edition punktuell. Leseprobe
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Rolf Hess Amriswilereien
Illustrationen: Vic Buffoni
© 2021 by edition punktuell, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Illustrationen: Vic Buffoni Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn ISBN 978-3-905724-71-4 editionpunktuell.ch
INHALTSVERZEICHNIS Editorial ................................................................................... 7 Weltdorf Amriswil ....................................................................... 8 Jakobuskapelle Biessenhofen ....................................................... 10 Allhier zum Weyherhüsli ............................................................. 12 Drei Mal Kunst ........................................................................... 14 Rumänien 1990 .......................................................................... 16 Millefeuilles ............................................................................... 18 Thurtalstrasse ........................................................................... 20 Das Amriswiler Jubiläumsjahr 1999 ................................................ 23 In uns allen schlummert ein Neandertaler ...................................... 24 Von Bauern, Königen und Rittern .................................................. 27 1629 war ein Pestjahr .................................................................. 30 Von Ferien und Tavernen ............................................................. 32 Au Backe – ein Zahnwurm ........................................................... 34 Julius und Gregor ........................................................................ 36 Herr Liutprand kommt zurück ...................................................... 38 Städtisch? ................................................................................ 40 Grampi .................................................................................... 42 Abfälliges ................................................................................. 45 Santa Barbara Swiss Club ............................................................ 47 Gefahr aus dem Weltall ............................................................... 49 Wirtschaft und Hauswirtschaft ...................................................... 52 Frühlingserwachen .................................................................... 54 Expo.02 ................................................................................... 56 Vögte ade … ............................................................................. 58 Fünf Minuten ............................................................................. 61 Die «ausserirdischen» Maikäfer ..................................................... 63 S’ Gizi-Lisi ................................................................................. 66 Samichlaus, du guete Maa ........................................................... 68 Dino Larese (1914–2001) ............................................................... 70 Tonio Frasson (1922–2010) ............................................................ 73
Ernst Prodolliet (1905–1984) ........................................................ 75 Kunst im Kreisel ........................................................................ 78 Morbus Aifon ........................................................................... 80 Meister Lampe ......................................................................... 82 Vom Himmelriich zum Jumpfere Goonte ....................................... 84 Dilemma ................................................................................. 86 Rollatoren-Blues ....................................................................... 88 Aktion Laub ............................................................................. 90 Elisabetha Hess ........................................................................ 92 Fliegerbrevet Nr. 977 .................................................................. 94 Spaghetti al dente ..................................................................... 96 EU 1169/2011 ............................................................................. 98 Röbi lebt weiter ........................................................................ 100 Rentnerleben ........................................................................... 102 Sommer und Wasser ................................................................. 104 «Wenn einer eine Reise tut … ...................................................... 106 Sommerzeit – Winterzeit ........................................................... 108 Von der Strickstube zur Bildungsstätte .......................................... 110 Tintenbach .............................................................................. 112 Parkhaus Rallye ........................................................................ 114 Coronavirus 2020 ...................................................................... 116 Covid-19 und Freizeit ................................................................. 118 Mama Rosa ............................................................................. 120 Seegfrörni ............................................................................... 122 Von Fischen und Fröschen ......................................................... 124 Ein Gesellenstück ...................................................................... 126 Dank ...................................................................................... 128 Autoren .................................................................................. 128
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EDITORIAL Seit 1989 schreibe ich in unregelmässigen Abständen Kolumnen für unsere Lokalzeitung. Es sind mit viel Lokalkolorit versehene «Amriswilereien». Für dieses Buch habe ich aus den gesammelten Texten eine Auswahl zusammengestellt, die auch für NichtAmriswilerInnen lesenswert und interessant ist. Es sind ernsthafte Geschichten, amüsante Begebenheiten, biografische Texte und romanhafte Erzählungen. Die Kolumnen erschienen im «Amriswiler Anzeiger» in der Rubrik «Marktplatzgeflüster», später im «Bodensee Tagblatt» als «Amriswiler Facetten» und ab 2007 im Informationsblatt der Stadt Amriswil unter «geSTADTen Sie…» und «Kolumne». Viele Kolumnen habe ich überarbeitet, Abschnitte weggelassen, anderes hinzugefügt. Zur Ergänzung der Texte habe ich bei einigen Kolumnen Zusatzinformationen und Hinweise angebracht. Es drängt sich auf, dass der Einstieg zu diesem Büchlein über das «Weltdorf» Amriswil erfolgt. Alle anderen Kolumnen, die sich über einen grossen Zeitraum erstrecken, sind chronologisch aufgeführt. Die neckischen Illustrationen von Vic Buffoni unterstreichen, dass nicht alle Kolumnen allzu ernst zu nehmen sind. Amriswil, im Oktober 2021
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WELTDORF AMRISWIL «Ich komme gerne nach Amriswil, Herr Larese; Wo liegt Amriswil?», fragte schon 1961 der frühere deutsche Bundespräsident Theodor Heuss unseren unermüdlichen und kulturbeflissenen Dino Larese anlässlich der Feier zum siebzigsten Geburtstag des Diplomaten und Historikers Carl J. Burckhardt. Ja, wo liegt eigentlich das «Weltdorf» Amriswil? Keine Ahnung, sagen die einen, östlich von Winterthur die anderen. Oder: Kurz vor dem Ural, wie mir gegenüber ein bekannter Berner Jurist meinte. Dabei ist es in Bern noch dunkel, wenn Amriswil schon von den ersten Sonnenstrahlen erleuchtet wird. Amriswil, eingebettet in sanfte Hügel und Wälder, ist zum Zentrum des Oberthurgaus geworden, das tatsächlich einige Vorzüge aufweist. Drei Stadtparks laden zum Verweilen ein. Nicht minder attraktiv sind die Naherholungsgebiete: der Leimatwald, die Waldschenke im Romanshorner Wald, der Freizeitpark in Sitterdorf und das Hochmoor von nationaler Bedeutung, unser Hudelmoos. Die Nähe zum Bodensee, einem internationalen Gewässer, bietet Wassersportlern verschiedenste Möglichkeiten. Das Alpsteinmassiv mit dem Säntis als höchstem Berg ist in fünfzig Autominuten zu erreichen. Auch Wintersportler fühlen sich in Amriswil mit dem eigenen Skiclub wohl. Bis zur regionalen Eissporthalle sind es nur sieben Kilometer. Keine Stunde braucht man bis ins Toggenburg oder das österreichische Montafon. Und wer etwas weiter reisen möchte: Gleich vier Flugplätze sind von Amriswil aus in dreissig Autominuten erreichbar. Selbstverständlich kommen auch kulturelle Anlässe nicht zu kurz. Schon unser Motto: «Amriswil – Leben mit Kultur» weist auf viele Aktivitäten hin. So haben wir neben den vielen Anlässen im Kulturforum auch unseren neuen Mehrzwecksaal, das Pentorama, das sogar eine Briefmarke ziert. Ja, Amriswil weist tatsächlich eine beachtliche Wohnqualität auf. Und wenn Sie nun gefragt werden: «Wo liegt Amriswil?», so sagen Sie einfach: «Im schönen Oberthurgau, an der IntercityStrecke Romanshorn–Zürich, super erschlossen vom öffentlichen Verkehr: Amriswil–New York, einmal umsteigen.» Stadtzeitung «Amriswil aktuell», geSTADTen Sie …, 26. Juni 2009
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Der neckische Zusatz «Weltdorf» für Amriswil geht auf eine Kolumne von Werner Wollenberger zurück. Darin nimmt er die vielen Ehrungen auf die Schippe, die Dino Larese mit seiner Akademie Amriswil berühmten Persönlichkeiten zukommen liess. Diese Veranstaltungen waren weit über den Kanton Thurgau und das nahe Ausland hinaus bekannt. In Amriswil traf man Honoratioren wie Hochschullehrer, Historiker und Literaturwissenschaftler Georg Thürer 1968; Schriftsteller Carl Zuckmayer 1972; Zoologe und Verhaltensforscher Konrad Lorenz 1973; das weltliche und geistliche Oberhaupt der Tibeter, den 14. Dalai Lama (Tenzin Gyatso) 1973; Philosophin Jeanne Hersch 1976; Schriftsteller und Philosoph Manès Sperber 1980 und viele weitere Persönlichkeiten.
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JAKOBUSKAPELLE BIESSENHOFEN Im Westen von Amriswil liegt der Weiler Biessenhofen. Auf einer kleinen Erhebung steht die 1554 erbaute sechzigplätzige Kapelle zu Ehren des heiligen Jakobus. Der Vorbau, der auf vier Sandsteinsäulen ruht, entstand 1758. Weitere Instandhaltungen folgten. 1950 wurde sie umfassend renoviert. Damals kam sie auch zu ihrer dritten Glocke, der Glocke aus der katholischen Notkirche in Amriswil (heutiges Stefanshöfli), die natürlich zu den beiden andern passen musste. Dreimal pro Tag werden sie zum Klingen gebracht: morgens um halb sechs, mittags um elf und abends um halb acht zum Betzeitläuten. Mit drei Hanfseilen, die durch je eine Aussparung in der Decke vorne neben dem Altar herunterhängen, wird von Hand geläutet. Sepp Eisenring erfüllt diese Aufgabe nun schon in der dritten Generation pflichtbewusst. Tatkräftige Unterstützung erhält er von seinen beiden Söhnen Richard und Hugo, die vorwiegend über das Wochenende die Seile bedienen. Jeder Ton ist von «Hand» gemacht und erhält eine individuelle Note. Irgendjemand im Dorf hört immer genau hin. Passiert es einmal, dass Laudes etwas verspätet ertönt oder dass bereits um zehn Uhr das Mittagsglöckchen läutet, reagiert das ganze Dorf – spätestens beim Abendschoppen. Manche erkennen an der Klangfolge den Glöckner. Wenn zum Beispiel Hugo in den Seilen hängt, erkennt man ihn am speziellen «Zwick», den er am Schluss anhängt. Wer kann in Amriswil denn schon unterscheiden, ob jetzt mit Wasserkraft oder Atomstrom geläutet wird? Seit mindestens 55 Jahren, seit seiner Kindheit, lässt Sepp Eisenring die Kapellenglocken erklingen. Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat und Jahr für Jahr. Eine Aufgabe, die er still erfüllt und für die ihm das ganze Dorf mit stiller Bewunderung dankt. Amriswiler Anzeiger, Marktplatzgeflüster, 25. März 1989
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Im Mai 1993 wurde eine automatische Läutvorrichtung in Betrieb genommen. Mit der Modernisierung verschwanden die Seile und die treuen Glöckner aus der Kapelle.
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ALLHIER ZUM WEYHERHÜSLI
Ferienzeit gleich Reisezeit? Mit dem Auto nach Süden stauen? Transithallenidylle auf internationalen Flughäfen? Und immer wieder vertraute schweizerdeutsche Dialekte an touristisch vermarkteten Hotspots? Ferienzeit gleich Reisezeit? Völlig out. In sind hingegen UHU-Ferien in der Hauptferienzeit. (ums Huus ume). Selbstverständlich lockt auch die «Amriswiler Riviera», das dorfeigene Strandbad in Uttwil. Wozu in die Ferne schweifen, wenn der Amriswiler Ferienprospekt «Lebenswertes Amriswil» auf der Gemeindekanzlei aufliegt, in alle Länder der Welt verteilt wird und Hunderte von Touristen anlockt? Alles Sehenswerte in Amriswil ist mit Wort und Bild aufgeführt. Ein Vierfarbenprospekt, der New York mit seiner «Big Apple»-Werbung in nichts nachsteht. Alles? Nein, das Weiherhüsli über dem Ziegeleiweiher fehlt. Dabei ist dieses Riegelhaus 12
mit dem vorgelagerten Garten und den farbenfrohen Blumen eine Augenweide. Sogar Busunternehmen machen für ihre Gäste oftmals einen Fotostopp am Weiher. Erbaut wurde das Kleinod 1923. Die damalige Umgebung des Ziegeleiweihers war, bedingt durch den Tonabbau, eine sumpfige Einöde. Kein einladender Ort und vom Dorf abgeschnitten. In jahrelanger Arbeit hat der Erbauer und spätere Ehrenbürger Lehrer Hermann Gremminger die Böschung des Weihers mit Unterstützung des Bauamts befestigt und den Stufengarten angelegt. So entstand allmählich das einmalige Bijou. Offenbar musste sich die Familie Gremminger harsche Kritik gefallen lassen: «Allhier zum Weyerhüsli» steht über dem Hauseingang geschrieben, flankiert von den Versen: «Bhüet Gott das Hus zu aller Zit vor böse Müler Hass und Striit. En jede baut halt wie’s im gfallt. Die Wisheit isch scho zimlech alt. So lönd ihr Tadler s’ Hus in Rue, s’ isch üs, nöd eu. Drum laufed zue!» Amriswiler Anzeiger, Marktplatzgeflüster, 15. Juli 1989
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DREI MAL KUNST «Haben Sie auch eine exklusive Création? Speziell für Sie gemalt? Für Sie als EinwohnerIn von Amriswil? Als Kunstliebhaber und Heimatverbundenen?» So stand es auf einem Werbeblatt, das in alle Amriswiler Briefkästen verteilt wurde. Und weiter: «Sichern Sie sich Ihr persönliches Exemplar, eine bleidurchzogene Buntglas-Wappenscheibe für Amriswil, limitierte Auflage.» Die Wappenscheibe zeigt das Schweizerkreuz, die Thurgauer Löwen und den Amriswiler Apfelbaum. Dazu die bedeutsamsten Bauten; das Gemeindehaus oben links und die Kirche, die einen gedrungenen Turm abbekommen hat, unten rechts. Alles bunt verziert mit Blumenranken und wallenden gelben Schleifen. «Dieses unersetzliche Meisterwerk wird Ihrem Wohnraum einen Hauch von Eleganz verleihen», steht bescheiden im Werbetext. Und weiter: «Unter einfallendem Sonnenlicht entfaltet das Buntglasbild Farben von magischem Ausdruck.» Wer könnte da widerstehen? Gibt es noch weitere heimatverbundene Andenken an Amriswil? Beim Durchwühlen meiner Primarschulzeichnungen habe ich eine Farbstiftkomposition des damals elfjährigen Rolfli gefunden. Vom Naherholungsgebiet Eisweiher. Im Vordergrund der runde Brunnen mit der knienden Mädchenfigur. Sehr unbeholfene Strichführung. Dahinter die grosse, blaue Wasserfläche, lausig ausgemalt. Zwei weisse Kleckse mittendrin erinnern nur sehr entfernt an Schwäne. Aber je länger ich diese Zeichnung ansehe, desto mehr Poesie entdecke ich darin. Schliesslich handelt es sich um eine limitierte Auflage, handsigniert. Ein echter Hess und erst noch ein Frühwerk. Weder ein Frühwerk noch ein Spätwerk, am ehesten ein ewiges Werk, ist die Fahrbahn unserer Bahnhofstrasse, der «First Street of Amriswil». Sie präsentiert die moderne Kunst am Bau – lustig, vielseitig, grosszügig. Ein Belagsflick nach dem anderen. Ein richtiges Patchwork. Da reihen sich Flecken in allen Grauschattierungen aneinander. Grosse, kleine, ineinandergreifende, der Länge nach oder quer über die ganze Strasse. Besonders frech sind die schiefen Asphaltreparaturen. Und erst die runden, die meistens einen Dolendeckel umgeben und uns wie grosse Augen ansehen. Erstaunlich auch, wie oft mehrere Belagsausbesserun14
gen zeitlich aufeinander folgen. Mit schönen, geraden Rändern oder locker aufgesetzt. Und ganz unten guckt gleich an mehreren Stellen die ehemalige Pflästerung durch. Es ist schon erstaunlich, wie viel Poesie in so einer Strasse steckt. Kunst im Asphalt. Dabei kommt sie doch Tag für Tag unter die Räder. Kein Passant schätzt das aufgelockerte Spiel mit den vielen Schattierungsstufen. Bei der dermassen verkannten Strassenkunst ist die Gefahr doch riesengross, dass plötzlich jemand daherkommt und einen schönen, ebenen, eintönigen Deckbelag darüber zieht. Übrigens, wie viele Belagsausbesserungen findet man auf dieser 500 Meter langen Strasse? Sind es 17 oder 91? Nein, es sind genau 187.
Amriswiler Anzeiger, Marktplatzgeflüster, 7. Oktober 1989
Die Sanierung und umfassende Neugestaltung der Bahnhofstrasse erfolgte 2014. 15
RUMÄNIEN 1990 Am Karfreitag, 13. April 1990, vier Monate nach dem Ende der Ceausescu-Diktatur in Rumänien, brachen einige Amriswiler mit zwei Ford-Transits und einem Mercedes-Kombi zu einer 3200 Kilometer langen Reise auf. Wir brachten Hilfsgüter in das geplagte, deutschsprachige Siebenbürgen in Rumänien. Das Team bestand aus dem in Hermannstadt aufgewachsenen Amriswiler Pfarrer Hans Kaiss, seiner Familie und zwei Hilfschauffeuren. Unser Ziel war Birthälm, in dem Hans Kaiss von 1968 bis 1978 als Pfarrer wirkte. Auf der Autobahn ging’s zügig nach Wien, wo wir übernachteten. In Ungarn sind die Strassen breit und gut unterhalten. Nur die Trabis und Dacias 1100 behinderten den mässigen Verkehr. Dank des elften Gebots «Du sollst die signalisierte Höchstgeschwindigkeit nicht unterschreiten» rollte der Thurgauer Konvoi in etwas mehr als fünf Stunden durch Ungarn. An der rumänischen Grenze brauchten wir Kugelschreiber, Sackmesser, Schokolade und (doch noch) unsere Pässe. Nach dem Grenzübertritt, kurz vor dem Eindunkeln, erreichten wir die Grenzstadt Oradea. Ein unglaublich tristes Bild bot sich uns: verlotterte Industrieanlagen, seit Jahrzehnten nicht mehr unterhaltene Häuserblocks. An der ersten Kreuzung umlagerten uns Dutzende «Kaugummi, Kaugummi» rufende Kinder. Die Ortschaften waren ohne Trottoirs, ohne Strassenbeleuchtung. Kaum ein Lichtschimmer drang aus den Häusern. Sind wir tatsächlich noch im 20. Jahrhundert? In Europa? Mitten in der Nacht, am Ostersonntag um 2.15 Uhr, trafen wir in Birthälm ein. Hundert Jahre von Westeuropa und 400 Kilometer von der ungarischen Grenze entfernt. 400 Kilometer auf sehr holprigen Strassen. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein. Nur die Durchgangsstrasse der 2000 Einwohner zählenden Gemeinde wurde vor Jahren einmal asphaltiert. Als Abwasserkanal fungiert der Dorfbach. Er ist dementsprechend eine Kloake. Im Dorf hört man nur die Hunde bellen und das Gegacker der Hühner, selten unterbrochen von scheppernden Büffel- oder Ochsengespannen. Die Bevölkerung des Orts ist gemischt: zirka 1000 Rumänen, 350 Zigeuner (ein eigener, sesshafter aus dem indogermanischen Bereich eingewanderter Volksstamm), etwa fünfzig Ungaren und 16