Standpunkte
Was ist Geschlecht? Heute ist gesellschaftlich akzeptiert, dass es mehr Facetten gibt als männlich oder weiblich. Wie definiert sich, welchem Geschlecht ein Individuum angehört? Antworten aus der Evolutionsbiologie und der Geschlechterforschung.
I
n der Biologie wird das Geschlecht eines Individuums über auch später noch Unterschlupf in der eigenen Mundhöhle. Je dessen Funktion bei der sexuellen Fortpflanzung definiert – nach Art wird dieses Verhalten des «Maulbrütens» nur von den insbesondere über die in der Keimbahn gebildeten Keimzel- Weibchen, von beiden Elternteilen oder nur von den Männchen len (Gameten): Weibchen produzieren vergleichsweise wenige, praktiziert. Bei vielen Seepferdchen wiederum nehmen die Männchen die befruchteten Eier in einen dafür grosse, nährstoff reiche Keimzellen bauchseitigen Brutbeutel auf, um diese (Eizellen), während Männchen viele kleine, zu bebrüten. meist sehr mobile Keimzellen (Spermien) Schliesslich zeigt uns die Natur, dass hervorbringen. Die geschlechtliche Fortauch die Faktoren, welche die Bildung der pflanzung funktioniert dann über das Gonaden (und somit des Geschlechts) in Verschmelzen der Ei- und Spermienzelle. einem Individuum bestimmen, sehr unIn den allermeisten Tieren, so auch terschiedlich und vielfältig sein können: beim Menschen, werden die Gameten in Bei Säugetieren sind es bekanntlich die speziellen Keimdrüsen, den Gonaden, gebeiden Geschlechtschromosomen X und Y, bildet – den Ovarien bei den Weibchen die in der Konstellation XX zu Weibchen und den Hoden bei den Männchen. Zuund als XY zu Männchen führen. Auch bei dem zeigen viele Arten Unterschiede zwiVögeln gibt es spezifische Geschlechtsschen den beiden Geschlechtern, die weit chromosomen (W, Z), wobei die Weibchen über das Vorhandensein von entweder durch WZ definiert werden und die MännOvarien oder Hoden hinausgehen, etwa chen durch ZZ. In Reptilien entscheidet im Körperbau, in Farbmustern oder im Walter Salzburger vielfach die Umgebungstemperatur, der Verhalten. ist Professor für Zoologie und Evolutionsein Ei ausgesetzt ist, ob ein Individuum In anderen Arten lassen sich die Gebiologie an der Universität Basel. später zu einem Weibchen oder zu einem schlechter weniger klar voneinander unterEr erforscht die Evolution von Tieren, Männchen wird. Und bei Fischen findet scheiden und oftmals ist eine Abgrenzung ihre Anpassung an die Umgebung und die Entstehung ihrer Vielfalt. man, je nach Art, so ziemlich alles – von gar nicht möglich. So sind ein Grossteil Sein besonderes Interesse gilt dabei den einzelnen geschlechtsbestimmenden Gealler Schneckenarten, viele Würmer und Buntbarschen, die er im Tanganjikanen bis hin zu Chromosomenabschnitten, die meisten Pflanzen «zwittrig», das heisst, See in Afrika erforscht. von Umgebungstemperatur bis hin zum ein einzelnes Individuum produziert beide Sozialverhalten in der Gruppe. Typen von Gameten. Passiert deren Bildung «simultan», ist ein Individuum gleichzeitig Weibchen und Männ- Die Frage, warum die geschlechtliche Fortpflanzung entstand, chen und es kann sogar zur Selbstbefruchtung kommen. Bei ist noch nicht restlos geklärt. Eine entscheidende Rolle wird der anderen Arten kommt es zum Geschlechterwechsel. Clownfische daraus resultierenden Durchmischung des mütterlichen und zum Beispiel fangen ihr Leben allesamt als Männchen an, zum des väterlichen Erbmaterials zugesprochen. Dass sich so viele Weibchen wird später nur, wer lange genug lebt und eine domi- Abstammungslinien ausschliesslich oder überwiegend sexuell fortpflanzen und dies trotz des damit einhergehenden Aufwannante Position in einer Seeanemone besetzt. Im Tierreich sagt das Geschlecht eines Individuums im des, zeugt jedenfalls von einem evolutionären Erfolgsmodell. Übrigen wenig über dessen Rolle bei der Aufzucht des Nachwuchses aus. Beispielsweise brüten viele Buntbarsche die befruchteten Eier in ihren Mäulern aus und bieten ihrem Nachwuchs
36
UNI NOVA
139 / 2022