Marianne Hefti
Eine Reise ins Ungewisse
Für min Mungg und mini Muus, meine beiden grossartigen Kinder, sowie für Marc und Eric und alle Menschen, die mutig ihre «eigene» Zukunft gestalten.
Alles fängt harmlos an.
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Hoch in den Bergen schmilzt der Schnee erst gegen Ende Mai unter der Sonne weg. Nun kommt die Zeit der Murmeltiere. Die kleinen, zottigen Höhlenbewohner werden munter. Tief unter der Erde haben sie nahezu sieben Monate geschlafen. Endlich ist es so weit. Papa Murmel öffnet den mit Gras gut verschlossenen Eingang und kriecht als Erster durch einen langen Gang. Es wird heller. Nur noch eine dünne Schneedecke muss er durchdringen, um ans Tageslicht zu gelangen. Geschafft! Endlich frische Luft, endlich Sonnenschein. Jetzt ist Paarungszeit. Wenn alles rund läuft, werden nach dreissig Tagen Tragezeit drei bis sieben Junge geboren. Mama Murmel bekommt meistens nur alle zwei Jahre Nachwuchs. Und dieses Jahr sind es vier. Neugeborene Murmeltiere sind nicht so hübsch, sie sind nackt, blind und taub. Sie sind kaum grösser als eine Maus. Mama Murmel säugt sie sechs Wochen lang. Während dieser Zeit entwickeln sie sich enorm. Sie öffnen ihre Augen, das Gehör bildet sich aus, und das Fell wächst. Auch wird der Platz in der Höhle enger. Mama Murmel ist froh. Bald kann sie ihren Nachwuchs mit an die Erdoberfläche nehmen.
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Schon kreisen die Bergdohlen über dem Höhleneingang und begrüssen die Jungtiere mit einem fröhlichen Pfiff. Eng beieinander und ziemlich scheu stehen sie da und bestaunen ihre Heimat. Fetzenweise liegt noch Schnee. Es stossen Soldanellen, saftige Grasbüschel und Krokusse ans Licht. Anfangs erkunden die Murmeltiere ihre neue Umgebung zögerlich, doch bald springen sie mit viel Freude und Energie den Hang hinauf und hinunter, jagen hintereinander her. So viel Platz! Platz, um zu spielen, zu raufen, Löcher zu graben und sich darin zu verstecken. Am liebsten spielen sie «Häsch mi gsee im Schnee». An der Sonne tanken sie Wärme und putzen sich gegenseitig das Fell. Schnell lernen sie, wachsam zu sein und wie sie sich vor Feinden schützen. Am meisten Zeit verbringen die Jungtiere mit der Suche nach Nahrung.
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Mama Murmel beobachtet ihre Jungen mit Freude. Nur ihr Kleinster, er heisst Baldrian, verhält sich eigenartig. Stundenlang rekelt er sich an der Sonne und träumt vor sich hin. Währenddessen schnabulieren seine Brüder und die Schwester eifrig Gras und Alpenkräuter, die nun überall spriessen. Wenn es Baldrian an der Sonne zu heiss wird, lässt er sich auf einem Felskopf beim Höhleneingang nieder. Dort bläst ihm der Wind durchs Fell. Der Blick über die Abhänge und schroffen Felswände ist grandios. Aufmerksam folgen seine Augen dem Tanz der Schmetterlinge, und manchmal neckt er die Heuschrecken. Wenn der Duft würziger Bergkräuter an ihm vorbeizieht, frisst er mal da, mal dort ein paar Häppchen. Am liebsten schaut er den Gämsen zu, die sich in den steilen Geröllhalden und Abhängen geschickt bewegen und von Felsvorsprung zu Felsvorsprung hüpfen.
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Mama Murmel beobachtet Baldrian mit täglich wachsender Sorge. Eines Morgens ruft sie ihn zu sich. «Baldrian, wir können nicht wie die Mäuse Vorräte anlegen, die wir im Winter verzehren. Wir sind vom ersten bis zum letzten Schnee im Winterschlaf. Damit wir die kalten Monate gut überstehen, muss die Fettschicht unter unserem Pelz dick genug sein. Darum ist es nötig, dass du dir mehr Zeit nimmst und nach nahrhaften Kräutern und Gräsern suchst. Der Sommer ist bald vorbei, viel Zeit bleibt uns nicht.» Baldrian befolgt den Rat seiner Mama nur halbherzig – zu abgelenkt ist er. Alles möchte er sehen, entdecken, riechen, ausprobieren und geniessen.
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