Uni:Press # 670 (Okt. 2012)

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KULTUR

REZENSIONEN

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Carolina Schutti: Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein

Über das Hoffen, von der Muttersprache zu träumen BUCH

„Ich habe gehofft, in Träumen meiner Muttersprache zu begegnen, doch selbst wenn, könnte ich doch nichts davon über das Aufwachen hinaus in den Tag retten.“ In leisen Tönen beschreibt der Roman das Gefühl von Sprachlosigkeit und den Verlust der eigenen Kindheit. Rezension von Kathrin Prünstinger Maya wurde aus ihrer Heimat Weißrussland herausgerissen. Die Mutter tot, der Vater lebt woanders. Das kleine Mädchen muss zur Tante, die sie nicht versteht, mit der sie nicht sprechen kann. Der polnische Arbeiter Marek gibt ihr ein bisschen Heimatgefühl zurück. Obwohl sie auch seine Sprache nicht versteht, wird sie durch ihn an ihre eigene erinnert. Denn das ist, was Maya fehlt: Sprache und Erinnerung. Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein heißt der zweite Roman von Carolina Schutti. Der Titel ist eine Erinnerung, die Maya nicht wirklich fassen kann. Eine Erinnerung, die in einem Foto eingeschlossen ist, das die kleine Maya mit ihrer Mutter in einem Park zeigt. Maya wächst auf mit einer Sehnsucht nach der Kindheit, die sie verloren hat, in einem Dorf, in dem sie niemanden versteht. Sie verliebt sich in Erich, über den im Dorf getuschelt und getratscht wird. Sie fliehen gemein-

sam in die laute Stadt, doch auch dort können sie nicht glücklich werden. Erichs Verschwiegenheit und Geheimnisse schmerzen Maya. Er lässt sie ihre Sprachlosigkeit nicht vergessen. Und da ist noch Bert, der mit Maya spricht und sie versteht. Mehr ist nicht nötig. Die erzählten Episoden über Mayas Leben verschwimmen ineinander und verweben sich mit den Geschichten der anderen. Trotzdem verlieren die LeserInnen Maya nicht aus den Augen. Die Erzählung beschränkt sich auf relevante Ereignisse in ihrem Leben. Sie beschreibt die Gefühle, die Maya dort hinführen, wo sie am Ende ist, auf der Suche nach ihren Wurzeln. Und das mit einer klaren und einfachen Sprache, die die österreichische Autorin auszeichnet. Der Text fließt, ohne auszuschmücken. Die Kapitel sind kurz, aber eindrücklich. Jedes Wort scheint an seinem Platz zu sein. Carolina Schutti ist mit ihrem Roman eine berührende Geschichte über eine junge Frau gelungen, die ihre eigenen Wurzeln mit der Sprache verloren hat – „Das Gefühl einer Sprache ist die einzige Wurzel, die mir geblieben ist“, meint diese. Mayas Gefühle beschreibt Schutti nachvollziehbar. Einfach so, wie sie sind. Einfach so, wie Maya sie fühlt.

★★★★★

Zeruya Shalev: Für den Rest des Lebens

Porträt der Generationen

Markus Hittmeir: Bessarius und Molle

Zeruya Shalev schreibt in ihrem neuen Roman von der Verzweiflung einer Frau in mittleren Jahren: Dina ist 46 und will ein Kind; für diesen Wunsch ist sie bereit, fast alles zu geben. Die Tochter ist aus dem Haus, der Ehemann zeigt kein Verständnis für den plötzlichen Kinderwunsch.

Ein Briefwechsel zwischen zwei Freunden, der sich mit den verschiedensten Themen zwischenmenschlicher Kommunikation, hauptsächlich jedoch mit psychischen Qualen befasst, das ist Bessarius und Molle.

Seelenqualen in Briefform

Rezension von Christof Fellner BUCH

Rezension von Alexandra Metz

Bessarius und Molle, im Jänner im Arovell-Verlag erschienen, stammt von Markus Hittmeir, der seit 2011 erst in Wien, dann in Salzburg Mathematik und Philosophie studiert. Das Buch liefert in Form eines Briefromans die Leidensgeschichte zweier junger Menschen. Während die beiden anfangs noch über die Todesstrafe philosophieren, werden die Themen immer mehr von Verzweiflung und Suizid geprägt. Da ist Molle, der seine Großmutter bis zu ihrem Tode pflegt und dabei selbst seelenkrank ist; dort Bessarius, der sich um Molle sorgt und doch genug mit sich selbst zu tun hat. Das Ende dieses Geflechts schließlich passt perfekt. Zu empfehlen ist das Buch für jene, die sich gerne mit menschlichen Abgründen beschäftigen, ansonsten sollte leichtere Lektüre bevorzugt werden.

BUCH

Die 53-jährige Israelin Zeruya Shalev hat ihren vierten Roman vorlegt: Er erzählt vom Wunsch einer Frau in mittleren Jahren, ein Kind zu adoptieren. Ihre Mutter Chemda Horovitz liegt im Sterben, von dieser fühlte sich Dina zu wenig geliebt. Auch ihre 16-jährige Tochter Nizan, der sie all ihre Liebe und Aufmerksamkeit schenkt, entfernt sich immer mehr von ihr. Aus Sehnsucht nach Liebe will Dina ein Kind adoptieren. Doch sie stößt auf den Widerstand ihrer Familie, die kein Verständnis für ihre Idee aufbringen kann. Dinas Bruder Avner ist Anwalt für Menschenrechte und begibt sich ebenfalls im politisch instabilen Israel auf die Suche nach Liebe. Auch Avner macht die Mutter für sein kaputtes Leben verantwortlich, die wiederum mit ihrer eigenen Mutter, der Gründerin eines polnischen Kibbuz-Vorbereitungscamps, abrechnet. Shalev lässt in ihrem Familiendrama vier Generationen zu Wort kommen und webt eine Art Porträt einer ganzen Gesellschaft. Als Sprachvirtuosin erzählt sie in ihrem jüngsten Roman erneut von den Verstrickungen der Liebe und des eigenen Selbst, eingebettet in die Geschichte Israels. Es fällt schwer, sich dem Sog der Geschichte zu entziehen: Klare Empfehlung.

★★★★★

© Marco Riebler

Schauspielhaus Salzburg: Kunst

Genussvolle Streit(un)kultur In Yasmina Rezas Kunst werden erbitterte Machtkämpfe ausgefochten, die sich am Stellenwert moderner Kunst entzünden. Christoph Batscheider hat den zeitgenössischen Unterhaltungsklassiker im Schauspielhaus inszeniert. Rezension von Sandra Bernhofer THEATER

Drei Freunde aus dem Pariser Akademikermilieu. Sie sind alle etwas älter geworden, etwas behäbiger, haben unterschiedliche Interessen entwickelt. Serge (Marcus Marotte), der schon immer ein Kunstfex war, hat sich ein Bild zugelegt, ein weißes mit weißen Streifen, auch etwas Rot, das zugegebenermaßen sehr blass ist, lässt sich mit gutem Willen erkennen. Erstanden für einen unverschämten Preis. Das übersteigt den Spießbürgerhorizont seines besten Freundes Marc (Olaf Salzer). „Weiße Scheiße“ nennt er es unverblümt.

Serge reagiert dünnhäutig, zum Vermittler wird der Dritte im Bunde, Yvan (Antony Connor). „Solange es keinem schadet“, meint er pragmatisch. „Es schadet mir, es macht mich nervös. Es verletzt mich sogar“, greint Marc zurück. In der Begegnung mit dem Bild treten tief sitzende Charakterzüge zutage, sie lässt Probleme aufbrechen, die schon lange im Verborgenen schlummerten. Eineinhalb Stunden lang schenkt man sich nichts: Marc kreidet seinen Freunden jeden noch so kleinen Makel an, aus Angst, dass er sie nicht länger als seine Marionetten tanzen lassen kann. Serge wiederum wirft ihm Humorlosigkeit und die Ehe mit einer Frau vor, „deren ganze Reizlosigkeit darin liegt, wie sie den Zigarettenrauch verscheucht“, bevor es Yvan an den Kragen geht: Ein Waschlappen mit Pfaffenmanieren sei er. Er kann einem leidtun, wie er da als

★★★★★ Rammbock zwischen seinen beiden vom Ego getriebenen Freunden steht, ohnehin schon durch die Vorbereitungen zu seiner Hochzeit zermürbt, als der ewige Friedensstifter, der seinen Freunden zu lange mit Clownerien die Zeit vertrieben hat und dessen Sorgen bei ihnen nun auf taube Ohren stoßen. Auf einem leicht schwankenden, schrägen Bühnenboden, der mit deutlich mehr Graustufen aufwarten kann als das Bild an der Wand und die festgefahrenen Weltbilder der Protagonisten, inszeniert Christoph Batscheider seine Version von Yasmina Rezas 1994 uraufgeführtem Stück – und lässt ihn zum Sinnbild für das nur scheinbar tragfähige Fundament einer langjährigen Männerfreundschaft werden. Reza ist nicht umsonst die weltweit meistgespielte Gegenwartsdramatikerin: Kunst ist ein eloquenter Schlagabtausch mit gehörigem Tempo, aus dem man das eine oder andere Pejorativum für den persönlichen Gebrauch mitnehmen kann.

★★★★★


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