Renate Schoof Blauer Oktober

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Es hatte Ricardo merkwürdig berührt, den inzwischen über Sechzigjährigen noch genauso verquollen und unfertig zu finden wie bei der ersten Begegnung vor mehr als fünfunddreißig Jahren. Das war bei der politischen Arbeit in der Studentenselbstverwaltung: Unzuverlässig, fixiert auf »Frischfleisch« und andere Genüsse. »Hedonistisch«, wie Haprecht selber es nannte. Immer die richtige Parole auf dem Schnullermund, aus dem jede noch so richtige Aussage zweideutig und unappetitlich klang; so hatte Ricardo es damals empfunden, und so empfand er es noch. Später, bei Kunstaktionen und Symposien, zu denen man sie beide einlud, war er dem »Riesenbaby« unauffällig aus dem Weg gegangen. Es erstaunte ihn immer noch, dass er sich auf ein gemeinsames Projekt mit ihm eingelassen hat. Denn obwohl er den ehemaligen Studienkollegen abstoßend findet, ließ er bei der Begegnung vor ein paar Monaten seine Besorgungen in der Großstadt ausfallen, um stundenlang über alte Zeiten zu plaudern. Den Ausschlag gab dabei, dass Günni – die Frage, ob er weiterhin »Günni« sagen dürfe, war positiv beschieden worden – anfing, von Ruth zu erzählen. Ruth lebe seit Jahren getrennt von ihrem Mann. Er habe sie neulich auf Rolfs Beerdigung getroffen. Ach, das wisse er noch gar nicht? Rolf sei an Lungenkrebs gestorben, hätte sich buchstäblich zu Tode gequalmt. Während er das sagte, hatte Günni ungerührt weitergenuckelt an seiner teuren kubanischen Zigarre, natürlich kubanisch, was denn sonst? Auf solche Details legte der ehemalige Kämpfer für Gerechtigkeit großen Wert, ganz so als trüge das Rauchen kubanischer Zigarren zum Sieg der Weltrevolution bei. Auch er hatte sich den Genuss seiner Gauloises nicht vermiesen lassen. Der Gedanke daran weckt Appetit. Er greift nach dem Päckchen und lässt die Flamme vor dem Anzünden übermütig aufschießen, atmet dann den Rauch entspannt aus, wobei er amüsiert feststellt, dass auch er die Sucht notfalls ideologisch, vielleicht sogar erotisch oder sonst wie begründen könnte. Außerdem hat er Lust auf Kaffee, verlässt für einen Moment seinen Ausguck. Froh, sich vor einiger Zeit die Küchenecke eingerichtet zu haben, hantiert er mit der Kaffeemaschine. Hellen fand die Anschaffung unnötig. Die Küche sei doch nur eine Treppe und keine zwei Mi-

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