Appenzeller Verlag Leseprobe
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Unter Mitarbeit von Monika Golay-Boller, Anita Kast und Hanspeter Spรถrri
Buchumschlag: Drohnenaufnahme Dorfansicht 2018. Vorsatz vorne: Aussicht vom Gupf Richtung Appenzellerland mit Alpstein. Vorsatz hinten: Aussicht vom Gupf Richtung Bodensee. © 2020 Appenzeller Verlag, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck sind vorbehalten. Lektorat und Korrektorat: Verlagshaus Schwellbrunn Gestaltung/Layout: Emanuel Sturzenegger, Trogen Druck: Appenzeller Druckerei, Herisau ISBN: 978-3-85882-820-5 www.appenzellerverlag.ch
Inhalt
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Vorwort
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1969 – 300 Jahre Rehetobel
11 16
300-Jahr-Jubiläumsfeier Jugend und Dorfgemeinschaft Eine besinnliche Jubiläumsfeier?
19
Arthur Sturzenegger
Jubiläum 1969
16
Vom Textildorf zur Wohngemeinde 21
Textilindustrie in Zeiten des Strukturwandels
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29
Hochblüte der Stickerei – und ihr Niedergang Strukturwandel nach 1950 Arbeitsmigration aus Südeuropa Textilbranche nach der Krise
24 26 31
Optiprint
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Vittorio Paganini
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Textiles Vermächtnis: historische Bauten
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Jakob Kern
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Raumplanung seit 1969
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Herbert Maeder
40
51
Institutionalisierung der schweizerischen Raumplanung Ländliche Raumplanung Regionalplanung in den 1970er-Jahren: «Wir fühlen uns übergangen» Orts- und Quartierpläne Streit «Fernsicht-Berg» Quartierplan Holderen
53
Landwirtschaft: Vom Strukturwandel zur ökologischen Wende
54
Schwimmbad und Sportplatzsanierung
55
Heinz Meier
57
Abschluss der Ortsplanung Aufgestautes im zweiten Anlauf: der Bau des Mehrzweckgebäudes Wandel und Kontinuität in der Raumplanung nach 1980 Der Fall «Gaden» Gemeindeautonomie versus Urbanisierung
42 44 47 47
60 63 64 68 71
Michael Kunz
73
Esther Bondt und Barbara Köppel
75
Heimwesen: von der Fürsorge zur Dienstleistung
77
82
Der Wandel des Heimwesens am Beispiel der Stiftung Waldheim Vom gemeinnützigen Verein zum Big Player der Appenzeller Wirtschaft Ökonomisierung des Heimwesens Alterspflege in Rehetobel
79 80 87
Elisabeth und Stefan Mutzner
88
Antroposophisches Kinderheim Hofbergli
90
Anthroposophisches Schulheim Hofbergli
92
Alternativbeiz «Landhaus», Midegg, 1978 – 1989
94
Rehetobler Gastronomie – Aufschwung vor dem Lockdown
100
Karl und Nelly Fässler
Dorfalltag im Wandel der Zeit 101
Vereinsleben in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels
103
108
Lesegesellschaften und die Ausserrhoder Politik Lesegesellschaft Dorf Lesegesellschaft Robach Lesegesellschaft Lobenschwendi Lesegesellschaft Kaien Vom Handwerker- zum Gewerbeverein
104 105 106 107 110
Sarah Kohler
112
Hanueli Zuberbühler
114
Sportverein Rehetobel
117
Heidi Steiner-Kast
118
Velomuseum Rehetobel
119
Musikgesellschaft Brass Band Rehetobel
121
Marianne und Theo Zähner
122
Von der «Ortsverschönerungskommission» zum Verkehrsverein
124
Krankenpflege vor der Spitex-Ära
127
Vom Töchter- über den Frauen- zum Gemischtchor
129
Schule und Bildung in Rehetobel
129 135
Neue Unterrichtsmodelle Ein neues Schulgesetz und die Schulleitung als neue Instanz Das lange Warten auf einen Kindergarten
132 137
«rechtobler natur»: Einsatz für die Artenvielvalt
138
Präambel der Kantonsverfassung
139
Einführung des Ausländerstimmrechts im zweiten Anlauf
140
Friedhelm Braun
142
Astrid und Max Tobler-Geissmann
144
Karl Kern: ein Dorflehrer zwischen Bildung, Geschichte und Kirche
145
Die Kirche im Dorf
145 148
Landeskirchen und Religionswandel Abschaffung Kirchhöri
151
Emil Isoz
153
Bau der katholischen Kirche
154
Heinz Gröli
156
Barbara Bischoff
158
350-Jahr-Jubiläum: «Zeme läbe, zeme fiire»
165
Nachwort Zeittafel Gemeindepräsidenten, Kantonsräte, Regierungsräte und Pfarrer 1969–2019 Anmerkungen Bildnachweis Dank Autorenbiografien Abkürzungen
Jubiläum 2019 Anhang 168 170 171 176 177 178 180
Vorwort
Liebe Rechtoblerinnen und Rechtobler, liebe Leserinnen und Leser Geschichte kann abstrakt sein. Etwa die Weltgeschichte: Sie fasst zusammen, zeigt Strukturen und Zusammenhänge auf, die ein Mensch in seinem Alltag selten so wahrnimmt. Bei der Dorfgeschichte sieht die Sache etwas anders aus – insbesondere wenn die Geschichte jener (letzten) 50 Jahre erzählt wird, die man selbst erlebt hat. Denn als Zeitzeuge kann man die vorliegende Schilderung natürlich nicht ganz ohne innere Beteiligung lesen. Jeder ist bis zu einem gewissen Grad im Netz seiner Erfahrungen, Weltanschauungen und auch Interessen gefangen. Das ist bei mir auch so. Rehetobel hat sich in den letzten 50 Jahren massiv verändert – und hat tatsächlich Geschichte mitgeschrieben. Ich bin im Dorf aufgewachsen und Rehetobel treu geblieben. Meine ganz persönliche Geschichte ist mit dem Dorf verwoben. Wobei das Muster natürlich nicht so anschaulich ist wie die Werke der ehemaligen Sticker. Da gibt es viele schöne Erinnerungen, aber es blitzen auch Dinge auf, auf die man heute nicht stolz sein kann. Beispielsweise darauf, wie Heimkinder in der Schule schikaniert wurden. Gleichzeitig war der Zusammenhalt vor Jahrzehnten grösser und das Wort «Dorfgemeinschaft» noch mit mehr Inhalt gefüllt – aber das ist anderenorts vermutlich auch so. Von der Lektüre des vorliegenden Buches habe ich manche interessante Anregung bekommen. Selbstverständlich weicht meine Erinnerung beim einen oder anderen Thema etwas von der Erzählung ab. Mit Yigit Topkaya hat ein in Basel aufgewachsener und lebender Historiker einen Blick auf die rasante Entwicklung unseres Dorfes seit 1969 geworfen – und sie in den nationalen und sogar internationalen Zusammenhang gestellt. Damit öffnet er unseren Blick für grundsätzliche Fragestellungen im Umgang mit Raum und Landschaft. Was ich am vorliegenden Buch besonders schätze, sind die eingestreuten kurzen Texte zu Institutionen und Menschen. Es zeigt das, was Geschichte für Zeitgenossen in der Erinnerung wirklich ist, nämlich die Begegnung mit Menschen. Nach den Jahren des Bevölkerungsschwundes ist Rehetobel in den letzten 50 Jahren wieder gewachsen. Das ist in einem Dorf nicht nur Statistik, sondern es sind Momente des Kennenlernens. Es gibt in der Erinnerung ein gemeinsames Erleben mit unterschiedlichsten Menschen in verschiedensten 7
Lebenssituationen. Das Spektrum geht von Arbeitern bis zu Ärzten, von Schlitzohren bis zu bewundernswerten Altruisten oder von «Witzbolden bis zu sturen Böcken». Aus meinen über 50 Jahren Rehetobel nehme ich viel mit. Und ich hoffe, dass die neue Dorfgeschichte diese Erinnerungen für Sie, liebe Leserinnen und Leser, auch vertieft und zu neuen, vielfältigen Begegnungen anregt. Denn eines müssen wir uns bewusst sein: Wir haben es schön hier in Rehetobel. Ganz knapp heisst es im ersten Satz des Buches: «An Weitblick mangelt es Rehetobel nicht.» Das ist wohltuend prägnant formuliert und sicher richtig. Man könnte den Satz jedoch auch als sanften Wink lesen. Die Aussicht allein genügt nicht, die ist uns geschenkt. Dem sozialen Zusammenhalt und dem offenen Austausch unter einander jedoch müssen wir Sorge tragen. Der Dank gilt allen Rechtoblerinnen und Rechtoblern. Sie alle zusammen haben die Geschichte der letzten 50 Jahre geschrieben, wo auch immer sie im Dorf auf ganz verschiedene Art und Weise Verantwortung übernommen haben. Letztlich ist es die Verantwortung jedes Einzelnen, welche die Dorfgemeinschaft lebenswert macht – und das gilt mit Bestimmtheit auch für die nächsten 50 Jahre. Zudem möchte ich allen danken, die zum anregenden Buch beigetragen haben: der ehemaligen Gemeinderätin Hilda Fueter und Kantonsrat Michael Kunz für ihre Initiative; dem Historiker Albert Tanner, der den ersten Anlauf nahm und seine Arbeit dann an den Basler Historiker Yigit Topkaya übergab; und diesem natürlich dafür, dass er die Aufgabe übernahm und das Beispielhafte und Grundsätzliche der Rehetobler Entwicklung herausarbeitete. Schliesslich gilt mein Dank auch dem freiwilligen Autorenteam mit Monika Golay-Boller, Anita Kast und Hanspeter Spörri, sowie Arthur Sturzenegger für Inputs und Gegenlektüre, Emanuel Sturzenegger und Hans Rudolf Lüscher für Layout und Bildredaktion. Urs Rohner, Gemeindepräsident
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Jubiläum 1969
1969 – 300 Jahre Rehetobel An Weitblick mangelt es Rehetobel nicht. Die Aussicht oben auf dem Gupf, einen kurzen, aber steilen Spaziergang vom Dorfkern entfernt, bietet neugierigen Besuchern ein einzigartiges Panorama. Beim Aufstieg auf die Krete auf einem sich den Hügel hinaufschlängelnden Weg schaut man immer wieder von einem anderen Blickwinkel auf das voralpine, hügelige Appenzellerland, erblickt die Nachbardörfer Wald, Trogen und Speicher sowie, bei guter Sicht, den Alpstein am Horizont. Oben auf dem Gupf angekommen zeigt sich eine andere Landschaft: Der Blick, nunmehr nach Norden gerichtet, schweift über die flache Bodenseeregion, die Ostschweizer Kantone St. Gallen und Thurgau sowie nach Süddeutschland, und man entdeckt zahlreiche Kleinstädte rund um den See. Die Aussicht auf diese zwei unterschiedlichen Landschaften könnte kaum kontrastreicher sein. Und doch eint beide Landschaftsräume eine gemeinsame, jahrhundertealte Geschichte: Vom 17. bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab die Textilindustrie hier den Ton an. Weberei und Stickerei läuteten in St. Gallen und Appenzell Ausserrhoden die Frühindustrialisierung ein, wodurch die Region einen rasanten Bevölkerungszuwachs erlebte. Doch die Krisen des letzten Jahrhunderts, die Grosse Depression der 1930er-Jahre und die Ölkrise der 1970er–Jahre, führten zum Niedergang der Ostschweizer Textilindustrie und in manchen Ausserrhoder Gemeinden, so auch in Rehetobel, zu einer massiven Abwanderung. Gleichzeitig machte die Region einen Strukturwandel durch, der in den Diskussionen um Raumplanung und Zersiedelung bis heute fortwirkt. An die Stelle der strukturerhaltenden Massnahmen für das Textilgewerbe traten seit den 1970er Jahren Regional-, Orts- und Richtpläne für Infrastruktur, Verkehrsnetz, Dienstleistungen und Wohnungsbau. Mit raumplanerischen Massnahmen versuchte man, die Zersiedelung zu stoppen und dem anhaltenden Bevölkerungsrückgang entgegenzuwirken. Dies ist der Gemeinde Rehetobel gelungen – auch wenn man von der Einwohnerzahl zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Stickerei ihre Blütezeit erlebte, weit entfernt ist. Gleichwohl hat die textile Vergangenheit ihre sichtbaren Spuren hinterlassen. Ihr grosses Vermächtnis sind die Bauten aus der Zeit der Industrialisierung, die Weberhöckli, Sticklokale und Stickerhäuser, die das Ortsbild von Rehetobel als Textildorf kennzeichnen. Nichtsdestotrotz hat sich in den letzten Jahrzehnten das 9
Jubiläum 1969
Ortsbild stark gewandelt, was auch mit der besonderen geographischen Lage von Rehetobel zusammenhängt. Wer oben auf dem Gupf auf 1089 Metern über dem Meeresspiegel und mithin über der Nebelobergrenze steht, erblickt bei guten Sichtverhältnissen den Säntis, das Wahrzeichen der Region. Die gleiche Aussicht bietet sich indes auch den Dorfbewohnern, wenn sie aus den Fenstern ihrer Wohnungen im tiefer gelegenen Dorfkern (950 m ü. M.) hinausblicken. Ein Naturspektakel, welches das Gefühl weckt, die voralpine Naturlandschaft liege direkt vor der Haustür.
Fantastische Lage über dem Nebelmeer.
Es ist diese besondere Höhen- und Südlage des Dorfkerns, verwöhnt von Sonnentagen, unweit vom einiges tiefer liegenden urbanen St. Gallen, die zum Image Rehetobels als Naherholungsraum entscheidend beigetragen hat. Die Busfahrt nach St. Gallen dauert eine knappe halbe Stunde. Wenn die Stadt im Herbst «im Nebelmeer versinkt» (siehe Interview Bondt / Köppel, S. 73), so sucht, wer kann, auf der Höhe des Dorfzentrums die Sonne. Und wenn es im Winter in St. Gallen regnet, kann es passieren, dass man unterwegs nach Rehetobel die Schneegrenze überschreitet. Mit dieser besonderen Lage wirbt die Gemeinde um die Gunst von potenziellen Interessenten aus dem urbanen Umfeld. Doch das Selbstbild der Gemeinde als ländlicher, naturnaher, ruhiger und somit attraktiver Wohnort 10
ist jüngeren Datums und passt weniger zur textilen Vergangenheit. Zu Zeiten der Hochkonjunktur ratterten und rauschten die Webstühle und Stickmaschinen bis tief in die Nacht. Und da fast jeder Weiler über eigene Webstühle und Stickmaschinen verfügte, war das Dorfleben weniger auf das Dorfzentrum ausgerichtet, sondern fand in der Streusiedlung statt. Trotz allen Struktur- und Imagewandels ist die Erinnerung an jene Zeit bis heute lebendig geblieben. Nicht zuletzt dank dem Engagement der Dorfbewohner. So legte die Gemeinde bereits 1954 einen Fonds an mit dem Ziel, die Geschichte Rehetobels schreiben zu lassen. Zwar erfolgte der Kontakt zum Historiker Walter Schläpfer erst 1964, damit war aber der entscheidende Schritt getan. Ein Jahr darauf bildete sich ein fünfköpfiges Autorenteam, das fünf Jahre lang die Dorfgeschichte seit der Gründung als autonome Gemeinde (1669) erforschte. Das Resultat war eine rund 400 Seiten umfassende Gemeindechronik, die rechtzeitig zur Jubiläumsfeier von 1969 erschien.1 Damit ging ein lang ersehnter Wunsch in Erfüllung: Rehetobel blickte in einem schriftlichen Werk auf seine 300-jährige Geschichte als selbstständige Gemeinde und gleichsam auf seine textile Vergangenheit zurück. 300-Jahr-Jubiläumsfeier Das offizielle Festdatum der Jubiläumsfeier, der 29. August 1969, erinnerte an jenen Sonntag, an dem 300 Jahre zuvor Rehetobel die erste eigene Kirche eingeweiht und sich damit von Trogen, der ehemaligen Muttergemeinde, gelöst hatte. Mit der kirchlichen Abspaltung hatte man gleichzeitig die politische Selbstständigkeit erlangt. Im Gedenken an diesen historischen Tag besuchte die Bevölkerung anlässlich der 300-Jahr-Jubiläumsfeier am 24. August 1969 den Gottesdienst in Trogen.
Kirchgang nach Trogen wie einst vor 1669.
Treffen vor der Kirche Trogen. 11
Jubiläum 1969
Fünf Tage später begann am Freitagmorgen das eigentliche Fest in der reformierten Kirche von Rehetobel – ebenfalls mit einem Gedenkgottesdienst. Danach ging es für Einwohner und Gäste zum Mittagessen ins Festzelt, das trotz der Kapazität für 1200 Personen bis zum letzten Platz gefüllt war.
Die Schuljugend zeigte ein Festspiel mit historischen Szenen – Regieanweisungen im Backstage – Heimarbeit in kinderreicher Familie – Schülergesang – Warten auf den Auftritt – Tanz mit Streichmusik. Karl Kern (mitte rechts) und Arthur Sturzenegger (unten links).
Anschliessend führte die Schuljugend das historische Spiel «Im Rechtobel 1669–1969» auf, das in sechs Bildern einen Querschnitt durch die Geschichte der Gemeinde bot. Verfasst hatten es die ortsansässigen Lehrer und Autoren der Jubiläumsschrift, Karl Kern und Arthur Sturzenegger. 12
Festumzug 29./30. August 1969, Musikgesellschaft.
Rehetobler Schülerinnen und Schüler. Die Musikgesellschaft vor der Drogerie Cauderay.
Frauen- und Männerriege des Turnvereins. Gründungsjahr des Vereins ist 1859. Die Damen hätten also eine 110 zum Festplatz tragen müssen.
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Jubiläum 1969
Der Feuerwehrverein präsentierte alte Löschgeräte in historischen Kostümen.
Am Nachmittag fand der von den Dorfvereinen organisierte Festumzug statt, an dem auch die italienischen Arbeitsmigranten einen Auftritt hatten. Einer der Teilnehmer, Vittorio Paganini, erinnert sich: «Wir hatten beschlossen, am Umzug mitzuwirken. Dank der Hilfe meiner Frau, der Unterstützung der Weberei Volkart sowie der Familie Devonas war unsere Idee realisierbar. Mit einem Dreigespann vor einem Wagen, auf dem vier Säulen mit zwei Dreiecksgiebeln verbunden waren, und einer Spaliergruppe mit Kostümen wie im alten Rom, marschierten wir stolz mit den anderen Gruppen durch die Rehetobler Hauptstrasse. Zusätzlich bauten wir ein Zelt auf dem Schulareal auf, das als Ristorante diente. Die Küchenmannschaft mit Anna Volkart an der Spitze kochte Spaghetti, junge Italiener als Kellner servierten Speisen, Rotwein und Espresso – alles mit einer Prise ‹Italianità›.»2
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Der zweite Festtag stand im Zeichen der Jugend: Bei prächtigem Wetter, so ist in der Jahresrßckschau im Appenzeller Anzeiger zu lesen, der in jenem Jahr zum letzten Mal erschien, fanden ein Seifenkistenrennen und ein Ballonflugwettbewerb statt. Der Bote, der am weitesten flog, schaffte es bis nach Tettnang, das rund 30 Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Bodensees bei Friedrichshafen liegt. Die Feierlichkeiten dauerten bis Sonntag und endeten mit einem musikalischen Ausklang.3
Publikumsandrang beim Seifenkistenrennen von der Metzgerei Traube bis Sonder. 15
Jubiläum 1969
Jugend und Dorfgemeinschaft Dem Gemeinderat lag die Teilnahme der Jugend an der Jubiläumsfeier ganz speziell am Herzen. Dieser Wunsch kommt in einem Brief an Arbeitgeber, Lehrmeister und Schulleitungen ausserhalb Rehetobels deutlich zum Ausdruck. Der Gemeinderat ersuchte darin die Briefempfänger, junge Gemeindebürger für das Dorffest zu beurlauben mit der Begründung, dass gerade für die jüngere Generation der festliche Anlass «zu einem Erlebnis der Zusammengehörigkeit und der Verbundenheit mit dem Heimatdorf werden» solle. Dem Gemeinderat war also der dörfliche Gemeinschaftssinn ein Anliegen: «Verwurzelung in einer angestammten Dorfgemeinschaft ist gewiss für manchen jungen Menschen in einer eher traditionsfeindlichen Umwelt eine Quelle gesunder Lebensfreude und verbindenden Gemeinschaftsgefühls.» Dieses Gefühl einer intakten Dorfgemeinschaft während des Jubiläumsfestes zu vermitteln, war Aufgabe der Ortsvereine. Ihnen übertrug der Gemeinderat die Verantwortung für das Unterhaltungsprogramm. Unter der Leitung des Turnvereins, der im gleichen Jahr sein 110-jähriges Bestehen feierte, bildeten denn auch die Ortsvereine das Organisationskomitee. 4 Eine besinnliche Jubiläumsfeier? War derart das Jubiläumsfest von 1969 ein besinnlicher Anlass? Eine Feier, die in Zeiten des Wandels traditionelle Werte wie Gemeinschafts- und Heimatgefühl vermittelte, so wie es dem Gemeinderat vorschwebte? Mag sein. Aber die Zeichen der Zeit waren ganz andere. Und sie waren bei aller Traditionsrhetorik den Verantwortlichen nicht entgangen. Rehetobel verzeichnete seit mehreren Jahrzehnten einen steten Bevölkerungsrückgang, der sich zwar während des Wirtschaftsbooms in den 1950er- und 1960er-Jahren etwas abschwächte, doch nach der Ölkrise seinen Höhepunkt erreichen sollte. Von über 2400 im Jahr 1910 war die Bevölkerungszahl 1969 auf 1629 Einwohner gefallen. Dieser demographische Negativtrend, verbunden mit der Abhängigkeit von der Textilindustrie, gefährdete die Zukunft und Überlebenschancen der Gemeinde. Rehetobel war damit kein Einzelfall – und reagierte auf die negative demographische Entwicklung nicht im Alleingang. Gemeinsam mit weiteren Ausserrhoder Gemeinden trat Rehetobel 1971 der Vereinigung der Gemeinden in der Region St. Gallen bei, die 1969 ins Leben gerufen worden war, um raumplanerische Massnahmen für 16
die Region zu entwickeln. Primäres Ziel dieser Regionalplanung war es, dem Trend der Abwanderung entgegenzuwirken. Dafür erarbeitete man ein räumliches Konzept für die industrielle Entwicklung der Region. Es ging allerdings nicht nur um Industrie- beziehungsweise Wirtschaftsförderung. Mit Blick auf das touristische Potenzial der Region formulierte man 1972 «provisorische raumplanerische Schutzmassnahmen», die zu einem schonenden Umgang mit Natur- und Kulturlandschaften führen sollten. Gleichzeitig beauftragte die Gemeinde ein Planungsbüro, Vorabklärungen für eine Gesamtortsplanung zu treffen, die Perspektiven Rehetobels zu analysieren und einen Leitplan zu entwerfen. Bis zum Schlussbericht 1980 – im gleichen Jahr trat das erste Raumplanungsgesetz auf Bundesebene in Kraft – verging fast ein Jahrzehnt. In der Zwischenzeit wurden Quartierpläne entwickelt, ein neues Baureglement entworfen, ein neuer Kindergarten sowie die katholische Kirche fertiggestellt und eingeweiht. In derselben Zeit entbrannte aber auch ein Streit um den Quartierplan Fernsicht-Berg – «ein landschaftliches Kleinod»5 wie der über die Gemeinde- und Landesgrenzen bekannte Rehetobler Fotograf und Nationalrat Herbert Maeder (1930–2017) die Hügelkuppe beschrieb. Der Konflikt dauerte rund ein Jahrzehnt und wurde zuletzt am Bundesgericht ausgetragen. Er zeugt nicht zuletzt von einer gegenläufigen Entwicklung im Vergleich zum gesamtschweizerischen Trend: Den Rehetoblerinnen und Rehetoblern gelang es, in Zeiten des Baubooms und der Anfänge der Zersiedlung einen Erholungsraum vor der Überbauung zu bewahren. Wer heute auf der Krete steht und die Aussicht auf das Appenzellerland und den Alpstein geniesst, wandelt so gesehen entlang einer umkämpften wie fragilen Kulturlandschaft. Dass das einzigartige Panorama auf der Krete der Öffentlichkeit weiterhin zur Verfügung steht, ist der Weitsicht jener Dorfbewohner zu verdanken, die mit ihrem Engagement die natürlichen Vorzüge Rehetobels zu erhalten vermochten. Das Jahr 1969 stand im Zeichen des Wandels und der Herausforderung, Wege zu finden, um sich von der einseitigen Ausrichtung auf die Textilindustrie zu lösen und für die Zukunft neu aufzustellen. Das Ziel war der Wandel Rehetobels von einem Textildorf zu einer Wohngemeinde mit Wohn- und Lebenskomfort. Das Mittel dazu lautete: Raumplanung. Doch trotz aller raumplanerischer Massnahmen nahmen insgesamt in der Schweiz Urbanisierung und Verstädterung weiter zu. Heute leben drei Viertel der Bevölkerung im 17
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städtischen Umfeld. Angesichts dieser Entwicklung wurde die Wirksamkeit raumplanerischer Massnahmen insbesondere mit Blick auf die Entwicklung des ländlichen Raumes in den letzten Jahren angezweifelt. Aus dieser Perspektive scheint die Zukunft des Dorfs als Lebensund Sozialform alles andere als gesichert. Als vor einem halben Jahrhundert der Gemeinderat aktiv wurde und sich für einen Gesamtortsplan entschied, wollte er unter anderem verhindern, dass Rehetobel als Randgemeinde und Naherholungsraum zum «Landschaftsmuseum» wird. Die Sorge um das künftige Erscheinungsbild des Dorfs und gleichsam um die Zukunft der Gemeinde war angesichts des rasanten Wandels, den die Schweiz Mitte des Jahrhunderts erlebte, mehr als begründet. An Weitblick mangelte es also den Rehetoblerinnen und Rehetoblern nicht. Sie waren keine hilflosen Zeugen eines unaufhaltsamen Wandels, sondern gestalteten die Entwicklung mit und trugen dazu bei, dass sich Erscheinungsbild und Alltag des ehemaligen Textildorfes grundlegend gewandelt haben.
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Verfasst am 20. Januar 2020
und der blaue Himmel. Also blickte er immer wieder hinüber zum Dorf am Sonnenhang und fragte sich, ob er den Lehrerberuf je würde ausüben können. Eigentlich hätte er die Matura machen wollen. Der Klassenlehrer an der Kantonsschule Trogen hatte ihn aber aufgefordert, stattdessen das Lehrerseminar zu besuchen. Studieren könne er später immer noch. Es herrschte zu jener Zeit Lehrermangel, gute Gymnasiasten waren gefragt, und Arthur Sturzenegger hielt sich an den Rat. Geradezu beleidigt reagierte allerdings sein Geschichts- und Lateinlehrer Walter Schläpfer, Bartli genannt. Lieber hätte er ihn in der Historiker-Laufbahn gesehen. «Ihn zu enttäuschen tat mir leid, denn ich war von ihm so angetan, dass ich am liebsten werden wollte wie er», sagt Sturzenegger heute.
Arthur Sturzenegger (*1933) Ein Berufsleben lang war Arthur Sturzenegger Lehrer in Rehetobel. Er kennt die Gemeinde wie niemand sonst und übte während Jahrzehnten zahlreiche Funktionen im Dienste der Öffentlichkeit aus, etwa als Zeitungskorrespondent, Gemeinderat oder Untersuchungsrichter. Hanspeter Spörri Es ist ein Satz, der Arthur Sturzeneggers Leben geprägt hat: «Wenn man Euch bittet, im Dorf ein Amt zu übernehmen, beispielsweise als Organist oder Chorleiter – sagt nicht nein!» Gesagt hat dies Willi Schohaus (1897 – 1981). Arthur Sturzenegger erinnert sich gut an seinen Pädagogiklehrer, der von 1928 bis 1962 Direktor des Thurgauischen Lehrerseminars in Kreuzlingen war. Schohaus, der aus dem Ruhrgebiet stammte, war im 1. Weltkrieg Soldat gewesen, hatte 1922 an der Universität Bern mit einer Arbeit zur Psychoanalyse promoviert, war Autor einflussreicher Bücher («Schatten über der Schule», «Erziehung zur Menschlichkeit»). Seinen Seminaristen riet er, sich nicht einfach als Unterrichtsbeamte zu verstehen. Als Lehrer seien sie Kulturträger und sollten im öffentlichen Leben der Gemeinde mitwirken. Daran hat sich Arthur Sturzenegger, der sich noch heute als «Schohausianer» bezeichnet, in Rehetobel stets gehalten. Dass er sein ganzes Berufsleben hier verbringen würde, wusste er als Seminarist noch nicht. 1951 war er 18 Jahre alt und seit zwei Jahren am Seminar in Kreuzlingen, als ihn die Kinderlähmung ereilte. An den Beinen gelähmt und mit Schmerzen lag er in einer kleinen Kammer des Spitals seines Geburtsorts Trogen – «in der Absonderung», wie er sich erinnert. Während dreier Wochen bot sich ihm durch das einzige Fenster vom Bett aus eine beschränkte Aussicht: Rehetobel
Von der Kinderlähmung genas der junge Mann innerhalb weniger Monate. Deren Folgen machen ihm allerdings bis heute zu schaffen. Noch vor Abschluss des Seminars folgte er erneut einem Rat, der an ihn herangetragen wurde: Sich in Rehetobel zu melden, weil dort eine Stelle frei sei. Nach den Probelektionen, bei denen die Schüler wunderbar mitgemacht hätten, lud ihn die Schulkommission in den «Löwen» ein und nannte ihm den Lohn, den er erhalten werde: 450 Franken. Erneut waren die Weichen gestellt – fast ohne eigenes Zutun. Ein paarmal dachte er daran, doch noch sein vorgesehenes Studium in Angriff zu nehmen: «Aber jedes Mal, wenn ich mir das überlegte, reuten mich die Schüler.» Er habe ein tolles Verhältnis zu den Kindern gehabt – und auch zu deren Eltern. Obwohl er erst knapp über zwanzig Jahre alt war, übernahm er auf Bitte des späteren Gemeindehauptmanns Alfred Tobler das Aktuariat der Feuerpolizei, der die Wasserversorgung oblag. Im Laufe der Jahre trug man ihm fast jedes Amt an, das in der Gemeinde zu vergeben war. Einzig das Gerichtspräsidium schlug er zunächst aus, weil er auch bei Verkehrsunfällen hätte ausrücken müssen: «Ich konnte doch nicht bei jedem Vorfall einfach die Klasse alleine lassen. Das wurde akzeptiert. Immerhin übernahm ich das Vizepräsidium. Und der Präsident – ein Landwirt – bat mich immer wieder, an seiner Stelle auszurücken, weil er gerade zu einer ‹Färlisau› schauen müsse. Zum Glück war das meistens abends oder nachts, kaum je während der Schulstunden.» Kurz vor Auflösung der Gemeindegerichte übernahm er noch die Funktion des Untersuchungsrichters, musste sich mit komplexen juristischen Fragen auseinandersetzen. «Das kam fast einem Mini-Jus-Studium gleich», erinnert sich Sturzenegger. Er habe viel über Zivilrecht gelernt und sei an den Gerichtskonferenzen in Trogen gut instruiert worden.
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Und wiederum sagte er nicht nein, als Gemeindehauptmann Willi Walser, der spätere Landammann, ihn kurz nach Stellenantritt aufforderte, Gemeindekorrespondent für die «Appenzeller Zeitung» zu werden. Oft stand er deshalb in einem Interessenkonflikt, weil er einerseits an Veranstaltungen mitwirkte, über die er anderseits als Korrespondent zu berichten hatte. Was waren die Motive für dieses unermüdliche Tun? «Elli, meine Frau, findet, ich könne nicht nein sagen. Aber es freut mich halt einfach, wenn ich gebraucht werde.» So war das wohl auch, als Rehetobel 1969 zum 300-Jahr-Jubiläum eine Gemeindegeschichte erhalten sollte und der zunächst als Autor vorgesehene Walter Schläpfer absagte, weil er vom Kanton den Auftrag erhalten hatte, die Geschichte von Appenzell Ausserrhoden zu verfassen. Er bat deshalb Arthur Sturzenegger, die Aufgabe zusammen mit seinem Lehrerkollegen Karl Kern zu übernehmen. «Auch hier sagte ich zu, und ich bereue es nicht. Für mich war es quasi ein Geschichtsstudium, das ich so machen konnte, mit präzisen Ratschlägen und Anleitungen von Bartli Schläpfer, der uns zeigte, mit welchen Quellen wir arbeiten konnten und wie wir mit ihnen umzugehen hatten.» Immer noch ist Arthur Sturzenegger ein wenig stolz auf dieses Buch, das nicht nur die Ortsgeschichte beschreibt, sondern diese in die Geschichte der Schweiz und der Welt einbettet. Die Recherche sei allerdings mühsam und kompliziert gewesen: «Das Gemeindearchiv war nicht erschlossen, die Dokumente lagerten in einem feuchten Raum unter der Kirche.» Als Sturzenegger im Vorstand des Verkehrsvereins war, zu Beginn der 1970er-Jahre, kam es im Dorf zu einem grossen Konflikt. Bei der Fernsicht waren bereits zwanzig Parzellen verkauft worden. «Wir fanden, es gehe nicht an, die ganze Kuppe zu überbauen und erhoben Einsprache. Der Gemeinderat lehnte sie ab, wir machten Rekurs beim Regierungsrat. In einem vierzeiligen Brief teilte man uns mit, wir seien nicht zur Einsprache legitimiert, obwohl wir dies abgeklärt hatten und unserer Sache sicher waren.» Man gelangte also an Regierungsrat Robert Höhener persönlich, und er erkannte, dass der Fall eine korrekte Behandlung verdient. In der Folge kam es zu einem Baustopp. Die Unterschutzstellung der Kuppe musste schliesslich vom Bundesrat beurteilt werden. Die zivilgerichtliche Forderung der Grundeigentümer nach Entschädigung in Millionenhöhe landete vor Bundesgericht (siehe Kapitel Raumplanung seit 1969, ab Seite 36). Schliesslich willigten die Grundeigentümer in einen Vergleich ein, der ihnen eine bescheidene Entschädigung zubilligte, während der Boden in den Besitz der Gemeinde überging.
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Als Federführender des Rekurses sei er zur Zielscheibe geworden, erinnert sich Arthur Sturzenegger – obwohl Einsprachen und Rekurse doch ein rechtsstaatliches und legitimes Mittel seien. In der Gemeindeabstimmung sagte eine deutliche Mehrheit ja – anders als die Gegner erwartet hatten. «Und als die Abstimmung vorbei war, behandelten mich viele Leute wieder freundlich, die es zuvor kaum mehr gewagt hatten, mit mir zu reden.» Das Engagement für den Landschafts- und Naturschutz und sein naturwissenschaftliches Interesse trugen ihm in der Folge das Co-Präsidium des St. Gallisch-Appenzellischen Naturschutzbunds ein. Sein gesellschaftliches Interesse führte dazu, dass er in den Vorstand der Lesegesellschaft Dorf und in jenen der Appenzellischen Gemeinnützigen Gesellschaft (AGG) gewählt wurde. Beide Institutionen präsidierte er während vieler Jahre. Die vielen Aufgaben und Ämter seien manchmal wie eine Lawine auf ihn zugekommen, sagt Arthur Sturzenegger heute. Daneben habe er immer zu 100 Prozent unterrichtet, zuerst als Primar-, nach einer berufsbegleitenden Ausbildung als Reallehrer und nach einer weiteren Zusatzausbildung für Berufsberatung als Lehrer für eine Berufswahlklasse. Von 1978 bis 1996 war er Gemeinderat, ab 1991 zusätzlich Vizehauptmann. Als er 57 Jahre alt war, habe ihn der damalige Bildungsdirektor Hans Höhener dringend gebeten, endlich den ihm zustehenden Bildungsurlaub anzutreten. Zusammen mit seiner Frau Elli verbrachte er ein halbes Jahr in Frankreich – «eine wunderbare Zeit». Eines Abends habe er telefonisch erfahren, dass Gemeindehauptmann Walter Bischofberger aufhöre. Und der Anrufer habe einen Satz gesagt, den er schon gut kannte: «Jetzt musst du es machen!» Doch er habe Elli versprechen müssen, diesmal nicht zuzusagen. «Und das habe ich bedenkenlos und sofort getan. Ohne Ellis vorbehaltlose Unterstützung und Rückendeckung in schwierigen Zeiten hätte ich meine vielen Aufgaben nicht übernehmen können.»
Vom Textildorf zur Wohngemeinde
Textilindustrie in Zeiten des Strukturwandels Die wirtschaftliche und demographische Entwicklung Rehetobels hing bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vom Schicksal und Geschick der Textilindustrie ab. Ein Grossteil der Erwerbstätigen fand, insbesondere als Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter, in der Textilbranche eine Beschäftigung. Auf das Textilgewerbe hatten sich Rehetobel und die Region Ostschweiz sehr früh spezialisiert: Die Anfänge gehen auf das Spätmittelalter zurück, als sich das Leinwandgewerbe in St. Gallen und im Bodenseeraum verbreitete. Im Appenzellerland entdeckten zunächst Bauern, die in der Viehwirtschaft tätig waren, im Weben und Spinnen einen willkommenen Nebenverdienst während der weniger arbeitsintensiven Winterzeit.
Flachsanbau, um Fasern für die Weiterverarbeitung zu Leinenstoffen zu gewinnen, ist hier für die Zeit um 1400 überliefert. Die Leinenweberei verbreitete sich erst im 16. Jahrhundert. Zu jener Zeit etablierten sich auch in Rehetobel Flachsspinnerei und Leinenweberei als saisonale Ergänzungsarbeit für Kleinbauern. Sie lieferten ihre für den überregionalen Markt hergestellten Produkte den Textilhänd21
Johannes Graf im Weiler Nasen war der letzte Seidenweber im Dorf. Er produzierte Seidenbeuteltuch für die Müllerei.
Vom Textildorf zur Wohngemeinde
lern in St. Gallen. Als Mitte des 17. Jahrhunderts in Trogen ein Leinwandmarkt entstand, verbesserten sich die Absatzmöglichkeiten für die Weber in Rehetobel. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts verlagerten sich dann die Geschäftsbeziehungen nach Speicher. Gleichzeitig fand der Wechsel von der Leinwand zur Baumwolle statt, und die Baumwollindustrie entwickelte sich rasch zum wichtigsten Erwerbszweig für breite Bevölkerungsschichten, so auch in Rehetobel, wo die Textilheimarbeit weiterhin der Haupterwerb für einen grossen Teil der Bevölkerung blieb. Die regionale Konzentration des Textilgewerbes steht am Anfang der Ostschweizer Frühindustrialisierung, die zu einem starken Bevölkerungswachstum führte: Im 19. Jahrhundert zählte Appenzell Ausserrhoden zu den am dichtesten bevölkerten Regionen Europas – obwohl die topographischen Gegebenheiten keine günstigen Voraussetzungen für die Industrie boten.1
Der Handsticker Karl Bänziger führt mit der linken Hand den Pantographen über das vergrösserte Muster, während die rechte Hand die Kurbel dreht, mit der die Stickwagen bewegt werden.
Hochblüte der Stickerei – und ihr Niedergang Ende des 19. Jahrhunderts, als die Stickerei die Textilbranche dominierte, betrug der Anteil der im Textilsektor Beschäftigten im Kanton Appenzell Ausserrhoden gegen 90 Prozent. Die Stickerei hatte sich im 18. Jahrhundert in der Region etabliert und Mitte des 19. Jahrhunderts die Heimweberei als bedeutendsten Arbeitszweig abgelöst. Webstühle wurden durch Stickmaschinen ersetzt, Webkeller der Grösse der Handstickmaschinen angepasst und neue Sticklokale gebaut. Technische Entwicklungen beschleunigten den Arbeitsprozess. So brachte die Erfindung der Schifflistickmaschinen Mitte des Jahrhunderts eine Leistungssteigerung um das Zehnfache mit sich. Die Einführung von Stickautomaten mit Lochkarten Anfang des 20. Jahrhunderts verlieh dem anhaltenden Boom zusätzlichen Auftrieb: 1910 stellte die Stickerei mit 18 Prozent Gesamtexport den grössten Exportzweig der Schweiz dar.2 Auch Rehetobel verwandelte sich während der Hochblüte der Stickerei von einem Weber- zu einem Stickerdorf: So entstanden nach 1900 «die vielen Häuser des östlichen Dorfteils samt Oberstädeli mit seiner typischen Reihe gleich aussehender Stickerhäuser».3 Am Beispiel der Stickerei zeigen sich jedoch auch die negativen Seiten einer textilen Monokultur und des damit einhergehenden wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses: Konkurrenz durch Niedriglohnländer, Modewechsel sowie protektionistische Massnahmen in Deutschland und den USA – wichtige Absatzmärkte für die hiesige Textilbranche im 19. Jahrhundert – beendeten in den 1930er-Jahren 22
abrupt den Höhenflug der Stickerei und führten zu einer strukturellen Krise der exportorientierten Schweizer Textilindustrie. Waren in der Schweiz im Jahr 1910 noch über 70 000 Erwerbstätige in der Stickerei beschäftigt, so reduzierte sich ihre Zahl 1941 auf unter 6000. Der Krise zum Opfer fielen nebst Arbeitsplätzen auch Tausende Stickmaschinen, die mit finanzieller Unterstützung durch den Bund verschrottet wurden, um Überkapazitäten und Überangebot zu reduzieren. Strukturerhaltende Massnahmen sowie eine zwischenzeitliche Hochkonjunktur während der sogenannten Trente Glorieuse (1950er- bis 1970er-Jahre) liessen Hoffnungen aufkommen, dass sich das Schicksal der Textilindustrie und die wirtschaftliche Entwicklung der Region doch noch zum Positiven wenden würde. Ölkrise und Rezession in den 1970er-Jahren bedeuteten dann freilich das definitive Ende der textilen Massenproduktion.4
Ehemalige Stickereifabrik kurz vor dem Abbruch.
An gleicher Stelle steht das Hotel und Restaurant «Dorfhus Gupf». 23