Unionsverlag Vorschau Herbst 2020

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zuvor für herkömmliche Dienstleistungen wie Schneiden, Färben oder Föhnen ausgegeben hatte, gab es Rabatt. Eine langjährige Kundin fragte Carla eines Tages, ob die vielen »Frauengeschichten« ihres Mannes sie nicht eifersüchtig machten. »Hier geht es um Locken, nicht um Geschichten«, erwiderte Carla und vergaß dabei fast, dass diese Lockengeschichten von Anfang an reine Lügengeschichten waren. Als eine Kundin sich einen Termin geben ließ, nur damit Rubén ihr eine Locke abschnitt und diese in die Sammlung aufnahm, nahm die Sache Fahrt auf. Warum nicht?, sagten sich die beiden. Eine Zusatzeinnahme konnte nicht schaden. Jetzt zogen sie das Ganze neu auf: Rubén schloss sich mit der Kundin im Lagerraum ein, entzündete eine Räucherkerze, legte Musik auf und schnitt ihr mit einer extra sanft schneidenden Schere eine Locke ab. Die Kundin schrieb eine Widmung auf den Karton, daneben befestigten sie die Locke, und die Frau ging glücklich von dannen. Dieses Ritual fand so viel Zuspruch, dass Frauen von weit her kamen, um in den Genuss dieser, ab sofort »Initiation« genannten, Dienstleistung zu gelangen. Rubén arbeitete immer mehr. Carla oblag es, die Sammlung in makellosem Zustand zu halten, was gar nicht so einfach war, weil manche Locken beim Abstauben zerfielen. Aber sie beklagte sich nicht. Auch an dem Tag, als sie einen Schlüpfer in der Sammlung entdeckte, sagte sie nichts. Doch bald darauf fand sie einen zweiten Schlüpfer. Jetzt fiel ihr auch auf, dass die anderen Kundinnen Kommentare machten, wenn Rubén sich wieder einmal mit einer von ihnen im Lager einschloss. Schließlich sprach sie ihn darauf an, und er gab es zu – die Initiationszeremonie war eine dermaßen sinnliche und intime Angelegenheit, dass es regel-

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mäßig vorkam, dass er sich in eine Kundin verliebte und den unwiderstehlichen Drang verspürte, augenblicklich mit ihr zu schlafen. Carla wurde wütend. Und eifersüchtig. Statt zu schreien oder eine Szene zu machen, sagte sie bloß: »Das will ich auch, nimm mich mit ins Lager und schneide mir die Haare.« Rubén sagte: Nein, mit ihr funktioniere das nicht, sie wüssten ja beide, dass das alles pure Erfindung sei. Carla bat und bettelte und fing schließlich doch an zu schreien und zu weinen. Aber Rubén ließ sich nicht erweichen. Ja, er sagte sogar, vielleicht sollten sie beide sich eine Auszeit nehmen, und schlug vor, er könne ihr ja den Teil des Salons mit der Sammlung abkaufen. »Die Sammlung gehört mir«, erwiderte sie. Er lachte. »Ich gehe besser ein bisschen an die frische Luft, sonst …« »Sonst was?«, fragte Carla, aber Rubén war schon verschwunden. Sie lief ins Lager, riss wütend die Locken von der Wand, warf sie im Frisiersalon auf einen Haufen und zündete sie an. Dann ging sie in ihre gemeinsame Wohnung hinüber. Als Rubén zurückkehrte, bemerkte er schon an der Tür einen seltsamen Geruch. Er befürchtete das Schlimmste, und fand sich bestätigt: Von der Sammlung war nur mehr eine Handvoll versengter Haare übrig. Und ohne Sammlung war er das reine Nichts. Er ging zu seiner Schublade und suchte nach der extrascharfen Schere. Er konnte sie nicht finden, also nahm er die zweitschärfste und näherte sich damit der Tür zu ihren Wohnräumen. Dahinter erwartete ihn bereits Carla, in der Hand die ­extra sanft schneidende Schere.


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