Der Traum einer Welt für Kinder

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Appenzeller Verlag Leseprobe

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Der Traum einer Welt für Kinder Das Kinderdorf Pestalozzi – seit 75 Jahren für Kinder, Bildung und Frieden



«In meinen Kinderdorfjahren wurde mir bald einmal klar, dass das Kinderdorf Pestalozzi eine aus der Not der Zeit geborene, im bescheidenen Rahmen der Kinderhilfe entwickelte Vorwegnahme eines viel umfassenderen Anliegens Cortis war, das er später in seinem leider nie verwirklichten ‹Plan der Akademie› überzeugend formuliert hat. Um was es ihm dabei (eigentlich) ging, hat er mir schon damals in langen nächtlichen Gesprächen dargelegt. So führte er etwa vorsichtig formulierend aus: ‹Es kann nicht sinnlos sein, der besten Intelligenz der Menschheit eine von allen traditionellen Pflichten und Prägungen freie Heimstätte (eben jener Akademie) zur Erforschung der Grundfragen, Grundleiden und Grundhoffnungen unseres Geschlechtes zu schaffen. Milliardenbeiträge werden zur gegenseitigen Vernichtung verwandt, was tun wir, um die Gründe, die Ursachen zu erforschen, warum dies geschieht oder geschehen muss? Sind die Weichen allesamt falsch gestellt? Die Mikrobenjäger haben ihre glorreiche Arbeit im wesentlichen abgeschlossen. Aber wer erforscht die


geistigen Mikroben und die von ihnen verursachten Weltanschauungsseuchen, die mehr Opfer fordern, als es je Pest und Cholera getan haben? Müsste nicht jeder vernünftige Mensch eine solche Wissenschaft mit aller Kraft fordern und unentwegt danach fragen, warum sie nicht von allen Seiten Hilfe und Förderung erhält? Kein Mittel half früher, die an Diphtherie erkrankten Kinder zu retten, bis Löffler den Bazillus und darauf Behring sein Serum erfanden. Was haben aber all diese Pioniere gegen den Unverstand ihrer Zeit ankämpfen müssen! Heute gilt es, die Physiologie und Pathologie der Ideologien zu erkennen, die unheimlichen Störungen im Kollektivverhalten, die Struktur des ‹metaphysischen Bedürfnisses› und aller Bereitschaft, auf falsche Heilslehren anzusprechen. Mit riesigen Mitteln wird der Kosmos, das Atom erforscht, wo aber sind die ebenso dotierten Stätten der Erforschung des Menschen und seiner Triebe des Hasses, des Machtwillens, der Anfälligkeit für jedes FreundFeind-Schema? Alle Wissenschaften


sollen sich begegnen, und sie können dabei diesmal der Philosophie nicht mehr entraten – der so oft verworfene Stein bleibt der Eckstein der Wahrheit und Freiheit und damit der möglichen Rettung.› Für das Schicksal des Kinderdorfes Pestalozzi wird es von entscheidender Bedeutung sein, ob deutlich erkennbar ist, dass die Stiftung sich auch heute in ihren Zielsetzungen und Projekten orientiert an den auch künftighin höchst aktuellen Anliegen Walter Robert Cortis.» Notizen zu den Grundanliegen von Walter Robert Corti, aufgezeichnet von Arthur Bill im Sommer 1999. Archiv Stiftung Kinderdorf Pestalozzi, Trogen



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Vorwort

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Kapitel 1 Ein Dorf für Kinder Ein Völkchen schenkt einer Idee Land Dank der UNESCO auf die internationale Agenda Für das Kinderdorf wichtige Menschen im Kurzporträt Das Kinderdorf im Kontext der Schweizer Heimund Bildungslandschaft Stimmen ehemaliger Dorfkinder Pestalozzi, Trogen und die Kinderrechte: eine aussergewöhnliche Trilogie Elisabeth Rotten und die Bildung zur Menschlichkeit Friede beginnt bei den Kindern Lernend auf immer. Aus Notwendigkeit und Überzeugung Auf Spenden gebaut Stimmen von Spenderinnen und Spendern

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Kapitel 2 Aus der weiten Welt nach Trogen – und von Trogen in die weite Welt Das Recht auf Bildung als Kernaufgabe Frei denken, frei handeln. Kind sein, Mensch sein Stimmen aus Projekten in Trogen

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Kapitel 3 Die internationalen Programme Von den Anfängen 1982 bis in die Gegenwart Stimmen aus internationalen Projekten

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Kapitel 4 Geschichte weiterschreiben Entwicklungen seit dem Jahr 2000

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Kapitel 5 Bauen für Kinder Aspekte rund um die Architektur und Bauten für Kinder Das Oberstufenschulhaus von Max Graf und der Andachtsraum von Ernst Gisel Objekte und verschwundene Orte

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Kapitel 6 Kunst und Kultur als Ausdrucksform von Kindern Kinder zeichnen ihre Welt Durch Gesang den Frieden fühlen – und fördern

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Dank Impressum


Vorwort

Was 1946 als humanitäre Geste der Schweiz aufgrund des Leidens der Kriegswaisen in Europa entstand, ist heute eine einzigartige Schweizer Non-Profit-Organisation, die sich für Kinder und Jugendliche in der Schweiz und in zwölf Ländern weltweit engagiert. Dabei stand und steht ihr Recht auf eine gute Bildung – ganz im Sinne des Namensgebers Johann Heinrich Pestalozzi – im Zentrum. Denn sein pädagogisches Konzept der ganzheitlichen Stärkung des Menschen für das selbstständige und kooperative Wirken in einem demokratischen Staat hat nichts von seiner Aktualität eingebüsst. Der von der Gründergeneration formulierten Vision, über die pädagogische Arbeit mit jungen Menschen die Grundlage für ein Zusammenleben in Frieden zu schaffen und zu stärken, bleibt die Stiftung treu. Gleichzeitig haben sich die Aktivitäten der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi mit der Zeit auch verändert, wie die Welt und die gesellschaftlichen Herausforderungen. 10


Dieses Buch nimmt Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mit auf den Weg des Kinderdorfs. Es soll Ihnen interessante und vielschichtige Einblicke in Entwicklung und Selbstverständnis der Stiftung gewähren – von den Anfängen bis zum Heute. Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und bedanken uns für Ihr Interesse. Wenn Sie mehr erfahren wollen, sind Sie jederzeit im Kinderdorf Pestalozzi herzlich willkommen.

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Ihre

Ihr

Rosmarie Quadranti Präsidentin des Stiftungsrats

Martin Bachofner Vorsitzender der Geschäftsleitung


Kapitel 1

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Ein Dorf


für Kinder

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Kapitel 1

Wo heute insgesamt 24 Liegenschaften stehen, standen 1946 lediglich drei Bauernhöfe. Sie bildeten den Kern der Siedlungsentwicklung.

Ein Dorf für Kinder


Ein Völkchen schenkt einer Idee Land

3. März 1946. Der Tag, an dem über den Standort des Kinderdorfs entschieden wurde. Die Einwohner- und Bürgergemeinde Trogen beschloss, Bauland für die Errichtung des Kinderdorfs abzutreten. Grossen Einfluss darauf hatten insbesondere zwei Personen: Josef Böni, evangelisch-reformierter Pfarrer, und Adolf Bodmer, Gemeindehauptmann und Lehrer an der Kantonsschule Trogen. Ohne diesen positiven Entscheid wäre die KinderdorfIdee nicht im Appenzellerland verwirklicht worden. Denn es gab auch Angebote aus Unterägeri im Kanton Zug und Zweisimmen im Kanton Bern. Doch zuerst ein Schritt zurück: Konkret wurde der Standort Trogen, als der Gemeinderat am 9. Januar 1946 für die Erstellung des Pestalozzidorfs rund acht Hektaren Bauland zum Preis von vierzig Rappen pro Quadratmeter anbot. Dieses Angebot war äusserst attraktiv, denn im Kaufpreis inbegriffen waren ein grosses Bauernhaus mit Scheune, sowie die Erstellung der Zufahrtsstrasse, Kanalisation und Wasserleitung. Ein weiteres Entgegenkommen war, dass das Bauland etappenweise nach Bedarf erworben werden konnte. Nach gründlicher Prüfung fasste der Vorstand der Vereinigung Kinderdorf Pestalozzi an seiner Sitzung vom 21. Januar 1946 den Beschluss, mit dem Bau des Kinderdorfs in Trogen zu beginnen. Nun fehlte nur noch ein entscheidender Schritt, der schliesslich am 3. März 1946 erfolgte. Damals versammelte sich die Einwohner- und Bürgergemeinde Trogen und genehmigte die Vorlage des Gemeinderats betreffend die Abtretung von Bauland für die Errichtung des Kinderdorfs. Parallel zur Planungs- und Genehmigungsphase konnte die Vereinigung Kinderdorf Pestalozzi das Waisenhaus «Schurtanne» in Trogen eröffnen. Das gemietete, geräumige Haus beherbergte so bereits ab dem 21. Mai 1946 dreissig Kriegswaisen aus Marseille und Toulon. Die Grundsteinlegung für den Bau des Kinderdorfs Pestalozzi erfolgte am 28. April 1946. Viele hundert, meist jugendliche, freiwillige Bauhelfer aus der Schweiz und Europa und aus allen Gesellschaftsschichten stellten sich in den Dienst der Kinderdorf-Idee und halfen mit, die Vision in die Tat umzusetzen. Bereits am 9. September 1946 erfolgte der Umzug der

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Kapitel 1

Ein Dorf für Kinder

Am höchsten Punkt des Kinderdorfs wehte einst die Schweizer Fahne sowie die Wimpel jener Nationen, aus denen die Kinder stammten. Heute wehen dort die Fahnen jener Länder, in denen die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi aktuell tätig ist.

Neben Walter Robert Corti richtete am Tag der Grundsteinlegung auch ein Schulmädchen aus Trogen einige Worte an das Publikum: «Ihr Mätle ond Buebe, wo kän Vater und kä Muetter meh hend, chönd zo üs ue, d’Stobe isch parat.»

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Ein Völkchen schenkt einer Idee Land

französischen Kriegswaisen in die ersten zwei Häuser des neu erbauten Kinderdorfs in Trogen. Wenig später wurden in zwei weiteren fertiggestellten Häusern Kriegswaisen aus Ungarn und Hamburg aufgenommen. Bis Ende 1946 waren schon sieben Kinderhäuser bewohnt. Das achte Haus wurde zuerst im Sinne eines Provisoriums – vorläufig als Wohnung des Dorfleiters und für Verwaltungsräume – genutzt. Zu diesem Zeitpunkt liefen noch Verhandlungen mit den jeweiligen Heimatländern über die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen aus der ehemaligen Tschechoslowakei, Griechenland und Italien.

«Bei den Schweizern zeigt sich immer wieder, daß sie trotz Radiosendungen und Publikationen erst beim Besuch die Organisation unseres Dorfes richtig kennen lernen. Oft auch scheint ihnen der eigentliche Sinn der Idee, nämlich daß dieses Dorf als Vorbereitung zu besserer internationaler Zusammenarbeit dienen soll, erst hier klar zu werden, und bei vielen löst dieses Moment neue Begeisterung aus.» Aus dem Jahresbericht der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi, 1953, S. 12.

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Kapitel 1

Blick in die einstige Canada-Hall. Das 1952 eingeweihte Gemeinschaftshaus des Kinderdorfs war Austragungsort zahlreicher gesellschaftlicher und kultureller Anlässe sowie wissenschaftlicher Tagungen rund um die Themen Kinder, Bildung und Frieden.

Ein Dorf für Kinder


Dank der UNESCO auf die internationale Agenda Samuel Boussion, Mathias Gardet, Martine Ruchat

Die Geschichte des Kinderdorfs Pestalozzi begann 1943 und geht auf Walter Robert Corti und Marie Meierhofer zurück, die sich für kriegsgeschädigte Kinder einsetzten. Im Sommer 1943 diskutierten die beiden mit Freunden über die Verantwortung, die jeder Einzelne für das Elend sowie für die Art und Weise des friedlichen Zusammenlebens trägt. So nahm das Projekt von Dörfern für kriegsgeschädigte Kinder langsam Gestalt an. Nach Cortis Willen sollten solche Dörfer quasi als Zentren «pädagogischer und universeller Kultur» neben der Schweiz auch in Polen, Griechenland und Deutschland gegründet werden. Hintergrund dafür war, dass er die Gefahr einer Entwurzelung für die umgesiedelten Kinder klar erkannte. Zur Kerngruppe der Gründer stiessen bald schon zwei weitere Personen, die dank ihrer guten Kontakte zu Quäkern, humanitären Kreisen und Reformpädagogen wesentlich zur Entwicklung des Projekts beitrugen: der Direktor der Schweizerspende an die Kriegsgeschädigten Rodolfo Olgiati und die Vorsteherin des Büros für kulturellen Austausch Elisabeth Rotten. Zum einen stellten sie sich für die aufgenommenen Kinder einen schönen Lebensraum vor, der für einen längeren Aufenthalt geeignet war als die damals üblichen drei Monate der «Kinderhilfe» des Roten Kreuzes. Zum anderen suchten sie nach einem pädagogischen Modell, das den Zusammenschluss von Nationen begünstigte sowie die Friedens- und Demokratieschulung in einer Philosophie der Verantwortung verbinden sollte. Ähnliche internationale Projekte als Inspiration? Aus heutiger Sicht ist nicht klar, inwiefern die Gründerinnen und Gründer ähnliche Ideen und Projekte anderswo auf der Welt kannten. Auf jeden Fall existierten damals schon diverse Konzepte mit teilweise vergleichbaren Zielen. Dazu gehörten beispielsweise die in anarchistischer Tradition stehende «Moderne Schule» von Francisco Ferrer, die zionistischen «Kibbuzim» in Palästina oder das vom katholischen Priester Edward J. Flanagan in Nebraska gegründete «Boys Town». Weiter erwähnenswert sind das protestantische «Homer Lanes Little Commonwealth» in

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