Dossier
Komplexität eines Gefühls. Eine Psychiaterin und ein Neurowissenschaftler nähern sich dem Phänomen Angst auf unterschiedliche Weise. Ziel von beiden sind neue Therapien und ein besseres Verständnis der zugrunde liegenden Mechanismen.
Text: Fabienne Hübener
U
ndine Lang tritt ans Podium. Der Raum ist voll besetzt, alle Blicke sind auf sie gerichtet. Dieser Situation hat sich die Professorin für das Fach Psychiatrie schon Dutzende, wenn nicht Hunderte Male gestellt. Trotzdem wird vor dem Vortrag ihr Puls schneller, die Hände zittern. In solchen Situationen ruft sie sich bewusst die Methoden in Erinnerung, mit denen sich die Vortragsangst zügeln lässt. «Dann konzentriere ich mich zum Beispiel auf nur zwei, drei Menschen im Publikum und richte meinen Vortrag vor allem an diese», erklärt die Leiterin der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) in Basel. «Dann lässt das Gefühl schnell nach.» Doch nicht jeder kann Ängste so gut regulieren. Angst gehört zu den ersten Emotionen, die Babys nach ihrer Geburt entwickeln. Kein gutes Gefühl, aber
«Wir kennen gewisse Schaltkreise im Gehirn. Aber die bisherigen Entdeckungen sind letztlich nur stark vereinfachte Beschreibungen.» Andreas Lüthi
14
UNI NOVA
139 / 2022
ein wichtiges, schützt es doch vor möglichen Gefahren. Mit der Zeit lernen Kinder zu unterscheiden, was tatsächlich gefährlich ist und wovor sie keine Angst haben müssen. Dauert die Angst vor harmlosen Situationen oder Objekten bis ins Erwachsenenalter an und schränkt sie den Alltag stark ein, spricht man von einer Angststörung. Dazu zählen zum Beispiel die generalisierte Angststörung, bei der sich Betroffene ständig grundlos Sorgen machen, Phobien (siehe S. 20) sowie die Panikstörung. Wer darunter leidet, muss zu jeder Zeit damit rechnen, von überwältigenden Ängsten heimgesucht zu werden. Ein komplexer innerer Zustand Herzrasen, Muskelzittern, Übelkeit, all das sind die spürbaren Folgen, wenn das Gehirn das Gefühl Angst produziert. Der Neurowissenschaftler Karl Deisseroth von der Stanford-Universität beschreibt Angst in seinem Buch «Projektionen» als komplexen inneren Zustand, der sich als Verbindungen von Nervenzellbündeln im Gehirn dekonstruieren lässt. Die Entschlüsselung der neuronalen Grundlagen ist aus seiner Sicht in Griffweite. Andreas Lüthi vom Friedrich Miescher Institut in Basel ist anderer Meinung. Mit seinem Team versucht er anhand von Experimenten mit Mäusen, den Mechanismen normaler und krankhafter Angst im Hirn auf die Spur zu kommen. «Wir stehen erst am Anfang», sagt der Neurowissenschaftler. «Wir kennen gewisse Schaltkreise im Gehirn und wissen, dass etwa die Amygdala eine