und der Dienste (Kasse, Aufsichten, Technik und Hausdienst). Ebenfalls gewandelt hat sich die Form der Darbietung. Die ganze Sammlung in Vitrinen zu zeigen, mehr der Masse als der Qualität des Einzelobjekts verpflichtet, Beschriftungen von Hand oder mit Schreibmaschine auf kleinen Kärtchen anzubringen – auch das ist vorbei. Heute arbeiten
Fachpersonen der unterschiedlichsten Berufe Hand in Hand. Sammlungen werden digitalisiert, online verfügbar gemacht. Objekte werden bezüglich ihrer Provenienz erforscht, und über sie wird eine ganze Geschichte erzählt. Die Ausstellungen folgen thematischen Konzepten, nehmen Rücksicht auf Erkenntnisse bezüglich textlicher und visueller Aufnahmefähigkeit, integrieren digitale Vermittlungskanäle, kreieren Stimmungen und Informationsmomente in passender Abfolge. Sie
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«Heute Gratiseintritt» verkündet das Plakat am 31. März 2021. Wegen der Corona-Pandemie liess sich der 100. Geburtstag des HVM leider nur in bescheidenem Rahmen feiern.
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Vorwort
bieten sich an für einen schnellen Durchgang wie für eine punktuelle Vertiefung mit verschiedenen Informationsebenen. Sie laden zu wiederholten Besuchen ein – nicht zuletzt aufgrund eines reichhaltigen Rahmenprogramms, das Wissen und Erkenntnisse über den engeren Ausstellungsinhalt hinaus anbietet. Das Museum wird so zu einem Ort des Austauschs im weitesten Sinne. Wenn das Historische und Völkerkundemuseum St. Gallen auf 100 Jahre erfolgreicher Tätigkeit zurückblicken kann, so ist das ein Grund zu Stolz und Freude, denn auch Museen können in Vergessenheit geraten oder gar ganz verschwinden. Unser Haus hat sich in den letzten Jahren dank öffentlicher Hilfe und dank grossem Engagement des Museumsteams enorm entwickelt. Schön gestaltete, gut recherchierte Ausstellungen leuchten nach aussen, aber auch «backstage» ist das ein aufgeräumtes Haus, das seine Sammlungen kennt, sie optimal schützt und dennoch zugänglich macht, dokumentiert und erforscht. Darum ist es dem HVM auch gelungen, sich als zuverlässiger Partner für andere Häuser zu etablieren und für wichtige Ausstellungen auch auf hochkarätige Leihgaben zählen zu können. Und last but not least: Im Laufe dieser 100 Jahre ist unser Haus selbst zu einem Kulturgut von historischer Bedeutung geworden. Entstanden während der Zeit des Ersten Weltkriegs hat es eine wechselvolle Zeit im 20. Jahrhundert und im neuen Millennium erlebt. Wir sehen heute das Historische und Völkerkundemuseum als Gesamtkunstwerk, das Stadt- und Kantonsgeschichte in einem weltgeschichtlichen Zusammenhang zeigt und selbst Teil dieser Geschichte ist. Gereift über 100 Jahre, bereit für weitere Entwicklungen und offen für Neues: Das ist doch wunderbar!
Arno Noger Bürgerratspräsident der Ortsbürgergemeinde St. Gallen Präsident der Stiftung Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen
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Einstieg
Einstieg Das HVM früher und heute
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Das HVM früher und heute Der St. Galler Fotograf Michael Rast stellt Fotos von 1921 nach
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Die Treppe ins Obergeschoss, Stimmungsbild von 2021, (Doppelseite 12/13). 1 Erdgeschoss, Saal II, Asien, Australien und Ozeanien, 1921. 2 Derselbe Saal heute: Seit 2016 ist hier die Ausstellung «Welten sammeln» zu bestaunen, eine verkürzte Weltreise. Die Stationen sind Ozeanien, Amazonien, Altamerika, Afrika und Altägypten.
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2 1 Der Waffensaal im Obergeschoss, 1921. Mit Fahnen und Waffen, Rüstungen und Burgmodellen wurde hier eine heroisch-militärische, vaterländische Vergangenheit inszeniert. 2 Derselbe Saal heute: Seit 2015 lädt er zu einer Entdeckungsreise in die Welt der Indianer & Inuit.
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2 1 Der Archäologie-Korridor im Untergeschoss, 1952/1953. 2 Seit 2014 ist hier die Ausstellung «Faszination Archäologie – Schätze aus St. Galler Boden» zu besichtigen. Die Unterschiede zwischen den beiden Ausstellungen sind eindrücklich.
Das HVM früher und heute
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Arno Noger
Bauherrin, Geldgeberin, Museumsherrin Ohne die Ortsbürgergemeinde St. Gallen gäbe es kein HVM
Das HVM von 1921 ist ein Gemeinschaftsprojekt: Zwei Vereine lieferten die Museumsobjekte, und die Ortsbürgergemeinde St. Gallen (OBG) baute das Museum. Die OBG versteht sich seit Anbeginn und noch heute als eine der wesentlichen Förderinnen des stadt-st. gallischen Kulturlebens.
Die eigentliche Museumsgeschichte St. Gallens startet mit dem Bau des ersten Museumsgebäudes: dem heutigen Kunstmuseum im Stadtpark. Der St. Galler Architekt Johann Christoph Kunkler hatte im Auftrag der Ortsbürgergemeinde den Bau entworfen und in den Jahren zwischen 1873 und 1877 realisiert. Es ist einer der ältesten Museumsbauten und gleichzeitig eines der bedeutendsten neoklassizistischen Gebäude der Schweiz. Der sogenannte Kunklerbau beherbergte ursprünglich die naturhistorische Sammlung der Ortsbürgergemeinde, aber auch die Sammlungen des Historischen Vereins und des Kunstvereins. Der Bürgerrat bemerkte im Jahresbericht 1877 hoffnungsvoll: «Damit ist nun auch grundsätzlich die Bedeutung dieser beider Anstalten für einen weitern Kreis und eine gewisse moralische Verpflichtung des Staatswesens, für das Gedeihen und die Fortentwicklung derartiger, der Allgemeinheit dienender, wissenschaftlicher Anstalten ebenfalls beizutragen, anerkannt.» Die Räume des Kunklerbaus im Stadtpark waren für das Mehrsparten museum schon bald zu klein. 1912 beschrieb der Bürgerrat den Raummangel im Museum und die Notwendigkeit, für die Sammlung des Historischen Museums und die Sammlungen der Völkerkunde durch einen Neubau Abhilfe zu schaffen. Die letzteren waren übrigens seit 1899 im Festsaal des Stadthauses untergebracht, dem Amtssitz der Ortsbürger. Auch das war auf die Dauer keine Lösung. Der Plan, im Stadtpark ein «neues Museum» zu bauen, zeugte von visionärer Kraft im beginnenden 20. Jahrhundert. Es wurde ein Architekturwettbewerb durchgeführt, und mittels Subskription wurde Geld für den Neubau gesammelt. Der Beschluss zum Neubau wurde kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gefällt. Die Eröffnung des neuen Museums im April 1921 setzte ein grosses Zeichen. Im St. Galler Tagblatt schrieb Redaktor August Steinmann: «Späteren Zeiten wird der Bau, der heute dem Schutze der Öffentlich-
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Einstieg
Das Stadthaus, zwischen Kathedrale und St. Laurenzenkirche: seit 1869 der Verwaltungssitz der Ortsbürgergemeinde St. Gallen.
keit anvertraut wird, Zeugnis ablegen von dem Vertrauen zu einer besseren Zukunft.» Und die NZZ lobte die «Genossenburgergemeinde» von St. Gallen dafür, dass sie «den Mut hatte, in schwerster Zeit der Wissenschaft ein so stattliches Heim zu bauen». Das neue Haus, über dem Eingang in goldenen Lettern bezeichnet als «Historisches Museum und Sammlung für Völkerkunde», sollte für fast hundert Jahre der letzte grosse Museumsbau in der Stadt St. Gallen bleiben. Das Sammlungsgebiet des Historischen Museums umfasste in erster Linie die Stadt und den Kanton St. Gallen sowie die appenzellische Nachbarschaft. Die
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1 Sollen das Kunstmuseum, das Naturmuseum und das HVM ein gemeinsames Dach erhalten? Flyer zur kommunalen Abstimmung über die Schaffung der «Stiftung St. Galler Museen» vom 24. September 1978. 2 1979 – 2012 gehörten die Museen im Stadtpark gemeinsam zur «Stiftung St. Galler Museen».
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Einstieg
Sammlung des Historischen Vereins war per 16. Oktober 1917 an die Ortsbürgergemeinde als Trägerin des Museums gegangen, die ethnographische Sammlung der Ostschweizerischen Geographisch-Commerciellen Gesellschaft hatte gemäss Beschluss vom 20. Dezember 1917 den gleichen Weg genommen. In den 1970er-Jahren zeigte sich, dass die Betriebskosten der beiden grossen Museen die finanziellen Möglichkeiten der Ortsbürgergemeinde deutlich überstiegen. Trotz Subventionen von Stadt und Kanton St. Gallen von rund einer halben Million Franken (1975) musste die Ortsbürgergemeinde aus eigenen Mitteln jährlich zwischen 350 000 und 500 000 Franken beisteuern. Solche Beträge konnte sie nicht aus der laufenden Rechnung nehmen – sie war gezwungen, Liegenschaften zu verkaufen, um die nötige Liquidität bereitzustellen. Ein dauernder Mittelabfluss in dieser Höhe hätte die Existenz der Ortsbürgergemeinde aufs Spiel gesetzt. Die überregionale Bedeutung der grossen Museen rechtfertigte eine Neuregelung der Finanzierung, die mit Zustimmung der Bürgerversammlung und der städtischen Einwohnerschaft im Jahr 1978 sowie mit der Gründung der Stiftung St. Galler Museen (1979) und der Übertragung der Museumsgebäude an die Stadt St. Gallen erreicht wurde. Gleichzeitig ging die bisherige Stadtbibliothek Vadiana samt Gebäude an den Kanton über und wurde zur Kantonsbibliothek. Der Bürgerrat hielt im Amtsbericht für das Jahr 1978 abschliessend fest: «Damit ist die Autonomie der Ortsbürgergemeinde für Betrieb und Betreuung der Bibliothek Vadiana und der Museen beendet, und die Verantwortlichkeit geht auf die neuen Organe über. Wenn es auch für die Gemeinde bedauerlich ist, von den langjährigen, zugunsten der Gesamtöffentlichkeit erbrachten Dienstleistungen zurücktreten zu müssen, so darf sie die ihr in den Abstimmungsresultaten gezeigte Wertschätzung der Öffentlichkeit mit Genugtuung und Stolz erfüllen. Bestand und Betrieb sind sichergestellt.» Ein letzter Schritt in der Verselbstständigung des HVM erfolgte im Jahr 2012 mit der Gründung von drei separaten Museumsstiftungen für das Naturmuseum, das Kunstmuseum und das HVM. Die drei Museen werden seither zur Hauptsache mit finanzieller Unterstützung durch die Stadt St. Gallen finanziert. Dazu kommen Leistungsvereinbarungen mit dem Kanton und der Ortsbürgergemeinde St. Gallen. Mit der Eröffnung des Neubaus für das Naturmuseum St. Gallen am östlichen Stadtrand im November 2016 wurde erreicht, dass die drei grossen städtischen Museen je über ein eigenes Museumsgebäude verfügen: drei Museen – drei Häuser – drei Stiftungen. Die Ortsbürgergemeinde engagiert sich noch heute mit ihrem Stadtarchiv und der Vadianischen Sammlung für die Bewahrung, Erschliessung, Erforschung und Vermittlung der Geschichte der Stadt St. Gallen. Sie ist eigentliche Trägerin des Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte, das sich in den letzten Jahren mit den genannten Institutionen gebildet hat. Die Verbindung zum Historischen Verein des Kantons St. Gallen und zum Verein zur Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung besteht durch Mitwirkung in den Vereinsvorständen und über das Erbringen von verschiedenen Dienstleistungen. Dem HVM ist die Ortsbürgergemeinde durch die Mitwirkung im Stiftungsrat und die Unterstützung mit Finanzdienstleistungen heute und auch in Zukunft eng verbunden.
Bauherrin, Geldgeberin, Museumsherrin
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Isabella Studer-Geisser
Das HVM als Gesamtkunstwerk Ein Spaziergang durch die Säle, Zimmer und Korridore
Das HVM kombiniert wie das 1898 eröffnete Landesmuseum in Zürich verschiedene Architekturstile. Es gehört zu den kulturgeschichtlichen Museen und wurde als letztes der grossen Schweizer Museen seiner Art von 1915 bis 1921 erstellt. Die heutigen «Kulturtempel» werden meist als einfache Bauten konzipiert, die möglichst viele Formen der Präsentation ermöglichen. Nicht so bei den bürgerlichen Museen des 19. Jahrhunderts. Das Gebäude selbst sollte visuell schon als Stätte der Kultur erkennbar sein. Wenn wir uns dem HVM vom Stadtpark her nähern, beeindruckt seine klassizistische Fassade über einem massiven Treppenaufbau. Die sechs Säulen mit ionischem Volutenabschluss, die Symmetrie des Gebäudes und seine monumentale Architektur erinnern an einen Tempel der Antike. Die Formensprache der griechisch-römischen Antike wurde im 19. Jahrhundert gern für kulturgeschichtliche Gebäude, Bildungsstätten und Regierungssitze genutzt. Sie stand für Werte von Demokratie und Bildung der Antike. Begleiten wir eine Besucherin bei einem Spaziergang durch das Museum! Sie steigt die breite Treppe hinauf und kommt zu einem kleinen Eingang, der so gar nicht mit der Grösse der Fassade korrespondiert. Soll sie ihr Haupt beim Betreten des Orts vor der Kultur neigen? Ein schmaler Durchgang führt sie zur lichten Halle mit zweiläufiger Treppe, die an ein fürstliches Gebäude des Barocks erinnert. Nun steht sie vor der Wahl, nach Süden in die hellen Räume der Völkerkunde oder Richtung Norden in die kleinteilige Sammlung der regionalen Geschichte und Kultur mit den historischen Zimmern einzutreten. Im Obergeschoss wiederholt sich diese Zuordnung der Säle. Im Scheitelpunkt der Sandstein-Eingänge verraten ein Gesicht, eine Fratze oder Zierelemente die ursprüngliche Funktion des Raums. Die weiss gehaltenen Südsäle mit ihren grossen Vitrinen verströmen den Geist des europäischen Kolonialzeitalters. Hier sollte man Einblick in fremde Kulturen erhalten. Die Form der Präsentation hat sich seither verändert, doch die Räume zeigen immer noch Objekte aus anderen Welten, die – obwohl hinter Glas – eine intensive Kraft und Magie ausstrahlen können. Das Museum ist über langrechteckigem Grundriss errichtet, symmetrisch und klar strukturiert und schliesst mit einem wuchtigen Satteldach. Trotzdem glaubt die Besucherin oft, sich in den Fluren zu verlieren. Doch sie hat nichts zu befürchten. Vielleicht fehlt ihr oftmals die Musse, die doch die beste Begleiterin eines Museumsbesuchs wäre. Es gilt einfach, von Saal zu Saal zu
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3 1 Kassettendecke aus dem Konventssaal des Klosters Pfäfers (1682) im Obergeschoss. 2 Foyer, Eingang zum Studio. 3 Blick vom Foyer zur grossen Treppe in den 1. Stock.
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1 Eine Lampe im Foyer. 2 Eines der vielen, vielen Butzenscheibenfenster, die auf das ganze HVM verteilt sind. 3 Die Decke des Vortragssaals. 4 Die zwei Figuren auf dem Brunnen im Innenhof: ein milder, tierliebender Gallus und sein Bär. 5 Die kleine, hintere Treppe vom Untergeschoss ins Parterre. 6 Detail der grossen Treppe, die vom Foyer in den 1. Stock führt. Links ein Blick in den Tigererker. Er gehörte ursprünglich zum Haus Marktgasse 21, das 1904 abgebrochen wurde.
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1 Die Flügeltüre zwischen Haupteingang und Foyer. 2 Ein kleiner St. Galler Bär hütet die hintere Treppe vom Parterre in den 1. Stock. 3 Gesicht eines australischen Ureinwohners, umrahmt von Papageien. Detail über der Tür zwischen dem grossen Völkerkundesaal im Parterre und dem Stadtmodell-Saal.
wandern, bis man sich in der grossen Halle wiederfindet, wo die breite Treppe ins Obergeschoss führt. Dort wiederholt sich der Reigen, denn die Korridore sind um einen Innenhof angelegt und führen immer wieder zum Anfang zurück. Die hellen Südsäle sind zu jeder Jahreszeit einladend, die kleineren historischen Zimmer sind anziehender in den Wintermonaten, in denen wir uns mehr nach Wärme und Geborgenheit sehnen. Oft erscheint der Wechsel von einem Raum zum anderen, besonders von der Völkerkunde zur Geschichte, etwas abrupt. Dann heisst es, langsam von einer Kultur zur anderen, einem Thema und Jahrhundert zum nächsten zu schlendern, auch einmal innezuhalten. So lassen sich kleine Besonderheiten und manch Kurioses erkennen, das sonst übersehen wird. In den historischen Zimmern erstaunt immer wieder, wie präzis die Einbaumöbel, die reichen Täfer, Riemenböden oder Kassettendecken vergangener Jahrhunderte in die Räume passen. Wie konnte das bei der Planung des Museums so genau berechnet werden? Bei genauem Betrachten spürt die Besucherin, dass einiges Alters- oder Gebrauchsspuren aufweist. Zum Teil wechseln die Farbe oder die Struktur gewisser Hölzer bei den Decken, und einige Malereien scheinen zu frisch in den Farben. Heute würden wir bei einem Neubau, in den historische Substanz eingefügt wird, anders verfahren. Man sähe sofort, was original ist und was ergänzt wurde. Anders in der Zeit des Historismus, als dessen später Zeuge das HVM
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zu bezeichnen ist. Damals bediente sich vor allem die Architektur früherer Baustile. Auch nichteuropäische Stile, indische, maurische oder asiatische Elemente wurden gern genutzt. Das Interesse an der Geschichte und an fremden Ethnien, sicher auch genährt durch die Kolonien europäischer Staaten in Afrika und Asien, spielte eine Rolle. Die Schweiz hatte keine Kolonien, doch viele Kaufleute und Fabrikanten versuchten ihre Waren auf fremden Märkten zu verkaufen. Reiseberichte von Weltenbummlern fanden grosses Interesse in der Heimat. Sie brachten Erfahrungen, Objekte, Zeichnungen und bald auch Fotografien aus der Fremde zurück. Der Historismus drückt dieses Interesse am Fremden aus, doch bald wurde diese Art der Stilkopie kritisiert. Die Faszination für das Fremde blieb und führte zur ersten Reformbewegung in unserer Region, dem Jugendstil, der vor allem östliche Einflüsse mit der hiesigen Kultur vermischte. So kann unsere Besucherin im HVM auch ihre Augen schulen. Ist die Decke in der Eingangshalle nun original Renaissance oder eine Kopie des Historismus um 1920? Das liebliche Deckengemälde im barocken Bayersaal: Warum muss es aus dem 20. Jahrhundert stammen? Es ist ein vergnügliches Spiel, bei dem ein gutes Auge und genaue Beobachtung viel entdecken lassen. Ansonsten kann man sich an die erklärenden Texte wenden. Im Bayersaal des Obergeschosses lässt die geschwungene Treppe ins Dachgeschoss glauben, man befände sich in einem barocken Bürgerhaus oder Kloster. Einiges stammt wirklich aus der Barockzeit, anderes aus der Hand eines geschickten Schreiners um 1920. Der Aufstieg lohnt sich: Im Kindermuseum gibt es viel zu entdecken und auszuprobieren – auch für Erwachsene. Und auf dem Rückweg lohnt sich ein Abstecher in die Korridore und Räume des Untergeschosses zur Ausstellung Faszination Archäologie. So ist das HVM ein Ort reich an Geschichte, Welten, Zeiten. Und ein Lehrbuch, das auch ohne mobile Objekte überaus viel zu erzählen weiss.
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1 An der Finissage der Ausstellung «Indiens Tibet» zerstören Mönche aus dem tibetischen Klosterinstitut Rikon ZH ein Sandmandala, 2010. 2 Buddhistische Mönche aus dem Kloster Rikon ZH sind wieder im HVM zu Gast, diesmal an der Vernissage der Ausstellung «Guge – Vergessenes Königreich in Westtibet», 25. November 2016. 3 Indonesische Tänzerinnen bei der Vernissage der Ausstellung «Wayang –Licht und Schatten», 2007/2008.
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Peter Müller
Post und Gäste aus aller Welt Das globale Netzwerk des HVM
Die Briefträger werden wohl immer wieder gestaunt haben, welche Post sie im HVM abzuliefern hatten. Der Kurator der Völkerkunde-Abteilung korrespondierte mit der halben Welt und musste das tun, wenn er seine Sammlung ausbauen, pflegen und erforschen wollte. Das Korrespondenz-Archiv zeigt ein beeindruckendes Netzwerk. Es umfasst Donatoren, Ethnographica-Händler, Wissenschaftler, Universitäten, andere Museen, wissenschaftliche Gesellschaften, Freunde, Bekannte … Archivalisch ist es inzwischen gut erschlossen. Seine wissenschaftliche Aufarbeitung aber ist erst ansatzweise erfolgt. Es wäre eine Riesenarbeit. Auch über die Persönlichkeit, das Leben und das fachliche Selbstverständnis der Konservatoren erzählen die Briefe und Karten manches – vor allem, weil von der ausgehenden Post vieles in Durchschlägen erhalten ist. Am reichsten dokumentiert ist Hans Krucker, der die völkerkundliche Sammlung 1928 – 1969 betreute. Die folgenden Beispiele vermitteln einen Eindruck davon. Am 28. Juni 1929 scherzt Krucker in einem Brief an den Geologen Edmund Scheibener in Java: «Als anhänglicher St. Galler wird Sie die Mitteilung interessieren, dass wir nächsten Dienstag das Eingeborenenfest, unser Kinderfest feiern. Heute schon webt die Freude durch alle Gassen.» Insgesamt gilt aber doch: «Hier in der Ostschweiz draussen sind wir an einem sichern und ruhigen (zu ruhigen) Fleck Erde zuhause, als dass uns viel passieren könnte, wogegen den Herren Überseern immer wieder allerhand in den Weg kommen kann.» Diese Sätze finden sich im Brief, den Krucker am 20. November 1951 dem Tierhändler August Künzler in Arusha, im heutigen Tansania, schrieb. Mit
dramatischen Weltereignissen kam Krucker zum Beispiel über HVM-Donator Toni Hagen in Kontakt. Der Geologe arbeitete in Nepal und engagierte sich nach der Niederschlagung des Tibet-Aufstandes durch China 1959 als Flüchtlingshelfer und Chefdelegierter des IKRK. Was Hagen in den St. Galler Stadtpark berichtete, bewegte Krucker tief. Am 3. April 1960 veröffentlichte er im St. Galler Tagblatt einen Artikel über die Situation im Tibet («Verlorenes Tibet»). Ein Ausschnitt: «Wiederum sinkt eine der eigenartigen jahrhundertealten Menschheitskulturen ins Grab. Es werden später nur noch die Museen sein, welche in mehr oder weniger anschaulicher Weise über das Vergangene Aufschluss zu geben vermögen (…). Die wirtschaftlichen Kräfte des Landes sind viel zu schwach, als dass sich das morsche spirituelle Gebäude des alten Priesterstaates halten könnte. Tibet wird durch den Kommunismus und seine Gottlosigkeit dem religiösen Nichts überliefert. Was bleibt, ist nur das grosse und tiefe Bedauern, dass es der heutigen Generation der Menschheit nirgends mehr rasch genug gehen kann, mit dem Früheren aufzuräumen und es im Strudel der Politik und der Technik vollends untergehen zu lassen.» Dieser Kulturpessimissmus zieht sich durch Kruckers ganze Korrespondenz. Er verstand seine ethnographische Sammlung als eine Art Dokumentationsstelle für untergehende und untergangene Kulturen. Auch Gäste aus aller Welt gab es im HVM von Anfang an. Zunächst waren es vor allem Donatoren oder einfach Interessierte, die wieder einmal die alte Heimat besuchten. Menschen aus fremden Kulturen erhalten erst ab den 1990er-Jahren eine gewisse Präsenz – sicher auch im Rahmen der
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Möglichkeiten, die eine globalisierte, multikulturelle Gegenwart bietet. 2006 waren zum Beispiel zwei Tupinambá-Indianer aus Brasilien zu Besuch und veranstalteten Workshops. 2010 und 2020 streuten Mönche aus dem tibetischen Kloster institut Rikon ein Sandmandala und zerstörten es ein paar Wochen später. Und 2015 beherbergte das HVM sogar für zwei Wochen einen «Artist in Residence» aus Kanada: den Künstler und Textilunternehmer Alano Edzerza. In Workshops mit Schulklassen und öffentlichen Veranstaltungen erzählte Alano vom Leben heutiger Indianer, von den Herausforderungen und Problemen der indigenen Kulturen Nordamerikas, führte die Kinder in die Kunst des Siebdrucks ein. Vor allem aber sind hier die Communities zu erwähnen: Menschen fremder Herkunft, die in der Schweiz leben. Sonderausstellungen mit Themen aus ihrer Heimat locken viele von ihnen ins Mu seum. Ein frühes Beispiel ist die Ausstellung Tibetische Schätze im Exil (1989), eines der jüngsten Poesie der Farben – Koreanische Kunst aus Schweizer Sammlungen (2017/18). Das HVM versucht dabei, die Communities auch aktiv in die Ausstellung einzubinden, zum Beispiel für das Catering oder die Musik bei der Vernissage. Und für die neue Asien-Dauerausstellung Spiel der Kultur(en) gibt es einen Kurzfilm, in welchem 28 Menschen mit asiatischem Hintergrund auftreten. Einzeln oder in Gruppen präsentieren sie das «Spiel der Begrüssung», wie es in ihren Heimatländern der Brauch ist.
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1 Biwa-Spieler Silvain Kyokusai Guignard zu Gast an der Vernissage von «Fliessende Welt. Verborgene Schönheit. Schätze aus Japan», zusammen mit Asien-Kuratorin Jeanne Fichtner-Egloff, 2014. 2 Zwei Tupinambá-Indianer aus Brasilien an einem Workshop für Kinder. Sommerferien aktion «Körperbemalung der AmazonasIndianer», 2006. 3 Alano Edzerza aus West-Vancouver, mit Kulturvermittlerin Sabrina Thöny, 2015. 4 Einige der Menschen mit asiatischem Hintergrund, die im Filmclip «Asia with us» auftreten. Sie begrüssen die Besucherinnen und Besucher der neuen Asienausstellung «Spiel der Kulturen», 2019.
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