UNI NOVA 139 (2022/01): Angst.

Page 32

Dossier

« Der Tod kommt immer zu früh. » Die Furcht vor dem Sterben kennen viele, aber was, wenn die Angst vor dem Leben noch grösser ist? Ein Gespräch mit dem Ethiker und Theologen Georg Pfleiderer über Sterben in der Moderne, Scham und was Jesus am Kreuz damit zu tun hat. Text: Cornelia Niggli

Warum fürchtet der Mensch den Tod? «Es gehört zum Menschsein dazu, dass wir den Tod antizipieren können», sagt Prof. Georg Pfleiderer. Der Mensch besitzt im Gegensatz zu anderen Lebewesen das Bewusstsein, dass sein Leben endlich ist. Die damit verbundenen Ängste sind komplex. Einerseits existiert die Angst vor einem leidvollen Sterben. Andererseits gibt es die Angst vor dem definitiven Ende, vor dem Nicht-mehr-Leben, dem Nichts. «Diese Angst ist eng verknüpft mit der Bedeutung, die wir Gütern

« Wir haben wahnsinnige Angst, unser Gesicht zu verlieren. Das war vielleicht noch nie so extrem wie in Zeiten des Internets.» Georg Pfleiderer

32

in unserem Leben beimessen. Darunter fallen nicht nur materielle Dinge, sondern beispielsweise auch Ideale, nach denen wir leben, und soziale Aspekte wie zwischenmenschliche Beziehungen oder der Zugang zu Bildung. Der Verlust von solchen Gütern weckt meist Ängste», ergänzt der Ethiker. Diese Angst vor dem Tod sei ein allgemeinmenschliches Phänomen, das sich aber in der Moderne besonders akzentuiert, weiss Pfleiderer und stützt sich dabei auf Reflexionen des deutschen Soziologen Max Weber (1864 –1920): «So wie wir heute leben, gibt es in unserer westlichen Welt kaum noch Güter, die von grösserer Bedeutung sind als das eigene Leben und Erleben. Die Welt verändert sich ständig. Wir haben dadurch die Möglichkeit, immer wieder Neues zu erleben. So gesehen, kommt der Tod immer zu früh.» Fomo (fear of missing out), die Angst, etwas zu verpassen, treibt den modernen und erst recht den postmodernen Menschen an und um. Die Lebenssättigung, also ein Gefühl der abschliessenden Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, wie man sie aus antiken und biblischen Erzählungen kennt, so war Weber überzeugt, tritt nicht mehr ein. Ist der Tod in der modernen Welt zum Tabuthema geworden? «Der Tod wird nicht totgeschwiegen», reagiert Pfleiderer auf die Frage. «Wir reden heute vermutlich

UNI NOVA

139 / 2022


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.