Frau Grüün

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Appenzeller Verlag Leseprobe

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Anita Glunk

Frau Grüün und ihre Sicht der Dinge Illustrationen: Katja Nideröst

Appenzeller Verlag


© 2021 by Appenzeller Verlag, ch-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Umschlaggestaltung: Daniela Saravo unter Verwendung eines Aquarells von Katja Nideröst Gesetzt in Minion Pro Regular und Gotham Rounded Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn isbn 978-3-85882-852-1 www.appenzellerverlag.ch


Inhalt

Vorwort Wie es begann Frau Grüün pfotteret Frau Grüün schwärmt Frau Grüün hat eine Freude Frau Grüün hat eine Idee Frau Grüün sorgt vor Frau Grüün hat etwas gefunden Frau Grüün kann sich nicht entscheiden Frau Grüün hat Schwein gehabt Frau Grüün trainiert mental Frau Grüün übt Frau Grüün sorgt für weihnächtliche Stimmung Frau Grüün lernt auswendig Frau Grüün feiert Frau Grüün tickt live Frau Grüün hat gespendet Frau Grüün hat für Gerechtigkeit gesorgt Frau Grüün erzählt Frau Grüün hat Neuigkeiten Frau Grüün philosophiert Frau Grüün rüstet auf Frau Grüün geht mit der Zeit Frau Grüün findet es voll geil Frau Grüün kennt ein Geheimnis Frau Grüün gendert Frau Grüün hat Post bekommen

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Frau Grüün glaubt es nicht Frau Grüün macht Platz Frau Grüün hat geträumt Frau Grüün würde schon Frau Grüün hat gestreikt Frau Grüün hat ein schlechtes Gewissen Frau Grüün kann ernten Frau Grüün hat die Einrichtung Frau Grüün fühlt sich verfolgt Frau Grüün wird geplagiatet Frau Grüün inkarniert Frau Grüün ist sozial Frau Grüün joggt Frau Grüün hat eine Erfindung gemacht Frau Grüün komponiert Frau Grüün hat die Lösung Frau Grüün hat Action Frau Grüün ist auf Stand-by Frau Grüün hat gestrickt Frau Grüün bewirbt sich Frau Grüün fühlt sich sicher Schlusswort

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54 55 58 60 62 64 65 68 69 71 72 74 76 77 79 81 83 85 87 88 91 94


Vorwort «Ich glaube nicht, dass ich das kann», antwortete ich, als mich im Spätherbst 2016 der damalige Redaktor des Anzeigeblatts Gais/Bühler fragte, ob ich nicht einmal im Monat eine Kolumne für die Dienstagsreihe «Frisch vo de Lebere» schreiben möchte. Glücklicherweise war der Reiz, etwas Neues, Unbekanntes auszuprobieren, stärker als meine Bedenken. Hätte ich es verpasst, das Angebot des Redaktors anzunehmen, hätte Frau Grüün nie das Licht der Welt erblickt, und die Bevölkerung von Gais und Umgebung wäre nie in den Genuss ihrer Weisheiten gekommen. Seither ist sie meine treue Begleiterin. Sie erklärt und erwidert, sie stellt fest und stellt in Frage, immer etwas naiv und immer mit der ihr eigenen grüünschen Logik. Mehr als 40 Mal hat sie mittlerweile die Leserschaft des «Gääser Blättlis» mit ihren An- und Einsichten beglückt. Jetzt wolle sie Bücherluft schnuppern und auch ennet der Dorfgrenzen berühmt werden, hat sie mir mitgeteilt. Lieber Leser, liebe Leserin, Frau Grüün etwas abzuschlagen, ist beinahe unmöglich. Mit diesem Band «Frau Grüün und ihre Sicht der Dinge» ist ihr Wunsch in Erfüllung gegangen, zumindest was die Bücherluft betrifft. Wie es mit dem Erlangen von Berühmtheit aussieht, wird sich weisen. Frau Grüün jedenfalls ist guter Dinge, ganz nach ihrem Motto: «Nüd logg loo, gwönnt.» Gais im Herbst 2021

Anita Glunk

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Wie es begann Frau Grüün war begeistert. Vom «Gääser Blättli», vom Jubiläum der Kolumne «Frisch vo de Lebere» und überhaupt. Jahrelang habe sie diese Kolumne gelesen, aber jetzt sei Schluss damit, erklärte sie mir. Jetzt wolle sie auch einmal, also mitmachen, also bei dieser Kolumne. Eine grosse Klappe haben, das könne sie auch, protzte sie. Das sei ja auch nicht so schwer. Und mit der Wahrheit müsse man es ja auch nicht so genau nehmen. Der Gwaggli ennet dem grossen Teich, der mit den vielen orangen, ähm blonden, ähm orangeblonden Haaren, sei ja das beste Beispiel dafür. Nur mit ihrer Schreiberei, sagte Frau Grüün darauf etwas kleinlaut, mit ihrer Schreiberei happere es halt etwas. Sie schaute mich treuherzig an und meinte dann, vielleicht könnte ja ich … also schreiben. Sie erzähle mir, was sie beschäftige und ich könne das dann ofs Papier bringen. Quasi kommissarisch, also in Vertretung, oder wie man dem sage. Wie schon im Vorwort bemerkt, kaum etwas ist schwieriger, als Frau Grüün einen Wunsch abzuschlagen. Und so kam es, dass ich ja sagte zu ihrem Vorhaben. Sie lieferte mir Informationen und ich brachte diese in eine zeitungstaugliche Form. Quasi kommissarisch und in der Hoffnung, ihre Gedanken weckten das Interesse der Leserschaft.

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Frau Grüün pfotteret Also das sei schon verrückt, wie es heute efäng zu und her gehe, also auf der Strasse, meinte Frau Grüün letzthin ziemlich erbost. Man lese ja fast jeden Tag in der Zeitung, dass wieder jemand mit dem Auto verunfallt sei. Das seien also Zustände, grad wie im hölzigen Himmel, dort im Verkehr, und es sei kaum zu glauben, was so alles passiere. Einmal habe sie sogar gesehen, wie einer auf der Teufener Umfahrungsstrasse gewendet habe. Und zwar zmitzt auf der Fahrbahn. Man sei sich ja des Lebens nicht mehr sicher, pfotterte Frau Grüün und schilderte mir dann Fälle von Fahren in angetrunkenem Zustand. Von Missachtung des Vortritts. Von Geschwindigkeitsübertretungen innerorts und ausserorts und überall. Von zu frühem, zu spätem oder gar nicht Bremsen. Von zu wenig oder gar keinem Abstand. Von zu viel oder gar keinem eingeschalteten Licht. Und zwar allpot und überall. Dann schmunzelte sie etwas und weihte mich in ein Geheimnis ein. Vor Jahren, aber das sage sie jetzt nur zu mir und ganz im Vertrauen, gell. Vor Jahren habe es ihr ja auch einmal fast den Wagen öbercheert. Grad vor der Hundwilertobelbrücke sei das gewesen. Also von Waldstatt her, gell. Sie habe zu jener Zeit einen Renault besessen, und der habe halt ein bisschen geschaukelt in den Kurven, also jeweils dann, wenn sie etwas gar schnell unterwegs gewesen sei. Auf alle Fälle sei sie damals diejenige vor der Brücke, also die Kurve, nicht entlang der rechten,

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sondern entlang der linken Leitplanke gefahren. Zum grossen Glück sei keiner entgegengekommen, stellte Frau Grüün erleichtert fest und fügte hinzu, so sei es halt im Verkehr, etwas Schwein gehöre einfach dazu.

Frau Grüün schwärmt Sie sei jetzt auch dabei, erzählte mir Frau Grüün, als sie mir vor ein paar Tagen über den Weg lief. Also dort, wo man alles reinschreiben und alles rauslesen könne. Als ich sie etwas erstaunt ansah, verdrehte sie theatralisch die Augen und meinte, tenk bei diesem Facebook. Sie habe sich zwar uunigs lange dagegen gewehrt, aber man müsse halt einfach mit der Zeit gehen. Frau Grüün schwärmte. Also das sei dann schon toll, was man da so alles inne werde. Letzthin habe eine sogenannte Freundin beschrieben, wie sie fast eine Stunde lang probiert habe, den Staubsaugersack zu installieren. Und dass es nichts genützt habe, das Installieren, weil es nämlich nicht gegangen sei, das Installieren. Und eine andere, auch eine sogenannte Freundin, habe die Welt informiert, dass sie die Eier jetzt nicht mehr im Wasser koche, sondern im Steamer, so gehe es nämlich ringer. Einer habe erzählt, dass er mit seiner Frau einen Rekord im Dauerbadewannensitzen habe aufstellen wollen. Und dass er jetzt traurig sei, weil es nicht geklappt habe mit dem

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Rekord wegen dem Boiler, weil der zmols kein warmes Wasser mehr gehabt habe. Frau Grüün schwärmte. In diesem Facebook gebe es alles, also wirklich gar alles. Vor ein paar Tagen habe sie einen Beitrag über Yoga mit Ziegen gesehen und gelesen. Eine sehr interessante Sache, die sie grad auf eine Idee gebracht habe. Frau Grüün schaute an mir vorbei, und ich spürte förmlich, wie es in ihrem Kopf ratterte und sich grüünsche Pläne entwickelten. So etwas würde man doch auch hier in Gääs anbieten können, also so mit Ziegen und Yoga und so, meinte sie dann und zwinkerte mir zu. Ziegen habe es ja, und meckerkundige Vorturner und Vorturnerinnen würde man tenk auch finden.

Frau Grüün hat eine Freude Letzthin begegnete mir auf meinem Weg zur Dorfbäckerei Frau Grüün. Nachdem wir ein paar Worte über das Wetter gewechselt hatten, erwähnte sie mit einem herzlichen Lachen, dass sie halt so eine Freude habe. Als ich sie nach dem Grund für ihre gute Laune fragte, zeigte sie zur Kirche auf dem Dorfplatz und meinte, ihr gefalle halt das neue Wahrzeichen von Gääs so uunigs gut, und sie fügte, nachdem sie meinen fragenden Blick bemerkt hatte, erklärend hinzu, eben die Eule dort oben am Kirchturm. Das sei doch jetzt wirklich eine gute Idee. Die Eule sei ja ein Symbol für die Weisheit, und diese Weisheit

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leuchte jetzt bei uns am Kirchturm, und alle könnten schon von Weitem sehen, wie es hier zu und her gäng. Das sei die neue Zifferblattbeleuchtung, erklärte ich Frau Grüün und hoffte, damit ihren Irrglauben aus der Welt geschafft zu haben. Ich hatte mich getäuscht. Ja eben, die neue Beleuchtung in Form einer Eule, kam es überschwänglich zurück. Und das sei einfach wunderbar. Nur eines verstehe sie nicht so ganz, bemerkte Frau Grüün nachdenklich. Sie kapiere einfach nicht, wieso man so zmitzt in der Konstruktion aufgehört habe. Jetzt würden ja nur die Augen herunterblicken. Dabei würde es nur noch einen rechten Schnabel und zwei Federohren brauchen und dann wäre das Eulengesicht komplett, und alle, auch die mit etwas weniger Fantasie, könnten es erkennen. Aber das komme dann schon noch, versicherte mir Frau Grüün zuversichtlich und verabschiedete sich. Und nachdem sie ein paar Meter zurückgelegt hatte, drehte sie sich um, winkte mir zu und rief vergnügt, das sei halt so eine Sache mit der Weisheit. Manchmal dauere es halt e chli, bis sie zum Vorschein komme.

Frau Grüün hat eine Idee Also zuerst habe es sie ja schön angegurkt, erzählte mir Frau Grüün bei unserem letzten Treffen. Eben, das da mit dieser Bank, die mit dem U in den drei Buchstaben. Dass die jetzt einfach so ausziehe aus

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unserem Dorf und uns Gääsern den Rücken kehre, das sei doch jetzt wörkli eine Sauerei. Aber dann habe sie einen Brief bekommen. Einen ganz netten. Und zwar von unseren Freunden im inneren Land. Also gnau gesagt von deren Bank. Die im inneren Land hätten nämlich noch eine. Eine eigene, also eine kantonale, gell. Und genau diese Bank habe ihr geschrieben. Dass sie im Fall auch noch da sei. Also die Bank. Und, dass sie im Fall herzlich willkommen wäre. Also sie, Frau Grüün. Das habe sie dann schon noch gefreut, sagte Frau Grüün. Aber wenn sie jetzt zu denen im inneren Land wechseln würde, also zu deren Bank, müsste sie ja dann immer dorthin fahren, wenn sie Geld brauchen würde. Sie sei eben altmödig in diesen Sachen und gehe noch an den Schalter. Bei der Bank und auch bei der Post. Eigentlich sollten das ja alle tun, stellte Frau Grüün eifrig fest. Weil sie nämlich sonst zmols auch noch verreise. Also die Post. Frau Grüün schmunzelte. Grad als sie den Brief ins Altpapier gheien wollte, habe sie eine Idee gehabt. Ihr sei eingefallen, dass die Bank vom inneren Land ja auch zu uns kommen und hier eine bankentechnische Enklave gründen könnte. Zum Beispiel auf dem Areal des alten Bahndepots. Man wisse hier ja doch nicht so recht, was man damit machen wolle. Es wäre zentral und erst noch verkehrsfreundlich, weil ja das Bäänli grad nebenan halte, meinte Frau Grüün und kam regelrecht in Fahrt. Die Freunde aus dem inneren Land könnten dann doch grad auch noch ein Hallenbad in das Bankgebäude integrieren. Frau

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Grüün schmunzelte abermals. Erstens könnte man dann so quasi im eigenen Geld schwimmen, und das innere Land hätte eine Ausweichmöglichkeit, wenn es wieder mal ein hallenbadtechnisches Zwischenfälleli gäbe.

Frau Grüün sorgt vor Gnau genommen habe sie eigentlich gar keine Zeit, erklärte mir Frau Grüün, als ich sie vor ein paar Tagen zuhause besuchte. Sie sass am Küchentisch und deutete auf das vor ihr liegende Blatt. Sie müsse nämlich unbedingt hier weitermachen. Wegen der Intuition. Weil sie die jetzt eben grad empfange. Ich betrachtete das Blatt mit den Notizen und der etwas seltsamen Skizze und fragte Frau Grüün, was das zu bedeuten habe. Frau Grüün blickte mich an und meinte vielsagend, sie sorge eben jetzt vor für dann, wenn uns einmal der erneuerbare Pfuus ausgehe, weil es nicht lofte oder weil die Sonne nicht wolle, also scheinen, gell. Sie habe eine verstopfte Dachpfättere, also ihr Haus, gell. Und wenn es ämel so richtig fest regne, dann fliesse das Wasser nicht durch den Ablauf, sondern stürze auf den Sitzplatz. Also das sehe ämel aus, fast wie der Rheinfall. Frau Grüün hob den Zeigefinger. Wenn jetzt das stürzende Wasser auf seinem Weg in ein Fass, ein Rad antreiben würde, könnte dieses die befüllte Waschmaschine, die grad nebendran in der Waschküche stehe,

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in Gang setzen, und wenn sich dann die Trommel von der Waschmaschine drehen würde, könnte diese, also die Waschmaschine, eine Pumpe antreiben, die das Wasser wieder in die verstopfte Pfättere befördern würde. Und von derselbigen, also der Pfättere, würde dann das Wasser wieder auf das Rad herunterstürzen, und so weiter, und so weiter. Frau Grüün quittierte meine ungläubigen Blicke mit einem Achselzucken und meinte: Ja, ja das sei immer schon so gewesen mit den grossen Erfindungen. Am Anfang verstehe die niemand so richtig. Aber ich könne dann schauen, zmools seien noch alle froh darum. Dann, wenn uns dann nämlich einmal der Pfuus ausgehe.

Frau Grüün hat etwas gefunden Letzthin betrat Frau Grüün nach intensivem Klopfen meine Wohnung. Sie wedelte aufgeregt mit einem dünnen Büchlein in der Luft herum und meinte empört, also so gehe das nicht. Sie hielt mir das Büchlein unter die Nase. Das habe sie beim Räumen gefunden und da stehe es drin. Das sei die Verordnung über das Polizeiwesen des Kantons Appenzell der äusseren Rhoden. Und das gelte für uns, weil wir ja eben die Äusseren seien. Sie blätterte bis Seite zwanzig, ermahnte mich eindringlich, ich solle jetzt gut zuhören und begann laut zu lesen: «Das Hausierwesen. Artikel 50. Lebensmittel, die reif und nicht in Ver-

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derbnis übergegangen sind, dürfen frei und ungehindert im ganzen Kanton feilgeboten und verkauft werden.» «Ja und?», fragte ich mit einem Achselzucken. Frau Grüün hob erstaunt die Augenbrauen, wedelte abermals mit dem Büchlein und wiederholte erzürnt, nein, so gehe das jetzt äfach nicht. Dann versicherte sie mir, «reif und nicht in Verderbnis übergegangen», das könne man ja gar nicht nachkontrollieren. Und Hausierer gebe es schon lange nicht mehr. Und wenn es um Lebensmittel gehe, müsse in so einer Verordnung etwas über das Ablaufdatum stehen und über die Zusammensetzung, die Herkunft, die Rückverfolgbarkeit und über deklarationspflichtige allergene Zutaten und natürlich auch über Farbstoffe, Hilfsstoffe, Trägerstoffe sowie alle anderen Stoffe. Ich sah mir das Büchlein etwas genauer an und stellte fest, dass diese Verordnung vom 4. November 1887 stammte. Damals habe man kein Ablaufdatum gekannt und nicht von Farb-, Hilfs- oder Trägerstoffen gesprochen, klärte ich Frau Grüün auf. Frau Grüün schnappte nach Luft. Wie man denn gemerkt habe, ob man etwas noch essen könne, und ob man es überhaupt verliiden möge, wollte sie wissen. Tja, sagte ich darauf zu ihr, vielleicht hätten sich die Leute damals ganz einfach auf ihre Nase, ihren Mund und ihren gesunden Menschenverstand verlassen.

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Frau Grüün kann sich nicht entscheiden Also, ohne so ein … , so ein … na ja, so ein Dings gehöre man heutzutage einfach nicht dazu, sagte Frau Grüün, als wir uns kürzlich begegneten. So ein … Dings müsse man heute einfach haben, wenn man mitreden wolle. Also wörkli. Sie bekräftigte ihre Worte mit heftigem Nicken und wartete gespannt auf meine Reaktion. «Dings?», fragte ich etwas ratlos. Frau Grüün verzog den Mund, schloss für einen Moment demonstrativ die Augen und machte mir dann überaus geduldig verständlich, was sie mit «Dings» meinte. So ein Gemälde. So auf dem Arm oder dem Rücken, dem Gnick oder sonst irgendwo. Ja, halt eben so eine … Malerei auf dem Körper. Das sei eine Tätowierung. Ein Motiv, das mit farbiger Tinte und Nadeln in die Haut gestochen werde, klärte ich Frau Grüün auf. Man nenne es auch Tattoo. Ja genau, das meine sie, antwortete Frau Grüün. Und jetzt schwanke sie eben. Also, sie könne sich einfach nicht entscheiden. Ein hellgrüner Säbeltiger mit goldenen Krallen und einem Nuggi im Maul würde ihr gefallen. In Frage kämen auch zwei Rhesusäffchen, die handörgelten, oder eventuell eine im Abendrot Tango tanzende Giraffe. Mein skeptischer Blick veranlasste Frau Grüün, ihre Tattoo-Vorschläge nochmals zu überdenken. Sie könnte natürlich auch etwas Traditionelles wählen, sinnierte sie laut. Zum Beispiel eine einäugige Bergdohle im Anflug auf die Tierwies oder vielleicht das Rotbachchörli beim Zäuerlen.

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Meine Begeisterung für Frau Grüüns Fantasien hielt sich in Grenzen. Ich wollte sie nicht verägern und gab ihr mit vorsichtig gewählten Worten zu bedenken, dass es vor allem jüngere Leute seien, die sich tätowieren liessen. Ja, das stimme, sagte Frau Grüün nach einem tiefen Seufzer. Weleweg sei sie wirklich zu alt dafür. Etwas resigniert wünschte sie mir einen guten Tag und ging weiter ihres Weges, drehte sich dann aber nach ein paar Metern um und rief mir augenzwinkernd zu: «Vielleicht … so ein ganz kleiner, farbiger Skarabäus am linken Fussgelenk … ?»

Frau Grüün hat Schwein gehabt Als ich vor ein paar Tagen einen Telefonanruf entgegennahm, hörte ich auf der anderen Seite eine aufgeregte Frau Grüün sagen, sie erzähle mir jetzt etwas. Das sei wichtig und müsse unbedingt in die Zeitung, da in dieses Blättli. Frau Grüün schien es sehr ernst zu meinen, deshalb nahm ich Kugelschreiber und Papier zur Hand und notierte ihre Worte. Sie habe geputzt, erklärte mir Frau Grüün. Eine ganze Wohnung. Und zwar gewissenhaft und gründlich, im Fall. Nachdem sie Bad, Schlaf- und Wohnzimmer erledigt gehabt habe, sei die Küche an der Reihe gewesen, und dort habe sie es mit einem Dampfabzug zu tun bekommen. Ich gab Frau Grüün zu bedenken, dass das nichts Aussergewöhnliches

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