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16 Interview

Hat das Jahr in Berkeley Ihr Bild von der Wissenschaft verändert? Knorr-Cetina: Es ist nicht so, dass ich die Wissenschaft entblößen wollte. Im Gegenteil, ich empfand Neugierde und eine gewisse Bewunderung für das, was im Labor­ alltag passiert. Wissenschaftler waren und sind meinen Erfahrungen nach seriöse Wesen, die täglich mit dem Scheitern konfrontiert sind, weil im Labor auch alles schiefgeht, was schiefgehen kann. Aber von der Gleichsetzung „Wissenschaft ist Denken“ sind Sie abgerückt? Knorr-Cetina: Ja, mir wurde bewusst, dass man Wissenschaft als Handlungssystem beschreiben muss. In der Wissenschaftstheorie hatte man sich vorher fast ausschließlich auf den sogenannten Begründungszusammenhang von Theorien konzentriert – also auf die inhaltliche Rechtfertigung. Meine Arbeit zeigte, dass man aber auch den Entdeckungszusammenhang ernst nehmen muss. Wissenschaft beschreibt nicht nur, sie konstruiert ihre Erkenntnisse. Was bedeutet „konstruieren“? Dass die Wi­s­ sen­­­­­­schaft ihre Erkenntnisse eher erfindet als findet? Knorr-Cetina: Es ist etwas dazwischen. Eine neue Fischart im Pazifik wird natürlich gefunden. Aber viele andere Entdeckungen sind vermittelt: Manche Dinge kann man erst sehen, wenn man zuvor entsprechende

„Ich glaube nicht, dass Wissenschaftler rationaler sind als andere Menschen. Sie sind bloß in bestimmten Aspekten besser trainiert.“ upgrade 2 /2014

Verfahren entwickelt hat. Die Dinge sind ­gewissermaßen in den Verfahren gefangen. „Konstruieren“ heißt im Grunde: hantieren, interpretieren und erfinderisch sein. Denken Sie etwa an das Vokabular der Astrophysik: In Schwarzen Löchern und vielen anderen kosmischen Objekten ist eine Unmenge an Phantasie enthalten. Hier kann man den Erfindungsanteil sehr gut sehen, das bedeutet allerdings nicht, dass diese Konzepte unbrauchbar sind, ganz im Gegenteil. Ich würde niemals behaupten, dass es die Materie und die Welt nicht unabhängig von uns gibt. Aber es kommt eben darauf an, was wir dar­ aus machen. Unser Bild der Welt ist von der Perspektive abhängig – und diese ändert sich historisch. Sehr stark vom technischen Hantieren ab­ hängig war etwa die 2013 mit dem Nobel­ preis ausgezeichnete Entdeckung des Higgs­ Teil­ ­­ chens vor zwei Jahren. Ist das HiggsTeil­chen w ­ eniger real als eine Fischart im Pazifik? Knorr-Cetina: Das Teilchen existiert sehr viel indirekter. An die Größe und Eigenschaften des Fisches sind wir gewöhnt. Das Higgs-Teilchen ist hingegen auf der Ebene des Hantierens nicht so greifbar und plau­ sibel. Seine Entdeckung erforderte komplizierteste Maschinen, Detektoren, die über 20 Jahre erfunden, getestet und kalibriert werden mussten. Die Effekte beim Nachweis sind allesamt künstlich erzeugt, und sie sind auch nicht stabil. Viele subatomare Teilchen zerfallen wieder – das hat nicht den Charakter eines Fisches! Im Übrigen möchte ich ­betonen, dass die Physiker selbst in diesem Zusammenhang von „rekonstruieren“ sprechen. Sie müssen wie Historiker nachvoll­ ziehen, was mit den zerfallenen Teilchen passiert ist. Diese Art von Realität hat etwas Bizarres, sie hat nichts mit unserem Alltag zu tun. Sie haben den Begriff „Laboropportunismus“ geprägt. Was ist darunter zu verstehen? Knorr-Cetina: Den Laboralltag kann man sich so vorstellen: Man macht einen Versuch, und er funktioniert nicht. Dann macht man einen anderen Versuch, und er funktioniert auch nicht. Und irgendwann kommt man auf Dinge, die funktionieren, die aber mit dem, was man ursprünglich wollte, nichts zu


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