connecting leaders dialoge
Inhalt
Vo r w o r t 4 Dialoge
Bertrand Piccard
Ulrich Spiesshofer 8
Jan du Plessis
François Pienaar 34
Max Hollein
I n g e b o r g N e u m a n n 58
Kumi Naidoo
Hans Wijers 80
Wy n t o n M a r s a l i s
I n d r a K . N o o y i 100
S i r D a v i d C h i p p e r f i e l d
Mathias Döpfner 124
Paul E. Jacobs
L a n g L a n g 148
Ólafur Elíasson
A l e x a n d e r L j u n g 170
S u g a t a M i t r a
Jasmine Whitbread 194
Heiner Geißler
F r i e d r i c h v o n M e t z l e r 214
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Vo r w o r t
Als François Pienaar, der Kapitän des südafrikanischen Rugbyteams, 1995 nach dem Finalsieg den World Cup in die Höhe stemmte, hatte ein anderer Mann noch viel mehr gewonnen: Nelson Mandela. Gegen alle Widerstände hatte der Präsident die Südafrikaner zu Rugbyfans erzogen und den ehemals weißen Sport in der schwarzen Bevölkerung verankert. Der Pokal von Johannesburg wurde so zum Triumph der Demokratie – und der Präsident zum Idol eines Volkes, das erstmals als Einheit auftrat. „Connecting leaders“ hätte man Mandela und Pienaar damals nennen dürfen: Lenker, die über traditionelle Gegensätze hinwegschauten, um einer visionären Idee zu folgen. Männer, die ihre Teams hinter sich brachten und zusammen etwas Großes, unerhört Neues schufen. Connecting Leaders, so heißt auch dieses Buch, mit dem wir auf unser 50-jähriges Bestehen zurückblicken. Die Verbindungen, die wir zwischen Führungspersönlichkeiten knüpfen, sind unser Potenzial und unsere Verpflichtung. Deshalb haben wir zehn bedeutende Unternehmenslenker zum Gespräch mit zehn herausragenden Vertretern aus Sport, Kultur, Wissenschaft und Politik gebeten. Es geht um Wagnis und Verantwortung, Teams und Einzelkämpfer, heilsame Verunsicherung und die Herausforde rungen der globalisierten Wirtschaft. Manchmal argumentiert der Unternehmensführer im Gespräch wie ein Kreativkünstler – und der Musiker wie ein Firmenchef. Genau darauf haben wir gehofft. Denn die Welten, in denen sich diese so unterschiedlichen Entscheider bewegen, sind auf zahllose Weisen miteinander verknüpft. „Connecting leaders“ bedeutet „connecting ideas“.
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„Wir können von Künstlern viel lernen“, sagt Technologieunternehmer Paul E. Jacobs zu seinem Gesprächspartner, dem weltberühmten Pianisten Lang Lang. Und der ist ein herausragendes Beispiel dafür, dass es bei weitem nicht ausreicht, der Beste sein zu wollen. Offenheit und ein Bewusstsein für kulturelle Unterschiede nennt Hans Wijers, ehemaliger CEO von AkzoNobel und Aufsichtsrat, als Grundvoraussetzung für verantwortliches Handeln, sei es im internationalen Unternehmen oder in der Gesellschaft. Wie viel Zeit uns dafür noch bleibt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Greenpeace-Chef Kumi Naidoo bekennt im Gespräch mit Wijers, ohne die Mitwirkung großer Unternehmen sei das Engagement für die Umwelt nutzlos, denn: „Die Natur lässt nicht mit sich feilschen.“ Man kann sein Glück auch darauf gründen, mit der Natur im Bunde zu sein. Schon in seiner Kindheit begriff der Schweizer Forscher, Abenteurer und Psychotherapeut Bertrand Piccard, der zusammen mit Brian Jones als bisher einziger Mensch die Erde nonstop im Heißluftballon umrundete, wie viel interessanter das Leben ist, wenn man es ohne Dogmen und Gewissheiten betrachtet. Piccard entstammt einer berühmten Erfinderfamilie und berichtet von den Vorbereitungen zum ersten Start von Solar Impulse, einem Flugzeug, das allein mit der Energie von Solarzellen die Erde umfliegen soll. Unsicherheit, sagt ABB-Chef Ulrich Spiesshofer im Gespräch mit Piccard, ist ein wichtiger Teil unternehmerischen Denkens. Nur Druck von außen bringt mutige Vorstöße und ungewöhnliche Allianzen hervor. Selbst die Möglichkeit des Scheiterns gehört zum Alltag des Unternehmensführers.
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Unser Buch Connecting Leaders beweist, dass heute kaum noch etwas im Reinzustand zu haben ist: Nicht nur die Geschäftswelt, das internationale Bewusstsein selbst ist zum Schnittpunkt vielfältiger Diskurse geworden. Indra K. Nooyi, CEO von PepsiCo, spricht von den zwei Wettbewerbskulturen, die sie verinnerlichen musste, um als Inderin in der angelsächsischen Welt Erfolg zu haben – und dass ein wenig Paranoia für sie bis heute zur emotionalen Grundausstattung gehört, um wachsam und reaktionsschnell zu bleiben. Für ihren Gesprächspartner Wynton Marsalis, eine Legende des Jazz und vielfacher Grammy-Gewinner, hört das Lernen niemals auf. Deshalb suchen erfolgreiche Unternehmenslenker sich ihre Vorbilder, wo sie sie finden können. Alexander Ljung, Gründer und CEO der Musikplattform SoundCloud, die inzwischen 200 Millionen registrierte Benutzer zählt, steht für eine neue Generation von Entrepreneuren, die etablierte Player mit der Macht einer Idee herausfordert und damit ganze Branchen revolutioniert. Auch für Ljungs Gesprächspartner, den weltweit gefragten Installationskünstler Ólafur Elíasson, überwinden geteilte Werte die starren Gruppenzugehörigkeiten von einst und bauen an der offenen Gesellschaft von morgen. Angesichts der Verunsicherungen durch die weltweite Finanzkrise ist die Moral unseres Tuns wieder ins Zentrum gerückt. Hier wirbt der ehemalige CDU-Generalsekretär Heiner Geißler eloquent für einen neuen Pakt: eine sozialökologische Marktwirtschaft. Sein Gesprächspartner, der Bankier Friedrich von Metzler, erinnert an ein Fundament mittelständischer Unternehmensphilosophie, wenn er sagt: „Langfristig kann ein Unternehmer nur erfolgreich sein, wenn er ethisch handelt.“
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Die Suche nach Inspiration und unkonventionellem Rat, so könnte man meinen, sei eine durch und durch moderne Erscheinung. Doch insgeheim knüpft der „Connecting leader“ an das Urbild aller Weisheit an. Statt andere zu belehren, wollte Sokrates von denen lernen, die weniger wussten als er. In gewissem Sinn glich er dem Unternehmer, der inkognito durch seine Firma geht, um mit eigenen Augen die wahren Verhältnisse zu erforschen – und der wegweisende Antworten erhält, weil er die Klugheit hat, wegweisende Fragen zu stellen. Etwa diese: „Ist ein Topmanager in der Lage, ein nettes Gespräch mit meiner Assistentin zu führen?“ Wenn ja, mag es daran liegen, dass zu den wichtigsten Qualifikationen von Unternehmenslenkern auch menschliches Gespür zählt. Jan du Plessis, der Chairman von Rio Tinto, erzählt diese Anekdote im Gespräch mit seinem südafrikanischen Landsmann François Pienaar. Dieser berichtet ihm von einer persönlichen Begebenheit. Nelson Mandela wurde, Jahre nach dem World Cup, zum Taufpaten von Pienaars Sohn. Er gab ihm den Namen Mkhokeli. Das Wort kommt aus der Bantusprache Xhosa und bedeutet „Anführer“. Es gibt kein schöneres Bild für eine Idee, die wir „Connecting leaders“ nennen. Dr. Michael Ensser Herausgeber Connecting Leaders
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dialoge
connecting leaders
bertrand
Ulrich
piccard
Sp i e s s h o f e r
Entdecker
CEO
U l r i c h S p i e s s h o f e r (links) CEO des Technologiekonzerns ABB B e r t r a n d P i c c a r d (rechts) Wissenschaftler, Forscher und Initiator von Solar Impulse
Ulrich Spiesshofer, CEO des Techno logiekonzerns ABB, und Bertrand Piccard, Wissenschaftler, Forscher und Initiator von Solar Impulse, über Pioniergeist und Motivation in ungewissen Zeiten.
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Grenzen zu verschieben, das scheinbar Unmögliche wahr werden zu lassen, gepaart mit dem uralten Menschheitstraum vom Fliegen – beim Besuch im Flugzeughangar von Bertrand Piccard konnte ABB-Chef Ulrich Spiesshofer mit eigenen Augen sehen, wie eine visionäre Idee Wirklichkeit wird. Dort arbeitet ein Team handverlesener Spezialisten an der „Solar Impulse“, dem ersten nur von Sonnenenergie getriebenen Flugzeug, das sowohl bei Tag als auch bei Nacht fliegen kann. Piccard, aus einer Dynastie von berühmten Entdeckern und Erfindern stammend, will damit nonstop die Erde umfliegen. Nur sein Partner André Borschberg wird sich mit ihm im Einmann-Cockpit abwechseln. In ihrer Diskussion über Pioniergeist und den Umgang mit Ungewissheit entdeckten der CEO des internationalen Technologiekonzerns und der Initiator eines faszinierenden Technologieprojekts erstaunlich viele Gemeinsamkeiten, nicht zuletzt aufgrund ihrer gemeinsamen Begeisterung für erneuerbare Energien, insbesondere für Solarenergie. Am Ende des offiziellen Gesprächs beschlossen beide, ihre Unterhaltung demnächst fort zusetzen – vorzugsweise, wie Piccard erklärte, „zwischen zwei und fünf Uhr morgens an jedem Tag dieser Woche“ – der Zeit, in der sich der Pionier während eines 72-stündigen Ausdauertrainings allein in seinem Flugsimulator befindet.
Bertrand, du bist in einem außergewöhnlichen Umfeld aufgewachsen. Großvater und Vater berühmte Erfinder und Pioniere, denen nichts zu hoch oder zu tief war. Welchen Einfluss hat dieses Umfeld auf dich gehabt? Wie muss man sich die Tischgespräche im Hause Piccard vorstellen? B e r t r a n d P i c c a r d : Meine ganze Kindheit hindurch hörte ich die Geschichten meines Vaters, meines Großvaters und all der Bekannten unserer Familie, die uns besuchten. Dazu gehörten Wernher von Braun, der mehrmals bei uns zu Gast war, Astronauten des amerikanischen Raumfahrtprogramms, Bergsteiger, Forscher, Umweltschützer und Filmemacher. Für mich war das Außergewöhnliche die Normalität. Ich erlebte während meiner gesamten Kindheit, wie interessant das Leben sein kann, wenn man sich von Gewissheiten, Dogmen und Paradigmen nicht beeinflussen lässt. Außergewöhnliche Persönlichkeiten waren für mich das Maß der Dinge, und wenn ich Menschen begegnete, die diesem Bild nicht entsprachen, erstaunte mich das als Kind immer sehr. Letztere schienen mir die Ausnahme von der Regel zu sein. Als ich später begriff, dass leider die meisten Menschen Angst vor dem Unbekannten, vor Veränderung und vor Ungewissheit haben, war das ein Schock für mich! Aber mit Unsicherheiten musst du als Chef eines Weltkonzerns wie ABB doch sicher auch täglich umgehen. Einen erfolgreichen CEO, der in der heutigen Welt Angst vor dem Ungewissen hat, kann ich mir nur schwer vorstellen. Ulrich Spiesshofer:
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Bertrand Piccard
Ulrich Spiesshofer
Da hast du natürlich Recht – aber ich denke, das war schon immer so. Auch wer in der Vergangenheit ein großes Unternehmen führte und die Verantwortung für Tausende von Menschen und deren Familien trug, musste in der Lage sein, mit Ungewissheit zu leben. Allerdings hat sich die Qualität der Ungewissheit verändert. Heute gibt es praktisch keinen Sektor, in dem irgendetwas auf Dauer sicher ist, von Materialien und Technologien bis zur Stabilität der Weltwirtschaft und der Finanzsysteme. Jede gute Führungspersönlichkeit muss Unsicherheit als Teil ihres Alltags akzeptieren. Wir sollten uns davor nicht fürchten, sondern vielmehr die Verantwortung übernehmen, erfolgreich durch ein von Komplexität und Ungewissheit geprägtes Umfeld zu navigieren. P i c c a r d : Es mag ja schon für viele Menschen individuell nicht leicht sein, mit Unsicherheiten umzugehen, aber in einem großen Unternehmen eine Kultur zu schaffen, die damit proaktiv umgeht, ist sicher noch einmal eine besondere Herausforderung. S p i e s s h o f e r : Deshalb ist es ja auch so wichtig, dass zumindest Führungsverant wortliche keine Angst davor haben. Wenn man sich über seinen Kurs im Klaren ist und weiß, wohin man künftig will, dann verschwindet die Nervosität recht schnell. Zudem kommt es darauf an, seine langfristigen Ziele im Auge zu behalten – unabhängig davon, in welche Turbulenzen man unterwegs gerät. Viele Menschen reagieren doch auf Unsicherheiten eher emotional statt rational. Nehmen wir zum Beispiel Griechenland: Als die griechische Wirtschaft kurz vor dem Zusammenbruch stand, geriet die ganze Welt in Panik. Dabei ist Griechenland, verglichen mit der gesamten Weltwirtschaft, winzig! Es war eine reflex artige, emotionale Reaktion. Bertrand, wenn du oben am Himmel in Turbulenzen oder in ein starkes Gewitter gerätst, wirst du deinen Flug vermutlich nicht einfach abbrechen, sondern die Instrumente in deinem Flugzeug entsprechend justieren. P i c c a r d : Ganz genau. Aber gerade in der Wirtschaft erleben wir doch immer wieder Manager, die sich gegen Veränderungen sperren, die zum Beispiel den Einfluss neuer Technologien so lange ignorieren, bis es zu spät ist und ihre Unternehmen am Ende untergehen oder in der Bedeutungslosigkeit versinken. Sie sind einfach davon ausgegangen, dass ein einmal entwickeltes Erfolgsmodell für immer funktioniert – und haben darüber vernachlässigt, Ungewissheit zur Richtschnur ihres Führungsstils zu machen. S p i e s s h o f e r : Das haben wir bei ABB ja selbst schmerzhaft erfahren. 2002 machte der Konzern seine eigene „Nahtoderfahrung“. Und es gab da jenen Tag, an dem das Unternehmen nur wenige Stunden von der Insolvenz entfernt war. Zuvor Spiesshofer:
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Bertrand Piccard
Ulrich Spiesshofer
waren Grundregeln der Unternehmensführung vernachlässigt worden, die zu einer gravierenden Fehleinschätzung der Situation geführt hatten: Das Radar wurde nicht ordnungsgemäß überwacht, genau genommen war das Instrument an sich schon nicht gut genug. Man hatte Entscheidungen getroffen, ohne sich ausreichend mit deren Konsequenzen zu befassen. Man war Risiken eingegangen, unverhältnismäßig hohe Risiken, die das gesamte Unternehmen in Gefahr brachten. Heute haben wir das Problem, dass viele Mitarbeiter von dieser Erfahrung so tief im Mark erschüttert worden sind, dass sie überhaupt keine Risiken mehr eingehen. Diese Angst ist für ein Unternehmen sehr gefährlich. P i c c a r d : Dabei eröffnen sich gerade in Zeiten des Umbruchs doch die größten Chancen! Ohne die Fähigkeit, Fragen und Zweifeln gegenüber offen zu sein, wird man nie etwas Neues erschaffen und sich immer innerhalb der altbekannten Grenzen bewegen. Bei Pionierarbeit – egal, in welchem Bereich – geht es aber darum, Grenzen zu verschieben. S p i e s s h o f e r : Vielleicht liegt darin ja auch der Grund für unsere gemeinsame Begeisterung für die Solarenergie. Nach der anfänglichen Euphorie hat sich derzeit in diesem Sektor große Ernüchterung breit gemacht. Es stimmt ja, dass sich die Solarindustrie gerade in einer sehr schwierigen Situation befindet – viele Unternehmen sind in Konkurs gegangen und weitere werden folgen. Aber das ist nur eine Phase. Ich habe keinerlei Zweifel, dass die Solarenergie in 30 Jahren eine zentrale Rolle im globalen Energiemix spielen wird. Genau deshalb haben wir Power-One gekauft, den zweitgrößten Hersteller von Wechselrichtern für Solaranlagen weltweit – zu einem recht günstigen Preis, der drei Jahre zuvor so noch nicht realisierbar gewesen wäre. Kurzfristig werden wir dabei vermutlich starke Wertschwankungen erleben, doch langfristig werden wir in einer Schlüsselbranche führend sein. Nach herkömmlichen Management-Grundsätzen hätten wir uns auf dieses Geschäft eigentlich nicht einlassen dürfen. Aus strategischer Perspektive betrachtet kann es sich ein Großkonzern wie ABB mit einem Jahresumsatz von 40 Milliarden Euro jedoch durchaus leisten, eine Dreiviertel milliarde Euro in ein solches Vorhaben mit Zukunftspotenzial zu investieren.
Ulrich Spiesshofer
Bei der Arbeit an einem Flügel: Das Solarflugzeug mit einer größeren Spannweite als ein Jumbojet erhält ein letztes Feintuning am Flugplatz Dübendorf in der Nähe von Zürich.
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„ Jede gute Führungspersönlichkeit muss Unsicherheit als Teil ihres Alltags akzeptieren. Wir sollten uns davor nicht fürchten, sondern die Verantwortung übernehmen, erfolgreich durch ein von Ungewissheit geprägtes Umfeld zu navigieren.“ 15
Gespräch am Flugsimulator des Solar Impulse: Die exakte Replik des Cockpits misst gerade einmal 3,8 Kubikmeter.
Bertrand Piccard
Ulrich Spiesshofer
Ich finde bemerkenswert, dass du bei ABB nicht nur in erneuerbare Ener gien investierst, sondern auch ganz stark in eine höhere Energieeffizienz. Die Kombination aus beiden ist entscheidend – und mir auch bei meinen Projekten ein zentrales Anliegen. Angesichts des derzeitigen Ausmaßes der Energieverschwendung werden wir nie in der Lage sein, genügend Energie aus Sonne, Wind, Biomasse, Erdwärme und Wasserkraft zu erzeugen. Wir müssen auch Energie sparen: Dafür brauchen wir effizientere Motoren, eine bessere Gebäudeisolierung und bessere Lösungen für den Energietransport. S p i e s s h o f e r : Wir bei ABB haben es uns zur Aufgabe gemacht, wirtschaftliches Wachstum und Umweltbelastung zu entkoppeln, wir wollen erreichen, dass die Welt weniger Energie pro BIP-Einheit verbraucht und diese Energie aus erneuerbaren Ressourcen produziert. Dies ist, in wenigen Worten ausgedrückt, wofür wir stehen. Und wenn ich es richtig verstanden habe, willst du genau das auch mit deinen Projekten zeigen: Wir können auf diesem Planeten leben und arbeiten, ohne seine Ressourcen zu erschöpfen. P i c c a r d : Da ergänzen wir uns ja wirklich gut: Wir fügen mit unseren spektakulären Projekten genau jenen Schuss Hipness und Sexiness zu den neuen Technologien hinzu, dass Menschen Lust bekommen, sie zu nutzen. Und du entwickelst und verkaufst diese Technologien auf industrieller Ebene. Piccard:
Ulrich Spiesshofer, Jahrgang 1964, studierte in Stuttgart Betriebswirtschaftslehre und Ingenieurwissenschaften. 1991 promovierte er in Wirtschaftswissenschaften. Danach arbeitete er fast 15 Jahre lang für Beratungsfirmen, zunächst bei A. T. Kearney und später für Roland Berger. 2005 wurde er Vorstands mitglied und Executive Vice President für Corporate Development bei ABB und war verantwortlich für Konzernstrategie, Mergers & Acquisitions, Operational Excellence und Supply Chain Management. Der Schweizer Technologiekonzern für Energie- und Automatisierungstechnik entstand 1988 durch die Fusion des schwedischen Unternehmens ASEA mit Brown, Boveri & Cie. (BBC) aus der Schweiz. In den frühen 2000 er Jahren durchlief das Unternehmen eine sehr schwierige Phase. Heute hat die Gruppe einen Umsatz von rund 40 Milliarden US-Dollar und beschäftigt rund 150.000 Mitarbeiter in 100 Ländern. Neben der Entwicklung und Umsetzung der Unternehmensstrategie war Spiesshofer auch für die Formulierung der Akquisitionsstrategie der Gruppe und die Einführung eines Venture Fund für vielversprechende Technologieunternehmen verantwortlich. 2009 wurde Spiesshofer Leiter der Division Discrete Automation and Motion. Unter seiner Führung verdoppelte sich der Umsatz der Division bei gleichzeitiger deutlicher Verbesserung der operativen Marge, und er managte erfolgreich die Integration der US-Firma Baldor – die größte Akquisition in der Geschichte von ABB. Mit der Übernahme des US-Unternehmens Power-One hat sich ABB als einer der führenden Anbieter von Solarwechselrichtern etabliert. Am 15. September 2013 trat Spiesshofer die Nachfolge von Joe Hogan als CEO von ABB an. Neben seinen Aufgaben bei ABB dreht sich Spiesshofers Leben um seine Familie. Zusammen mit seiner Frau Natalie und den beiden Söhnen im Alter von zwölf und 15 Jahren lebt er in Zollikon am Zürichsee, wo Spiesshofer – als begeisterter Segler – seinem Hobby nachgeht. Er ist außerdem leidenschaftlicher Skifahrer und vielseitiger Hobbymusiker, der Klarinette, Saxophon und Akkordeon spielt. 19
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Um die Welt dahin zu bringen, wo du und ich sie vermutlich gerne hätten, müssen drei Faktoren zusammenkommen: Die Technologie muss verfügbar sein, sie muss ökologisch sein und sie muss sich rechnen. Des Weiteren muss auch die Politik eine Schlüsselfunktion einnehmen: Wir brauchen daher ein Umfeld mit schlüssigen regulatorischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, das Anreize für Investitionen in diese Technologie bietet. Und drittens sind Verhaltensfaktoren sehr wichtig, sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene. Beide sind eng miteinander verknüpft. Individuelles Verhalten beruht ja nie nur auf kühler Ratio, sondern hat immer auch mit Emotionen zu tun. Du, Bertrand, erreichst sehr viele Menschen über die emotionale Ebene – was wiederum institutionelles Verhalten katalysieren und motivieren kann. Wir sollten überlegen, ob wir da nicht gemeinsam etwas in Bewegung setzen können. P i c c a r d : Weil es eben nicht nur um intelligente Technologie geht, sondern um menschliches Verhalten, ist meine Erfahrung als Psychiater sehr hilfreich. Im Team ergänzen sich ein Psychiater und ein Ingenieur hervorragend: Wir können die technische Lösung entwickeln und gleichzeitig die Menschen dazu anregen, diese zu nutzen. Verbote oder Belehrungen über die Wirkung unseres heutigen klimaschädlichen Verhaltens bewirken doch gar nichts. Niemand hat Spaß daran, wenn Umweltschutz langweilig und teuer daherkommt. Man muss die Menschen auf seine Seite bringen, sie für die neue Sache begeistern und belohnen. Wenn man jemanden dazu bringen will, sich für eine bessere Zukunft zu engagieren, dann braucht er dafür einen Anreiz – zum Beispiel derjenige mit dem schicksten Elektroauto zu sein oder der mit dem besten Niedrigenergie-Haus oder das Unternehmen, das die energiesparendste Technologie produziert und so für eine niedrigere Stromrechnung sorgt. S p i e s s h o f e r : Ja, es geht darum, immer wieder Grenzen zu verschieben. Aber wie findest du persönlich dabei eine Balance, ohne zu weit zu gehen und am Ende zu scheitern? P i c c a r d : Ich weiß gar nicht, ob ich wirklich eine Balance finden will, denn ich bin eigentlich nie mit dem zufrieden, was ich gerade bin oder habe. Ich will die Dinge immer noch ein bisschen besser machen. Dieser ständige innere Antrieb macht Pioniergeist im Kern aus. Bist du mit dem zufrieden, was du hast, dann schaust du nicht über den Tellerrand und überschreitest keine Grenzen. Ich träumte davon, in einem Ballon um die Welt zu fliegen. Nachdem ich das getan hatte, dachte ich auch schon über mein nächstes Projekt nach. Ich überlegte mir, noch einmal Spiesshofer:
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Bertrand Piccard
Ulrich Spiesshofer
Bertrand Piccard
„ Rückschläge stellen sich nachträglich oftmals als Glücksfälle heraus.“
das Gleiche zu machen – aber ohne Treibstoff an Bord. So entstand die Idee für Solar Impulse. Ich bin sicher, dass ich mich auch nach Solar Impulse nicht zur Ruhe setzen werde. Es gibt noch so vieles zu tun. ABB ist natürlich ein etwas größeres Unterfangen als mein Hangar hier ... S p i e s s h o f e r : Das stimmt, aber das Prinzip ist ähnlich. Wenn man ein Unternehmen leitet, muss man eine gewisse gesunde Unruhe im Unternehmen aufrechterhalten. Es gilt, fortwährend Fragen zu stellen: Was geht gerade vor sich? Was könnte ich noch tun? Was könnte mich einholen? Was liegt vor mir? Welche Chancen bieten sich uns? Ohne diesen Pioniergeist gäbe es ABB nicht mehr. Innovationen sind unsere Existenzgrundlage. Nur wenn wir diese in vermarktbare Produkte umsetzen, können wir die Existenz der Menschen, die für uns arbeiten, sichern. Wir sind direkt und indirekt für eine halbe Million Menschen und Arbeitsplätze verantwortlich und dürfen deshalb für technologische Experimente nicht „Haus und Hof verwetten“, aber innerhalb unserer Organisation haben wir doch erheblichen Spielraum. Wir können uns in gewissem Umfang leisten, auch an wirklich Außergewöhnlichem zu arbeiten, ohne das System aus dem Gleichgewicht zu bringen – und wir tun das immer häufiger. So haben wir einen VentureCapital-Fonds eingerichtet und in den letzten Jahren 150 Millionen Euro in Zukunftstechnologien investiert – darunter sind auch ein paar recht ausgefallene Ideen. Gleichzeitig stecken wir aber über eine Milliarde Euro pro Jahr in „klassische“ Forschung und Entwicklung. P i c c a r d : Wie schaffst du es, diesen ganzen großen Konzern mit diesem Geist der Unruhe zu beleben? Wie stellst du sicher, dass die Menschen nicht in ihrer Komfortzone verharren? Das interessiert mich – nicht nur als Psychiater! S p i e s s h o f e r : Einer unserer Leitsätze ist es, keine Selbstgefälligkeit zuzulassen – gut mag nicht gut genug sein. Vor kurzem berichtete zum Beispiel einer unserer Manager stolz, er habe die Ausfallrate für ein bestimmtes hochkomplexes neues Produkt von 25 auf zwölf Prozent gesenkt. Würde er wohl in ein Flugzeug steigen, wenn es eine solche Ausfallrate hätte? Wir suchen externe Impulse und Benchmarks, um Veränderungen und Selbstkritik zu fördern. Gleichzeitig hüte ich mich, Menschen gewaltsam aus ihrer Komfortzone zu drängen. Es nützt uns nichts, wenn sie dann vor lauter Unsicherheit erstarren. Wir wollen nur sicherstellen, dass alle hinterfragen, was sie tun. 21
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Ulrich Spiesshofer
„ Man muss sich ehrgeizige Ziele setzen und auch bereit sein zu scheitern. Wer mit einem möglichen Scheitern nicht umgehen kann, hat nicht das Zeug zum Führen.“
Im Grunde möchte ich erreichen, dass alle Mitarbeiter abends nach Hause gehen und sich eine einfache Frage stellen: Was habe ich heute bewirkt? Dabei spielt es keine Rolle, ob man Büros reinigt oder ein milliardenschweres Portfolio betreut, Raum für Verbesserungen gibt es immer und überall. Es macht Menschen meiner Meinung nach auch glücklicher und motivierter: Wer auf der Stelle tritt, ist in der Regel unzufrieden. Auf meinen Reisen versuche ich immer, mit Mitarbeitern aus allen Unternehmensbereichen ins Gespräch zu kommen. Kürzlich sah ich bei so einer Gelegenheit jemandem in einer unserer Fabriken bei seiner Tätigkeit einige Zeit zu und hatte den Eindruck, dass seine Arbeitsweise nicht sonderlich effizient war. Er gab mir Recht und machte einen Vorschlag, wie der Job besser erledigt werden könnte. Auf die Frage, warum er diese Änderung nicht schon früher vorge nommen hätte, antwortete er: „Es hat mich nie jemand gefragt.“ Das war für mich ein Schlüsselerlebnis: Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie einen aktiven Beitrag leisten können, dass ihre Ideen einen Wert haben und von ihren Vorgesetzten geschätzt werden. P i c c a r d : Bei unserer Solar Impulse stellen André Borschberg und ich sicher, dass j eder unserer Mitarbeiter weiß, warum er tut, was er tut. Da ich kein Ingenieur bin, kann ich zum Beispiel niemandem erläutern, wie man einen Elektromotor baut, aber ich kann beschreiben, warum ich den effizientesten Elektromotor brauche, den unsere Techniker entwickeln können, um fünf aufeinanderfolgende Tage und Nächte ganz ohne Treibstoff durchfliegen zu können, von einem Kontinent zum nächsten. S p i e s s h o f e r : Ein gemeinsames Ziel ist entscheidend, um Leidenschaft zu wecken. In deinem Fall ist dieses Ziel der Flug rund um die Welt; für uns ist es „Power and Productivity for a Better World“. P i c c a r d : Aber es ist nicht immer einfach, die richtigen Partner für ein ausgefallenes Projekt zu finden und zu begeistern. Vielen fehlt es dafür an Vorstellungskraft. Für Solar Impulse brauchten wir die Expertise aus sehr unterschiedlichen Arbeitsbereichen. Deshalb haben wir nun Mitarbeiter aus der Formel 1, aus dem Schiffbau und einige aus der Luftfahrt. Wir arbeiten beispielsweise mit der Werft zusammen, die die Rennyacht für Alinghi gebaut hat. Dort hatte man zwar vom 22
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Ulrich Spiesshofer
Bertrand Piccard wurde 1958 in eine berühmte Familie hineingeboren: Sein Großvater Auguste Piccard stieg 1932 als erster Mensch mit einem Ballon in die Stratosphäre auf und sah die Erdkrümmung. Sein Vater, der Meeresforscher Jacques Piccard, erreichte als Erster den tiefsten Punkt des Pazifischen Ozeans und stellte einen Weltrekord auf, als er mit dem von seinem Vater entwickelten Tiefsee-Tauchboot „Trieste“ im Marianengraben bis auf 10.916 Meter unter dem Meeresspiegel tauchte. Mit 16 Jahren zählte Bertrand Piccard bereits zu den europäischen Pionieren des Drachen- und Ultraleichtflugs und begeisterte sich für alle Aspekte der Luftfahrt: Kunst- und Motorflug, Segeln im Hängegleiter und Fallschirmspringen. Piccard war Europameister im Kunstflug, hielt den Höhenweltrekord und lieferte mehrere andere „Weltpremieren“ – beispielsweise überflog er als Erster in einem Ultraleichtflugzeug die Alpen. 1999 gelang Bertrand Piccard zusammen mit Brian Jones die erste Nonstop-Weltumrundung in einem Heißluftballon. Ein Aspekt des Fliegens faszinierte ihn jedoch noch mehr als Rekorde und Abenteuer, und zwar das Studium des menschlichen V erhaltens und die verschiedenen Bewusstseinsebenen in Extremsituationen. Er studierte Medizin und Psychiatrie und arbeitete als Oberarzt am Universitätsspital Lausanne, bevor er eine eigene psychotherapeutische Praxis eröffnete. Ganz im Sinne der Familientradition, die wissenschaftliche Erforschung, Umweltschutz und die Suche nach einer besseren Lebensqualität verbindet, geht es bei Piccards aktuellem Projekt Solar Impulse mit seinem Partner André Borschberg um die Weltumrundung in einem solarbetriebenen Flugzeug. 2012 wurde Piccard von den Vereinten Nationen als „Champion of the Earth“ ausgezeichnet und wie folgt beschrieben: „Wenngleich auch ein Pionier, Forscher und Innovator, der außerhalb gängiger Gewissheiten und Stereotypen arbeitet, ist Dr. Piccard in erster Linie doch ein Visionär und ein Kommunikator: Als Ini tiator von Solar Impulse ist er verantwortlich für die Vorreiter-Philosophie des Projekts und dessen symbolische Reichweite, die Regierungen dazu bringen soll, eine viel ehrgeizigere Energiepolitik zu betreiben.“ Zusammen mit Brian Jones gründete Piccard die Stiftung „Winds of Hope“ zur Bekämpfung seltener Krankheiten wie zum Beispiel der Noma in Afrika. Piccard ist verheiratet, hat drei Töchter und lebt in der Nähe von Lausanne. 25
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Bertrand Piccard
„ Durch meinen Willen allein kann ich die Naturgesetze nicht außer Kraft setzen. Doch die Grenzen, die wir in unseren Köpfen errichten und für real halten, die müssen wir durchbrechen.“
Flugzeugbau keine Ahnung, wusste aber, wie man mit Kohlefaser arbeitet – die Kombination dieses Wissens mit dem Know-how unseres Teams hat zu fantastischen Ergebnissen geführt. S p i e s s h o f e r : In der Theorie wird wortreich beschrieben, wie Innovationsvermögen und Performance durch Diversity entscheidend verbessert werden können, wie eine Vielfalt in den Denkansätzen zu besseren Ergebnissen führt. In der Praxis zeigt sich allerdings oft, dass es schwierig ist, Vielfalt zu leben und sich entfalten zu lassen. Die Herausforderung liegt darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen wirklich auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. P i c c a r d : Das ist wirklich nicht einfach, selbst in unserem kleinen Team. Bei Solar Impulse haben wir das Problem durch die Einführung einer Doppelspitze gelöst. André Borschberg ist Ingenieur, ich bin Psychiater; er ist Kampfpilot, ich bin Entdecker. Gemeinsam decken wir ein sehr großes Spektrum an Fachwissen ab und verkörpern die Synergie, die wir auch im Rest des Teams erleben wollen. S p i e s s h o f e r : In meiner Rolle als CEO eines Großkonzerns muss ich wie der Dirigent eines Orchesters agieren: Ich muss für ein harmonisches Zusammenspiel der verschiedenen Instrumente sorgen, damit diese das richtige Musikstück für das richtige Publikum spielen. Mein Job besteht unter anderem darin, Teams für bestimmte Aufgaben zusammenzustellen. Wenn die Produktivität in bestimmten Abläufen verbessert werden soll, braucht es ein Team mit einer spezifischen Zusammensetzung. Eine andere Konstellation ist gefragt, wenn es etwa um die Fertigungsautomatisierung der nächsten Generation von Mobiltelefonen geht: Dafür haben wir einen Neurochirurgen mit Erfahrung in der Mikropositionierung von Werkzeugen an Bord geholt. Und seit kurzem unterstützen Versicherungsmathematiker unsere Ingenieure bei der Entwicklung einer Palette neuer Dienstleistungsprodukte. Die Kunst besteht darin, zu erfassen, welche Kompetenzen jedes Team braucht, um seine Aufgabe zu erfüllen, und dafür die richtigen Leute ins Boot zu holen – aber das funktioniert natürlich nicht immer. 26
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Wenn alles immer schon beim ersten Mal klappt und dir alle zustimmen, dann hast du deine Ziele nicht hoch genug gesteckt. S p i e s s h o f e r : Natürlich, man muss sich ehrgeizige Ziele setzen und auch bereit sein zu scheitern. Wer mit einem möglichen Scheitern nicht umgehen kann, hat nicht das Zeug zum Führen. Ich habe zum Beispiel vor einiger Zeit ein Team damit beauftragt, ein elektronisches Produkt für den chinesischen Markt zu entwickeln, das nur halb so viel kosten sollte wie bisher. Anfänglich hieß es, das sei unmöglich. Aber ich war überzeugt, dass es eine Lösung gab, und glaubte an das Team. Also stellten wir der Gruppe mehr als 10 Millionen Euro für das Projekt zur Verfügung und tatsächlich – wir werden das neue Produkt nun auf den Markt bringen. Natürlich gab es auf dem Weg dahin auch kostspielige Rückschläge, aber letztlich war das Team erfolgreich, weil es gelang, ein vollkommen neues Design für dieses Produkt zu entwickeln. Mein Grundsatz lautet: Ich möchte ein Unternehmen schaffen, in dem Fehler erlaubt sind, in dem wir aus diesen Fehlern lernen – und voneinander. Eine Herausforderung bei ABB besteht darin, dass viele unserer Leute derzeit noch eine recht festgefahrene Vorstellung davon haben, was erlaubt ist und was nicht. Ich möchte diese Grenzen in der Risikobereitschaft mit Augenmaß verschieben. P i c c a r d : Rückschläge stellen sich nachträglich ja oftmals als Glücksfälle heraus. Siehe hier den Hauptholm der Solar Impulse, das große Teil in der Mitte des Flügels: Acht Monate und etwa 40 Personen waren notwendig, um ihn zu entwerfen und zu bauen, 64 Mal ging er in den Ofen, um die Polymere zu backen. Dann führten wir einen letzten Belastungstest durch und er brach, einfach so, mit einem lauten Krachen. Wir mussten die Weltumrundung um ein ganzes Jahr verschieben. War das ein Rückschlag? Das hängt von der Betrachtungsweise ab. Der Vorteil bestand darin, dass es für André und mich 2013 auf der operativen Seite nicht viel zu tun gab. Deshalb beschlossen wir, die Vereinigten Staaten zu überfliegen. Das erwies sich als bisher größter Erfolg für Solar Impulse! Wir bekamen breite Unterstützung, UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hieß uns persönlich in New York willkommen. Es gab eine weltweite Medienresonanz, die den Weg für die Weltumrundung bereitete, und außerdem war es eine hervorragende Vorbereitung für unser Team. Piccard:
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„  Wenn alles immer schon beim ersten Mal klappt und dir alle zustimmen, dann hast du deine Ziele nicht hoch genug gesteckt.“
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Hast du eine besondere Strategie für einen positiven Umgang mit Rückschlägen? P i c c a r d : Man muss absolut offen sein, dazu bereit, Chancen zu ergreifen, die sich bieten, und bei Fehlschlägen flexibel genug für eine Kursänderung. Mit 24 Jahren startete ich ein Unternehmen für Ultraleichtflugzeuge. Ich wollte in Touristenorten überall auf der Welt zweisitzige Ultraleichtflugzeuge mit Piloten stationieren, um Touristen auf Besichtigungstouren mitzunehmen. Es war ein kompletter Reinfall! Ich bekam die erforderlichen Genehmigungen nicht, und das Projekt hob nie wirklich ab. Ist das nun ein Rückschlag, ein Misserfolg? Ich für meinen Teil würde es als Erfahrung verbuchen. S p i e s s h o f e r : Meine Jugend war nicht durch so aufregende Projekte gekennzeichnet wie deine, doch ich erinnere mich gerade an das Lieblingssprichwort meines Großvaters: „Und morgen geht wieder die Sonne auf.“ Wenn wir uns diese Lebenseinstellung zu eigen machen, weniger selbstherrlich und dafür selbstbewusster sind, dann können wir dem gesamten Konzept von Misserfolg und Erfolg viel entspannter gegenüberstehen. Obwohl es natürlich auch Grenzen gibt, die wir respektieren müssen. P i c c a r d : Ja, sicher! Ich kann ja nicht durch meinen Willen die Naturgesetze außer Kraft setzen. Ich kann nicht fliegen, indem ich einfach mit den Armen wedele. Doch die Grenzen, die wir in unseren Köpfen errichten und für real halten, die Spiesshofer:
Bertrand Piccard
Ulrich Spiesshofer
müssen wir durchbrechen. Selbst wenn man glaubt, etwas geht nicht, muss man es versuchen. Vielleicht gelingt es ja letztlich doch. S p i e s s h o f e r : Bei ABB haben wir zwei nicht verhandelbare Bedingungen. Bei der ersten geht es um Gesundheit und Sicherheit unserer Mitarbeiter bei der Arbeit: Niemand darf in persönliche Gefahr kommen, um die Wünsche unserer Kunden zu erfüllen. Die zweite Bedingung ist ein integres, ethisches Verhalten s owohl intern als auch nach außen. Bei diesen beiden Aspekten mache ich keine Kompromisse. Wo ziehst du die Grenzen, Bertrand? Deine Projekte sind doch oft sehr riskant. Nimmst du in Kauf, dass du oder dein Partner sich verletzen oder gar tödlich verunglücken könnten? P i c c a r d : Darüber sprechen wir häufig. Bevor wir beispielsweise zur Weltumrundung im Ballon aufbrachen, diskutierten mein damaliger Partner Brian Jones und ich, welche Risiken wir in Kauf zu nehmen bereit wären. Wir entschieden, zu akzeptieren, uns ein Bein oder einen Arm zu brechen oder unter Kälte, Hitze oder Hunger zu leiden – das Risiko, uns das Rückgrat zu brechen und im Rollstuhl zu landen oder den Tod hingegen nicht. Wären wir also in ein schweres Gewitter geraten, selbst kurz vor der Ziellinie, dann hätten wir den Flug abgebrochen. S p i e s s h o f e r : Das ist ein entscheidender Punkt. In unserem Fall ist es wichtig, dass unsere Mitarbeiter wissen, wo wir unsere Grenzen ziehen. So können sie sicher sein, dass sie nicht ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssen, wenn sie für ABB arbeiten. Sie werden anständig behandelt und müssen das im Gegenzug auch mit anderen tun. Vieles andere ist diskutierbar, diese Dinge aber nicht. P i c c a r d : Es geht hier also weniger um Grenzen, als vielmehr um die klare Definition von Regeln für eine Zusammenarbeit und von akzeptablen und inakzeptablen Verhaltensweisen. Obwohl wir uns nun vor allem über Technologie und Unternehmensstrukturen unterhalten haben, geht es im Grunde doch auch um das Leben im Allgemeinen. Denn die Menschen stehen jeden Tag vor Herausforderungen und müssen Aufgaben erfüllen – ihre Kinder zur Schule schicken, Nahrung und Wasser beschaffen, lernen, einen Job bekommen, einen Lebenspartner finden. Alles Dinge, die genau die gleiche Geisteshaltung erfordern wie die Aufgaben, über die wir gesprochen haben – Grenzen verschieben, mit Unsicherheiten umgehen, Neues wagen. Deshalb ist Solar Impulse für mich auch nicht nur ein Technologieprojekt, es bringt mich wieder zu meiner Rolle als Psychiater zurück. Es kommen oft Leute zu uns, die sich bedanken wollen – dafür, dass wir sie ins piriert haben, ihnen Hoffnung gegeben und eine neue Art des Denkens aufgezeigt haben. Das ist für uns die beste Bestätigung, die wir uns vorstellen können.
Solar Impulse im Testflug über San Francisco
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Bertrand Piccard
Ulrich Spiesshofer
Im Hangar von Solar Impulse auf dem Flughafen Dübendorf bei Zürich moderierten Gaëlle Boix, Egon Zehnder Genf, und Philippe Hertig, Egon Zehnder Zürich, das Gespräch zwischen Bertrand Piccard und Ulrich Spiesshofer.
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dialoge
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Jan
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d u P l e s s i s
Pienaar
Chairman
R u g b yl e g e n d e
Jan du Plessis
François Pienaar
Die südafrikanische Rugbylegende François Pienaar und Jan du Plessis, Chairman von Rio Tinto, über außergewöhnliche Teams, emotionales Gespür und die Rolle des Kapitäns.
J a n d u P l e s s i s (links) Chairman von Rio Tinto F r a n ç o i s P i e n a a r (rechts) Ehemaliger Mannschaftskapitän des südafrikanischen Rugby-Nationalteams
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Was haben die aufgeheizte Atmosphäre im Rugby und langfristiges strategisches Denken in einem internationalen Bergbaukonzern gemeinsam? Können erfolgreiche Teams, ob in der Welt der Wirtschaft oder im Sport, auch Querdenker und Einzelkämpfer verkraften? Und wie wichtig sind Vertrauen und Aufrichtigkeit in einer Umgebung, in der knallharte Siegertypen mit unstillbarem Erfolgshunger das Sagen haben? François Pienaar, der 1995 als Mannschaftskapitän der südafrikanischen Auswahl den World Cup aus der Hand Nelson Mandelas entgegennahm, traf seinen Landsmann Jan du Plessis, Chairman von Rio Tinto, in der Nähe von London, um mit ihm über die Erfolgsgeheimnisse zweier sehr unterschied licher Berufe zu sprechen. Kein besserer Schauplatz für diese Unterhaltung als die Tribüne des Twickenham Stadium – dort ist das World Rugby Museum zu Hause, und dort atmet man noch immer den Geruch unzäh liger Siege und Niederlagen.
Wir beide sind Südafrikaner, ich liebe Rugby, und wie die meisten Südafrikaner empfinden wir wohl beide grenzenlose Bewunderung für Nelson Mandela. Meine erste Frage muss also lauten: Wie war es, diese bemerkenswerte Mannschaft 1995, in einem so entscheidenden Augenblick der südafrikanischen Geschichte, zum Sieg im World Cup zu führen? F r a n ç o i s P i e n a a r : Es hatte schon etwas Magisches, aber erst im Nachhinein. Überragendes Talent ist sicherlich die Voraussetzung für eine solche Leistung, und ich hatte das Glück, als Mannschaftskapitän eine Gruppe fantastischer Einzelspieler zu führen, mit einem weitsichtigen Trainer und einem großartigen Management. Doch Talent ist nur das eine. Wegen der Ächtung der Apartheid waren wir erst 1992 aus der internationalen Isolierung herausgekommen. Uns fehlte die Erfahrung, die andere Mannschaften hatten. Deswegen gingen wir die Projektplanung genauso an, wie es ein Ingenieur getan hätte: Erst definierten wir das Problem. Dann die Lösung. Und anschließend die Phasen, in denen sie zu erreichen war. Wir waren Amateure. Tagsüber gingen wir zur Arbeit, abends wurde trainiert. Der World Cup war unser Projekt, und ganz entscheidend war die obsessive Beschäftigung mit jedem Detail – genauso wichtig wie das, was wir als Talent mitbrachten. d u P l e s s i s : Wenn ich nach Führungsqualitäten gefragt werde, dann antworte ich: Alles hängt von den Menschen ab – it’s all about people. Ich kann das nicht stark genug betonen. Was Sie sagen, glaube ich, zielt in dieselbe Richtung: Im Rugby muss man Menschen studieren und Menschen verstehen. Jan du Plessis:
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Jan du Plessis
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Ja, es geht darum, sich in die ideale Wettkampfstimmung zu bringen. Beim World Cup kann das ein Turnier entscheiden, also darf einem kein Detail entgehen. Ehrlichkeit spielt auch eine Rolle. Um ein außergewöhnliches Team zu formen, ist der einzelne Spieler genauso wichtig wie eine klare Rangordnung: Erst kommt der Trainer, dann der Mannschaftskapitän, dann das Team. Wenn einer keine Leistung bringt, gehört er nicht in die Mannschaft. d u P l e s s i s : Welche Rolle haben bei diesem World-Cup-Finale denn die Emotionen gespielt? Nelson Mandela saß ja auf der Tribüne, die ganze Nation rückte dicht zusammen. Wie hat sich das angefühlt? P i e n a a r : Schwer zu beschreiben. Man spürt in sich selbst und innerhalb der Mannschaft viele widersprüchliche Empfindungen, und als Kapitän muss man sie im Zaum halten. Normalerweise ging der Coach – mein Förderer und ein wunderbarer Mensch – mit mir zwei Tage vor dem Spiel die Strategie durch. „Cappy“, sagte er, „sollen wir die Maschine anwerfen?“ Das bedeutete: Ist die Mannschaft motiviert, ist sie bereit für dieses Match? Eine Rugbypartie unterscheidet sich vermutlich grundlegend von der Geschäftswelt, denn man kann nichts mehr korrigieren. Man hat 80 Minuten, um alles richtig zu machen – und deshalb muss man die Persönlichkeit aller Beteiligten genau kennen. d u P l e s s i s : Genau darum geht es auch in der Führung von Unternehmen. Ein zen traler Aspekt von Leadership, sei es im Business oder im Sport: Ein Team besteht aus Individuen, und man muss jedem Individuum gerecht werden, sich auf jedes einstellen. In der Bergbauindustrie gibt es nichts, was auch nur annähernd mit einem World-Cup-Finale im Rugby vergleichbar wäre. In dieser Industrie kommt es auf langfristige Planung, nicht auf den Augenblick an. Wir brauchen Jahre zur Vorbereitung von Projekten, die über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren umgesetzt werden – das Ganze mit dem Ziel, dass sich die Investi tion in 20 bis 30 Jahren auszahlt. P i e n a a r : Es ist doch auffallend, dass diese Zeitspannen – meine 80 Minuten gegen Ihre 20 bis 30 Jahre – sehr weit auseinanderklaffen, es aber doch um dieselben Prinzipien geht: eine konsequente, sorgfältig erdachte Strategie und den rich tigen Umgang mit Emotionen. d u P l e s s i s : Stimmt genau. Emotionen und Werte sind ein grundlegendes Element von Führung. Bisweilen glaubt man ja, der Aufstieg innerhalb eines Unternehmens hänge allein von beruflicher Performance, harter Arbeit oder davon ab, Stärke zu zeigen. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Zuallererst geht es um die Werte, die einen antreiben. Ich habe Board Meetings erlebt, in denen die Fetzen flogen: Zwölf oder 14 Führungskräfte, die alle mit Leidenschaft für das Wohl des Unternehmens streiten, doch uneins über den richtigen Kurs sind. Da gibt es nur einen Ausweg: die Rückbesinnung auf den Kompass, die Werte. Die wichtigste Frage lautet: Wohin soll das Unternehmen? Pienaar:
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Wo Rugby, Politik und Welt geschichte sich treffen: Nach Südafrikas Sieg 1995 gegen Neuseeland in der Verlängerung überreicht Nelson Mandela Kapitän François Pienaar den World Cup.
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François Pienaar
Jan du Plessis
„ Nelson Mandela schuf Vertrauen in einer Umgebung, in der niemand zuvor je vertraut hatte.“
Wie sachorientiert sind solche Debatten? Und welche Rolle spielt das Ego? „Ego“ klingt mir zu negativ. In unserem Board treffen starke Persönlichkeiten aufeinander, und das ist durchaus in Ordnung. Die Mitglieder unseres Boards kommen aus Business, Sport und Politik. Sie unterscheiden sich nicht nur im Charakter, sondern auch durch ihre Herkunft, und das wird bei Diskussionen spürbar. Meine Aufgabe besteht darin, diese Einzelpersönlichkeiten an einen Tisch zu bringen und am Ende eine überzeugende gemeinsame Linie zu finden. P i e n a a r : Das gilt auch für ein Rugbyteam. Im Finale waren wir unglaublich fokussiert. In anderen Partien dagegen kann es passieren, dass Spieler mit starker Persönlichkeit das Wohl der Mannschaft aus dem Auge verlieren, weil nicht alles nach ihrer Nase geht. Dann muss man sie wieder auf Linie bringen. Was tun Sie, Jan, wenn Sie einen Star im Team haben, dessen Persönlichkeitsstruktur nicht zum Unternehmen passt? d u P l e s s i s : Das ist eine gute Frage. Große Unternehmen neigen dazu, manchmal etwas zu bürokratisch zu agieren. Sicherlich kann ein globaler Konzern nur effizient arbeiten, wenn alle das gemeinsame Ziel vor Augen haben und gewisse Regeln eingehalten werden. Dennoch sollten erfolgreiche Unternehmen jenen, die nicht ins Schema passen, einen gewissen Spielraum lassen. Innerhalb vernünftiger Grenzen, versteht sich. Wenn das Verhalten eines Einzelnen die Dynamik im Team nachhaltig stört, dann muss er oder sie gehen. Es gibt einen Punkt, an dem aus einem Querdenker ein Querschläger werden kann – dessen muss sich der Unternehmer immer bewusst sein. P i e n a a r : Im Rugby sind ausgeprägte Führungsqualitäten vonnöten. Während des Spiels muss man fortlaufend unter Druck die richtigen Entscheidungen treffen. Ohne eine Kultur der High Performance, die auf absolutem Vertrauen beruht, würde man scheitern. Den schlimmsten Augenblick als Mannschaftskapitän habe ich 1994 auf unserer Neuseeland-Tournee erlebt. Im zweiten Match ging die Disziplin über Bord, und einer unserer Männer biss einem Gegenspieler ins Ohr. Die Zeitungen haben die Geschichte breit ausgewalzt. Tief nachts rief mich der Verband zur Krisensitzung, und der Sünder wurde nach Hause geschickt. Es ist eine große Herausforderung, immer die Nerven zu bewahren. Das macht die Rolle des Kapitäns aber gleichzeitig so reizvoll. Pienaar:
du Plessis:
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François Pienaar, geboren 1967 in Vereeniging, Südafrika, war Mannschaftskapitän der Springboks, der südafri kanischen Rugby-Nationalmannschaft. 1995 gewann er mit seinem Team in Johannesburg nach einem dramatischen Finale gegen die All Blacks aus Neuseeland den World Cup. Dieser hoch politische Sieg war die Krönung von Präsident Nelson Mandelas mutigem Wahlkampfmotto „Ein Team, ein Land“ und wurde nach der Abschaffung der Apartheid zum Symbol für die südafri kanische „Regenbogengesellschaft“. Mehr als zehn Jahre darauf wurden Mandela und Pienaar, gespielt von Morgan Freeman und Matt Damon, zu Hauptfiguren in Clint Eastwoods Film Invictus. Er basiert auf John Carlins Buch Der Sieg des Nelson Mandela: Wie aus Feinden Freunde wurden. Nelson Mandela hat über François Pienaar einmal gesagt: „Unter seiner engagierten Führung wurde Rugby zum Stolz eines ganzen Landes; sein Vorbild wirkte weit jenseits der Rugby welt, und er ist der wahre Vertreter aller Südafrikaner. Unter seiner inspirierenden Führung wurde ein Land geeinigt.“ Pienaar ist der einzige Südafrikaner, der sowohl in die International Rugby Hall of Fame als auch in die IRB Hall of Fame aufgenommen wurde. Seine bewegenden Worte nach dem Außenseitererfolg im World Cup von 1995 – „Heute hatten wir nicht nur die Unterstützung von 63.000 Südafrikanern (im Stadion), sondern von 42 Millionen Südafrikanern“ – trugen dazu bei, die junge Demokratie zu festigen. Nach dem World Cup wurde Pienaar zunächst Spielertrainer, dann Coach des Londoner Rugbyklubs Saracens. 2002 kehrte er mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen nach Südafrika zurück, behielt aber seine Position im Saracens-Verwaltungsrat. Im Alter von 33 Jahren erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität von Hertfordshire. 1999 veröffentlichte er zusammen mit Edward Griffiths seine Autobiografie The Rainbow Warrior. 2003 trat er in die First Rand Bank ein und war bis 2009 Chairman der FNB für die Provinz Western Cape. Anschließend gründete er Advent Sport Entertainment and Media Ltd. Pienaar ist außerdem Mitbegründer des FN Varsity Cup und Gründer der Firma ASEM Varsity Sports. Pienaar unterstützt das Krankenhaus CHOC (Children’s Haematology and Oncology Clinic). 2003 gründete er die Stiftung MAD (Make A Difference Foundation), die schulisch begabte Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus unterstützt. Derzeit ist Pienaar Chairman dieser Stiftung.
Und für die 80 Minuten auf dem Platz ist es eine gewaltige Aufgabe. Von meinem Trainer habe ich gelernt, dass ich mich als milder Diktator betrachten muss. Ich treffe die Entscheidungen und gebe die Impulse. Wenn man eine Strategie gefunden hat, geht es nur noch um ihre effiziente Umsetzung. Selbst wenn ich mit einer Entscheidung mal danebenliegen sollte – wenn das Team mit Präzision und Leidenschaft an einem Strang zieht, kann man auch eine solche Situation zum Erfolg führen. d u P l e s s i s : Da würde ich gern einhaken. Ich bin skeptisch gegenüber Unternehmen, in denen der Chief Executive ein Superstar ist. In Unternehmen, die nach meiner Einschätzung gesund sind, kennt der CEO seinen Platz. Als Chairman vertrete ich das Board of Directors und muss den CEO – den Mannschaftskapitän – im Auge behalten. Diese Balance ist fundamental. Unternehmensführer, die sich von ihrem Ego wegtragen lassen, verlieren die Orientierung. Schlimmer noch: Wenn sie sich selbst zu wichtig nehmen, verlieren alle den Glauben, dass das Team das Wichtigste ist. du Plessis: Pienaar:
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In der Wirtschaft hat man vielleicht Zeit, über so etwas nachzudenken. Im Sport nicht. Entscheidungen müssen innerhalb von Sekundenbruchteilen fallen, und danach muss man das Beste daraus machen. d u P l e s s i s : Stimmt. Ich sehe übrigens Parallelen zwischen Coach und Kapitän auf der einen und Chairman und CEO auf der anderen Seite. Der wichtigste Mann im Rugby ist der Mannschaftskapitän, nicht der Coach. Und die wichtigste Figur im Unternehmen ist definitiv der CEO, nicht der Chairman. Ein guter Aufsichtsratsvorsitzender muss sein Ego im Zaum halten: Seine Aufgabe besteht darin, den CEO zu unterstützen. Kritik am CEO sollte unter vier Augen geübt werden, nie in der Öffentlichkeit und auch nicht im Board Meeting. Ein guter Chairman sollte dem Chief Executive Respekt entgegenbringen und ehrliches Feedback geben. P i e n a a r : Ja, respektvolle Ehrlichkeit. d u P l e s s i s : Manchen Menschen fällt Offenheit schwer. Vielleicht liegt darin ja ein Unterschied zwischen Sport und Wirtschaft: Als Mannschaftskapitän müssen Sie Vertrauen aufbauen, können aber nicht immer taktvoll sein. P i e n a a r : Vertrauen aufzubauen und zu erhalten ist eine der Säulen meiner Aufgabe. Wenn es Konflikte gibt, gewinnt man Vertrauen nur durch Taten, nicht durch Worte zurück. „Rockstar“-Persönlichkeiten halten in unserer Welt nicht lange durch: Wenn sie sich an die nüchterne Wettbewerbskultur des Rugby nicht anpassen, verschwinden sie schnell von der Bildfläche.
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„ Ich habe Board Meetings erlebt, in denen die Fetzen flogen. Da gibt es nur einen Ausweg: die Rückbesinnung auf den Kompass, die Werte.“ 44
Leadership erfordert aber auch Selbstvertrauen. Wer überempfindlich ist, kann nicht überzeugend führen. Das heißt, sowohl in Ihrer Welt wie auch in meiner braucht man die Stärke, gut zuzuhören, Fehler einzugestehen und möglicherweise die eigene Meinung zu ändern. P i e n a a r : Unbedingt. Bei der Spielvorbereitung war uns der Input von allen will kommen – wir nutzten alle Ressourcen, die uns zur Verfügung standen. Doch Vorbereitung und Umsetzung sind zwei Paar Schuhe. d u P l e s s i s : Wie sind Sie denn damit umgegangen, wenn Sie einen Superstar in der Mannschaft hatten? Jemanden, der entweder störend oder beflügelnd sein kann? Wie stellen Sie sicher, dass er nicht Ersteres ist, sondern Letzteres? P i e n a a r : Wenn der Bauch einem sagt, dass es nicht klappt, sollte man kurz und schmerzlos Konsequenzen ziehen. Andernfalls läuft man Gefahr, die Teamkameraden zu vernachlässigen. Heuern und Feuern ist in der Geschäftswelt vermutlich nicht ganz so unkompliziert … d u P l e s s i s : Das heißt also, François, dass ein Sport wie Rugby keinen Platz für Einzelgänger und Querdenker hat? P i e n a a r : So ist es. Denn wenn Sie Fehler machen, kostet es den Sieg – und nur auf den Sieg kommt es an. d u P l e s s i s : Das klingt ja, als würden einzelne Spieler einfach kommen und gehen. Aber Stabilität und Kontinuität haben doch sicherlich auch ihren Wert. P i e n a a r : Ja, man braucht einen starken Kern. Nur der sorgt für ein leistungsstarkes Team. Und wie erreicht man das? Indem man sich mit Leuten umgibt, die besser sind als man selbst, Spielern, die unbedingt Erfolg haben wollen. d u P l e s s i s : Ja, man muss Talente erkennen. Glück spielt natürlich auch eine Rolle. P i e n a a r : Das ist wahr. Doch wenn man sich auf das Glück gut vorbereitet, findet es einen auch eher. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass ich der glücklichste Sportler auf Erden bin. Ich hatte gerade mein Jurastudium abgeschlossen und mit Rugby angefangen, als Südafrika aus der Isolation heraustrat. Zu jener Zeit waren wir Amateure – und dann kamen plötzlich Nelson Mandela und der World Cup. d u P l e s s i s : Manche Dinge im Leben geschehen zufällig, durch Glück. Doch man muss auch bereit sein, Risiken einzugehen. Rio Tinto, einst das größte und angesehenste Bergbauunternehmen der Welt, war in eine ernsthafte Schieflage geraten, als man mir den Posten des Chairman anbot. Aufgrund der enormen Risiken, die mit diesem Mandat verbunden waren, lehnte ich spontan ab, auch als mir das Angebot das zweite Mal unterbreitet wurde. Als sie sich ein drittes Mal an mich wandten, wägte ich die Herausforderung gegen die darin liegende Chance ab – und stellte mich der Aufgabe. du Plessis:
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Ich glaube, sein ruhiger, überzeugender Stil sagt etwas über das Wesen großer Führungspersönlichkeiten. Da war seine Demut, der Umstand, dass die Menschen ihm vertrauen konnten; doch ebenso wichtig ist, dass er bereit war, auch anderen zu vertrauen. Ich habe ihn nur ein einziges Mal in meinem Leben getroffen, bei einem Abendessen in Kapstadt. Er war sehr schlicht, ein warmherziger Mensch. Seine Präsenz erfüllte den Raum. P i e n a a r : Ich habe einige sehr persönliche Augenblicke mit ihm erlebt. Mandela war großherzig und voller Anteilnahme, doch er brachte auch viele Opfer. Sein Ziel war ein friedliches, demokratisches Südafrika, und er erreichte in so kurzer Zeit so viel. Der Preis, den er dafür gezahlt hat, waren sein Privatleben, seine Familie und Freunde. d u P l e s s i s : Das muss intensiv spürbar gewesen sein, als Sie seine Gefängniszelle auf Robben Island besucht haben. P i e n a a r : Ja. Erst dort begriff ich wirklich, was Mandela Großes geleistet hat. Wenn man seine Zelle betritt und die Wände berührt. Wenn man begreift, dass er dort 17 Jahre lang eingesperrt war und das Gefängnis mit Vergebung im Herzen verließ. d u P l e s s i s : Wie haben Sie den Augenblick erlebt, als er vor dem World-Cup-Finale Ihre Mannschaft besuchte? P i e n a a r : Vor dem Spiel war ich in der Kabine, habe mich umgezogen und fertig gemacht. Unter den Spielern herrschte große Anspannung. Eine aufgeladene Atmosphäre. Da klopfte es an die Tür. Sie ging auf, und da stand er. Er kam rein, mit ihm seine Leute, und trug das Springbok-Trikot! Worte können die Macht dieser Symbolik nicht ausdrücken … d u P l e s s i s : Man kann es Menschen, die nicht in Südafrika aufgewachsen sind, einfach nicht beschreiben. Schwarze unter dem Apartheid-Regime hassten Rugby, sie hassten es abgrundtief! du Plessis:
Da war also nicht nur Motivation im Spiel, sondern auch Ehrgeiz. Richtig. Aber gute Führung erfordert ein tiefes Verantwortungsgefühl. Manchmal sieht man überaus ehrgeizige Menschen und spürt sofort: Die werden es nicht schaffen. Denn ihr Ehrgeiz ist auf die eigene Person gerichtet, nicht auf den Erfolg des Teams. P i e n a a r : Wenn ich jenseits von Talent oder einzelnen Karriereschritten auf die individuelle Persönlichkeit schaue, frage ich mich: Wie wichtig ist emotionales Gespür in der Wirtschaft? Sir Alex Ferguson, der legendäre Coach von Manchester United, hat mir einmal von David Beckham erzählt, und dabei wurde klar, dass Ferguson seine Spieler besser verstand als irgendjemand sonst. Er wusste, wo sie herkamen und wer von ihnen seinen Spitzenplatz behaupten würde – Beckham war dafür das beste Beispiel. d u P l e s s i s : Ich finde auch, dass es ohne emotionales Gespür nicht geht. Ich war erst um die 50, als ich Chairman von British American Tobacco wurde, und am Anfang wollte ich Chairmen und CEOs anderer großer Unternehmen kennenlernen. Also lud ich sie zum Mittagessen ein. Eines Tages sagte meine Assistentin, viele meiner Gäste seien so nette Menschen, und ich dachte: Wer nicht in der Lage ist, sich mit meiner Assistentin ein paar Minuten freundlich zu unterhalten, der wird niemals ein Topmanager werden, denn um es ganz nach oben zu schaffen, braucht man ein Gespür für Menschen. All die knallharten, brutalen Firmen bosse im Kino oder im Fernsehen recyceln ein irreführendes Klischee. Denn als grober Klotz schafft man es nicht an die Spitze einer Organisation. Man schafft es durch emotionales Gespür. Vielleicht, François, wollen Sie an dieser Stelle über Madiba sprechen. P i e n a a r : Das ist schwer in Worte zu fassen. Ich hatte ungeheures Glück. Meine Beziehung zu Nelson Mandela begann eigentlich erst richtig nach dem World Cup, das war das Besondere daran. Als wir in London lebten – unser Sohn Jean war gerade geboren worden –, klingelte eines Morgens das Telefon, und Madiba war dran. Er persönlich, nicht einer seiner Referenten. Und er sprach mit meiner Frau. Zuerst beglückwünschte er sie zu Jeans Geburt, dann sagte er ihr, er wolle gern sein Taufpate sein. Er gab unserem Sohn einen Namen aus der Bantusprache Xhosa – Mkhokeli, was „Anführer“ bedeutet. Er nahm wirklich Anteil, deshalb liebten ihn Menschen überall auf der Welt. Pienaar:
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„ Es geht doch um dieselben Prinzipien: eine konsequente Strategie und den richtigen Umgang mit Emotionen.“
Vor einer Ehrengalerie von Rugbygrößen im Council Room des Stadions Twickenham trafen Damien O’Brien (links) und David Kidd, beide Egon Zehnder London, sowie Ulrike Krause, „Connecting Leaders“, Jan du Plessis und François Pienaar zum Gespräch.
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Aber das war noch nicht alles. Nachdem er in seinem Springbok-Trikot in die Kabine gekommen war, drehte er sich um, und ich sah meine Nummer auf seinem Rücken! Meine Gefühle hätten mich fast überwältigt. Ich hätte Mauern sprengen und Berge versetzen können, und vielleicht gab uns die Szene ja die innere Spannung, die wir brauchten. „Hallo, Jungs!“, sagte er. „Viel Glück!“ Und er drehte sich um und war wieder weg. Was für ein Augenblick. Ich hatte unsere Nationalhymne gelernt, aber draußen auf dem Platz konnte ich sie dann nicht singen, meine Gefühle waren einfach zu stark. d u P l e s s i s : Nelson Mandela schuf Vertrauen in einer Umgebung, in der niemand zuvor je vertraut hatte. Doch was passiert, wenn die Businesswelt das in sie gesetzte Vertrauen verliert? In Europa, Nordamerika und Australien beobachte ich, dass die Menschen den Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft, Politik und Medien nicht mehr vertrauen. Verständlicherweise. In den letzten Jahrzehnten ist die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer geworden, und in der heutigen transparenten Welt tritt das soziale Gefälle offen zutage. Außerdem behandeln wir die Mächtigen nicht mehr mit derselben Ehrfurcht wie früher. Wir wissen: Politiker sind ganz normale Menschen. Was uns das Format Nelson Mandelas umso klarer vor Augen führt. P i e n a a r : Und die globale Finanzkrise hat die Lage verschärft. Viele Unternehmen, so glaubt die Öffentlichkeit, haben ihre Stakeholder im Stich gelassen. d u P l e s s i s : Gewiss haben einige auf ihrem Posten geschlafen; aber es hat wohl auch eine kollektive Pflichtvergessenheit geherrscht. Es ist immer leicht, Einzelper sonen zu kritisieren. Der Vertrauensverlust betrifft auch andere Bereiche, besonders die Medienbranche. Pienaar:
Jan du Plessis, geboren 1954 bei Kapstadt, Südafrika, ist seit 2009 Chairman von Rio Tinto und lebt in England. Von früh auf Rugbyfan, besitzt er sowohl die britische als auch die südafrikanische Staatsangehörigkeit. Du Plessis, dem man großes Verhandlungsgeschick nachsagt, führte Rio Tinto aus der tiefen Krise, in die das Unternehmen in den Jahren zuvor geraten war. Vor seiner Berufung zum Group Finance Director bei der Compagnie Financière Richemont und – von 1990 bis 1995 – bei Rothmans International hatte er leitende Positionen bei der südafrikanischen Rembrandt Group inne. Später wurde er NonExecutive Director im Board von British American Tobacco, anschließend dessen Chairman. Es folgten Posten als Chairman des britischen Nahrungsmittelkonzerns RHM und als Non-Executive Director im Board von Lloyds TSB Group. Derzeit ist Jan du Plessis neben seiner Arbeit in der Bergbauindustrie Senior Independent Director von Marks & Spencer. 52
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jemanden, dem man trust, Vertrauen, entgegenbringt – diese Unternehmensführer wissen, dass sie Treuhänder für das Vermögen anderer sind. Und sie müssen sich dieses Vertrauens würdig erweisen – was uns wieder zu Mandela bringt und seinem Mut, anderen zu vertrauen. P i e n a a r : Ja. Der Augenblick, als er damals mit dem Springbok auf der Brust auf den Platz hinausging, hat nicht nur unser Leben verändert, er hat die Geschichte neu geschrieben. 63.000 Zuschauer – darunter sowohl Konservative wie auch Liberale – riefen „Nelson, Nelson, Nelson!“ Als nach der regulären Spielzeit der Schlusspfiff ertönte, stand es unentschieden, und ich musste das Team neu motivieren. Da stimmte das ganze Stadion „Shosholoza“ an, ein Bergarbeiterlied der Ndebele. 99 Prozent der Zuschauer an jenem Tag waren weiß, doch sie sangen ein schwarzes Volkslied. Keine Ahnung, wie es dazu kam – es gab so viel Zauber an jenem Tag, und er hält noch immer an. Als wir 1994 zur Demokratie wurden, dachte die Welt, wir würden es nicht packen. 20 Jahre später können wir auf viele Erfolge zurückblicken. Aber für die nächsten Schritte wird es wohl auf Leadership ankommen. Was meinen Sie? d u P l e s s i s : Das sehe ich auch so. Vieles ist für Südafrika gut gelaufen, doch vor uns liegen enorme Herausforderungen, und ganz oben fehlt es an dem, was Sie Leadership nennen. Die Zukunft unseres Landes wird entscheidend von überzeugender Führung abhängen. Damit meine ich weniger die Kompetenzen als vielmehr Werteorientierung und Rechtschaffenheit. Die Beziehungen zwischen den Hautfarben, glaube ich, sind gut – alle wissen, dass wir vor einer gemeinsamen Aufgabe stehen. P i e n a a r : Wir brauchen Menschen, die sich Mandela zum Vorbild nehmen. Sie können es nicht genauso machen wie er, das wäre unmöglich, aber sie sollten in seine Fußstapfen treten. Würde man mich fragen, ob ich die letzten 20 Jahre noch einmal erleben wollte, wäre meine Antwort: sofort. Aber in den nächsten 20 Jahren brauchen wir Leadership. Manche haben wohl wirklich „auf ihrem Posten geschlafen“, wie Sie es ausdrücken. Doch andere handelten offenbar aus Egoismus und Gier. So verspielt man Vertrauen. d u P l e s s i s : Da ist etwas dran. P i e n a a r : Menschen sind bereit, Fehler zu verzeihen. Aber wenn aus Egoismus gehandelt wird, geht Vertrauen verloren. In Clint Eastwoods Film Invictus wurde meine Figur idealisiert, so dass ich mich etwas unwohl in meiner Haut fühlte. Es schien mir zu viel der Ehre für den Kapitän – einige meiner Teamkameraden empfanden es vermutlich ähnlich. Zum Glück hatte ich auf die Konzeption des Films keinerlei Einfluss gehabt, andernfalls hätte ich vielleicht das Vertrauen meiner Kameraden verloren, und dieses Vertrauen lässt sich nur durch Taten wiederherstellen – Worte allein genügen nicht. d u P l e s s i s : Mancher Unternehmer mag glauben, er könne mit dem ihm zur Verfügung stehenden Geld machen, was er will. Die meisten Chairmen britischer Unternehmen aber sind sich heute des Vertrauens bewusst, das man in sie setzt, und ihrer Verpflichtungen, die damit einhergehen. Der Begriff trustee bezeichnet Pienaar:
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Imposanter Blick auf das Spielfeld der weltgrößten Rugby-Spielstätte: die königliche Loge in Twickenham.
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MAX
INGE B ORG
H OLLEIN
NE U M ANN
Museumsdirektor
Unternehmerin
M a x H o l l e i n (links) Direktor Schirn Kunsthalle, Städel Museum und Liebieghaus I n g e b o r g N e u m a n n (rechts) Geschäftsführende Gesell schafterin, Peppermint Holding
Kurator und Museums direktor Max Hollein und Ingeborg Neumann, Textilunternehmerin und Förderin der Künste, reflektieren über heilsame Irritation, digitale Räume und den Reiz des Originals.
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Es ist schon fast Ehrensache, wenn sich eine kunstbegeisterte Unternehmerin und einer der international wichtigsten Museumsdirektoren zum Gespräch treffen, dass die Kunst dabei nicht nur als thematischer Gegenstand die zentrale Rolle spielt. Und so nahmen Ingeborg Neumann, Geschäftsführerin der Berliner Peppermint Holding, und Max Hollein in einem Kunstwerk Platz – in einer dreidimensio nalen Installation von Tobias Rehberger in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt, die Teil einer umfassenden Präsentation seines Œuvres ist. Wie irritierend Kunst wirken kann, wie sehr sie das gewohnte Sehen und Denken herausfordert und in Frage stellt, das erlebten die Gesprächspartner in der schwarz-weißen Vertigo-Landschaft von Rehberger ganz unmittelbar – und ließen sich inspirieren zu einer lebhaften Diskussion darüber, wie Kunst neues Denken in Gang setzen kann, und über fruchtbare Allianzen zwischen Museen und Unternehmen.
Kunst kann unsere bisherige Sicht auf die Dinge ganz schön ins Wanken bringen, nicht wahr? Hier, in dieser Installation von Tobias Rehberger, trifft das sogar im wörtlichen Sinn zu. Die Dimensionen, in denen wir sonst sehen und denken, verschieben sich. Wenn Sie, Frau Neumann, sich die Kunst mit Werken unterschiedlicher Künstler in Ihr Unternehmen holen, was versprechen Sie sich davon? I n g e b o r g N e u m a n n : Ich sehe in der Beschäftigung mit Kunst eine gesellschaftspoli tische Dimension. Wir wollen damit neue Denkräume schaffen – und zwar nicht gebunden an einen bestimmten Zweck. Mein Engagement ist durchaus auch ein wenig egoistisch. Ich begeistere mich eben sehr für bildende Kunst und weiß von mir selbst, wie die Beschäftigung mit Kunst mich persönlich verändert hat. Und weil ich glaube, dass das nicht nur für mich gut ist, sondern auch für unser Unternehmen, möchte ich diese Haltung in die Organisation tragen. Denn wir verändern uns nur, wenn wir uns Dingen aussetzen, die wir so nicht kennen. H o l l e i n : Und funktioniert es? Erkennen Sie Veränderungen bei Ihren Mitarbeitern, in Ihrem Unternehmen? N e u m a n n : Leere Wände sind für meine Mitarbeiter inzwischen schrecklich. Sie schätzen es, dass da etwas hängt, Werke, die manchmal durchaus provozieren, nicht immer schön oder reine Dekoration sind. Für ihre Räume dürfen sie sich inzwischen selbst etwas aussuchen. Aber auch dort hängt nur Kunst im Original an den Wänden. Da bin ich ganz strikt. Und ich glaube, mancher stellt fest, dass ein Bild morgens eine andere Inspiration liefern kann als vielleicht am Abend zuvor. Offen dafür zu sein, auch mal Provokationen auszuhalten, die Irritation und die Ambivalenz zu sehen und zu erleben, das halte ich für ganz wichtig. Max Hollein:
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Kunst macht meiner Meinung nach Dinge sichtbar, die wir ohne sie so nicht sehen können. Ich erlebe auch, dass Mitarbeiter sich stärker mit dem Unternehmen identifizieren. Insofern schafft die Beschäftigung mit Kunst bei uns auch ein Stück Heimat – und das auf allen Hierarchieebenen. Mein Fahrer beispielsweise hat durch das Abholen und Transportieren von Arbeiten schon sein eigenes Auge und Raumgefühl entwickelt – so etwas macht Freude! H o l l e i n : Es geht doch im Kern um die Frage, in welcher Welt wir leben wollen, in welcher Gesellschaft und mit welchen Parametern wir unsere Haltung anderen gegenüber zum Ausdruck bringen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ein guter Unternehmer von der Kunst einen direkten Wirkmechanismus erwartet, etwa in der Art, dass ein Mitarbeiter zwei Stunden ein bestimmtes Kunstwerk betrachtet, und dann die zündende Idee für die nächste Innovation hat. Der Gedanke, dass Kunst einen bestimmten Zweck verfolgen oder einen direkten Nutzen erzeugen sollte, wäre schon im Ansatz falsch. Kunst sollte keine dienende oder dienstleistende Rolle spielen, selbst in Unternehmen nicht. N e u m a n n : Ich sehe es genauso. Wenn man mich fragt: „Ist das gewinnbringend?“, dann finde ich die Frage schon im Ansatz falsch. Das erwarte ich gar nicht von der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur. Ich will, dass Kultur identitätsstiftend wirkt. Und es geht darum, Denkanstöße zu bekommen und dann selbst vielleicht ungewöhnliche Ideen zu haben. Das ist für mich auch das eigentliche Thema von Kunst – eine Gesellschaft zu formen, die Kreativität zulässt und fördert; gerade auch in Unternehmen. Wir selbst sind ein innovationsgetriebenes Unternehmen. Wir schaffen und fördern Innovationen durch Synergien aus klassischem Industriegeschäft und unseren Beteiligungen an neuen Hochtechnologien. Alles Gegebene immer wieder in Frage zu stellen, betrachten wir dabei als Voraussetzung für unsere Zukunftsfähigkeit. Ich bin überzeugt davon, dass die ständige Auseinandersetzung gerade mit junger bildender Kunst neben der Kreativität auch die Innovationskraft unserer Mitarbeiter fördert, dass wir das Neue denken können und auf interessantere Ideen kommen als Unternehmen, die sich nicht mit Kunst beschäftigen.
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Ingeborg Neumann begann nach BWL-Studium und Auslandserfahrungen ihre Karriere bei Arthur Andersen und wurde mit 30 Jahren zur Wirtschaftsprüferin bestellt. 1997 gründete Neumann die Peppermint Holding GmbH – eine mittelständische Industriegruppe mit Sitz in Berlin – durch den Kauf sanierungsbedürftiger Unternehmen aus der Treuhandanstalt. Die Peppermint Gruppe entwickelt und produziert heute hochwertige, innovative Textilien für die Bereiche Fashion, Heimtextilien und technische Textilien und erwirtschaftet mit rund 700 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von rund 90 Mio. Euro. Seit 2000 ist Neumann auch im Venture-Capital-Bereich als Investorin und Fondsmanagerin (unter anderem Charité Biomedical Fund) tätig. Im November 2013 wurde Ingeborg Neumann zur Präsidentin des Gesamtverbands textil + mode gewählt. Als erste Frau führt sie damit die Spitzenorganisation der deutschen Textil- und Bekleidungsindustrie. Darüber hinaus ist sie Vizepräsidentin und Schatzmeisterin beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Das Engagement für die Künste ist in den Unternehmensleitlinien der Peppermint Holding verankert: „Wir setzen uns mit künstlerischen Strömungen auseinander und wollen damit unsere eigene Kreativität fördern.“ Neumann ist engagiertes Mitglied in zahlreichen Kunstinstitutionen wie dem Verein der Freunde der Nationalgalerie und engagiert sich zum Beispiel im Künstlerprogramm EHF 2010 der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Dabei muss Kunst ja gar nicht mal immer nur provozieren. Manches kann unglaublich schön, berührend, dramatisch sein. Kunst kann damit einen ganz neuen Zugang zum eigenen Denken eröffnen und vielleicht auch zur indivi duellen emotionalen Kraft. Daran arbeiten wir bei uns im Museum genauso wie in einem Unternehmen – ein Gesamtumfeld zu schaffen, das so interessant, facettenreich und multidisziplinär wie nur möglich ist, um unsere Mitarbeiter kreativ herauszufordern, ihnen ständig neue Impulse zu geben. Von so einem Umfeld profitiert eigentlich jeder. Und da sehe ich die Unternehmen sogar in einer gewissen Verantwortung, hier ein Vorbild zu geben. N e u m a n n : Kreativ und innovativ zu sein, bedeutet ja auch, sich immer wieder aus der eigenen Komfortzone herauszubewegen. Festzustellen, dass ein Künstler da etwas ganz anders macht und dass ich das vielleicht nicht verstehe und dass ich es anfangs manchmal sogar furchtbar finde. Beim dritten oder vierten Betrachten beginne ich vielleicht, das Werk mit anderen Augen zu sehen. Ich suche gar nicht so sehr nach einer Erklärung: Die sinnliche Wahrnehmung, die Veränderung des Blickwinkels, die sind essentiell. Bezogen auf die Lösung un ternehmerischer Probleme sehe ich starke Parallelen: Ich betrachte eine Herausforderung aus unterschiedlichen Blickwinkeln und finde dadurch eine Lösung. Hollein:
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„ Wenn wir nicht mit Unternehmen zusammenarbeiten würden, wären wir viel abhängiger.“
Genau das gilt es zu lernen. Aus dem eigenen Mikrokosmos herauszutreten, zu reflektieren, zu adjustieren und Dinge neu zu sehen – Kunst schafft das, und Berlin hat da natürlich eine besonders lebendige Szene. Da treffen Sie mit jungen Künstlern zusammen, die brennen für ihre Arbeit. Denen ist egal, wie sie leben. Diese Passion zu erleben, beeinflusst mich als Person, und es beeinflusst auch unser Unternehmen. H o l l e i n : Wir arbeiten in unseren drei Häusern sehr eng mit vielen Unternehmen zusammen, die sich für uns und die Kunst engagieren. Den Unternehmen ist inzwischen klar, dass die Unterstützung und Förderung von Museen, Ausstellungen und anderen hochkarätigen kulturellen Veranstaltungen ein wertvolles Marketinginstrument ist, das ihr Profil schärfen kann, und sie nutzen es gern. Ich sehe in dieser Einstellung auch überhaupt nichts Anrü chiges, denn alle Seiten profitieren davon. Wir bekennen uns selbst ganz offen dazu, dass wir im Sponsoring tatsächlich ein Geschäft sehen; aber keines zwischen der Kunst und dem Sponsor, sondern ein Geschäft zwischen der kulturellen Institution und dem Sponsor. Wir nehmen das Geld von den Unternehmen gerne, aber das ist erst der Anfang. Wir schlagen den Unternehmen oft die entsprechenden Kampagnen oder Marketingschritte vor, oder wir gestalten sie sogar komplett. Und wir sind sogar noch mehr daran interessiert, die Plattformen des Unternehmens zu nutzen, um für eine Ausstellung oder unsere Häuser zu werben. N e u m a n n : Könnten Sie ein Beispiel nennen? H o l l e i n : Die Biomarktkette Alnatura wirbt zum Beispiel bei großen Ausstellungen in ihren Filialen für uns – jeder Kunde erhält als Give-away einen kleinen Katalog. Umgekehrt ist Alnatura in unseren Häusern aber namentlich nicht als Sponsor präsent. Oder wenn die Commerzbank uns unterstützt, dann nutzen wir deren Kanäle, um in einer originellen Form auf unsere Ausstellung hinzuweisen. Wir sehen Sponsoring als Leistung auf Gegenseitigkeit, aber auch als Chance für uns, neue Formen der Kommunikation zu entwickeln. Das ist auch für die Unternehmen viel interessanter als das bisher übliche Placement ihres Logos auf einem Ausstellungsbanner oder im Katalog, das meist nicht sehr effizient ist. Wenn wir mit unseren Konzepten auf den Plattformen des Unternehmens präsent sind, ist das ist eine viel wirksamere Form des Imagetransfers. 66
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Ich kann das auch für unser Unternehmen sagen oder für die National galerie, für die ich mich im Verein der Freunde engagiere: Dieser klassische Sponsorship-Ansatz: „Was bekomme ich dafür und wie rechnet sich das?“, der funktioniert schon lange nicht mehr. Das war vielleicht mal eine Zeitlang möglich, weil die Marketingabteilungen in den Unternehmen vergleichen können wollten, ob es sich zum Beispiel eher lohnt, Sport- oder Kultursponsoring zu machen. Wir stellen zum Beispiel für die Nationalgalerie fest, dass unsere Sponsoren uns inzwischen ziemlich freie Hand bei der Wahl der Mittel lassen. Denn wenn ein Unternehmen sich mit Kultursponsoring beschäftigt, dann hat das eine langfristige Dimension. Wir brauchen diese gesellschaftspolitische Selbstverpflichtung zum Engagement für die Kunst und die zweckungebundenen Räume, die man auch in die Unternehmen hineinholen kann. Dafür sind Ihre neuen Kommunikationsstrategien ein gutes Beispiel. Sie erweitern damit im Prinzip den Kunstbereich. H o l l e i n : Entscheidend für mich ist, dass wir unabhängig von äußeren Einflüssen und finanziellen Bedingungen die Ausstellungen machen können, die wir wollen. Unser Zugang ist – und so sprechen wir auch die Sponsoren an –, dass wir ausgehend von unserem Programm sehr genau schauen, was zu einem bestimmten Unternehmen im Rahmen seiner Strategie passen könnte, etwa um bestimmte Zielgruppen anzusprechen. Da sehen wir uns durchaus als Dienstleister. Das heißt aber nicht, dass das die Art von Kunst, die wir präsentieren, beeinflusst. Die drei Häuser, die ich in Frankfurt leite, sind sehr unterschiedlich strukturiert: Die Schirn ist eine städtische GmbH, das Städel ist eine private Stiftung und das Liebieghaus ein städtisches Museum. Vom Gesamtbudget des Städels etwa müssen wir jedes Jahr 75 Prozent selbst auftreiben. In Deutschland gibt es auf dem Niveau keine andere Institution, die das schafft. Unsere Strategie dabei war immer, dass wir mit einer sehr großen Anzahl von Unternehmen zusammenarbeiten, nicht mit einem großen Hauptsponsor. Wir können das so besser steuern und haben ganz bewusst zum Beispiel Angebote von Unternehmen ausgeschlagen, die das gesamte Ausstellungsprogramm mit Millionenbeträgen sponsern wollten. Die Kritik, die kulturellen Institutionen seien inzwischen in hohem Maße abhängig von Sponsoren, verfängt nicht. Wir wären viel abhängiger, wenn wir Neumann:
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Der Dialog zwischen Ingeborg Neumann und Max Hollein in der Schirn Kunsthalle Frankfurt wurde begleitet von Michael Ensser (links) und Jörg Ritter, beide Egon Zehnder Berlin, sowie von Ulrike Krause, „Connecting Leaders“.
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nicht mit Unternehmen zusammenarbeiten würden. Natürlich werden wir auch von der Stadt Frankfurt beziehungsweise vom Steuerzahler unterstützt, dafür bin ich auch sehr dankbar. Aber unsere Gesamtstruktur macht uns doch weniger anfällig für politische Stimmungen. Und wie Sie an Städten wie Köln oder Hamburg sehen können, ist die vermeintliche Zuverlässigkeit und Unabhängigkeit sofort weg, wenn gespart werden muss. In unserem Modell sehe ich eine viel bessere Form der Kontinuität und der Planbarkeit. N e u m a n n : Ja, Museumsarbeit muss unabhängig von gesellschaftlichen Strömungen und Etatplanungen funktionieren. Sie müssen Ihr Konzept machen können, unabhängig davon, wie Sie die Ausstellung finanzieren. H o l l e i n : Dabei brauchen wir unbedingt Professionalität und wirtschaftlichen Sachverstand. Denn eine Ausstellung bereiten Sie drei Jahre vor, aber einen Sponsor dafür finden Sie vielleicht erst ein halbes Jahr vor der Eröffnung. Das heißt, ich gehe ein gewisses betriebswirtschaftliches Risiko ein, das ich aber auch einschätzen können muss, um das Haus nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Ich betrachte es als meine kuratorische Aufgabe, für den Künstler oder für die Ausstellung ideale Bedingungen zu schaffen. Ich glaube, dass die kreative Energie eines Künstlers in den Jahren zur Vorbereitung einer Ausstellung nicht davon absorbiert werden sollte, gemeinsam dauernd zu schauen, wo wir das Geld dafür auftreiben. Es ist in Bezug auf den künstlerischen Output eher positiv, wenn Fragen der Finanzierung so wenig wie möglich den kreativen Plan beeinflussen. N e u m a n n : Herr Hollein, Sie haben Ausstellungen mit fantastisch hohen Besucherzahlen gemacht. Bei den Häusern der Nationalgalerie sagen wir, dass Ausgaben und Einnahmen über das Jahr ausgeglichen sein müssen. Bei der RichterAusstellung etwa hatten wir hohe Besucherzahlen. So hatten wir ein Polster, um auch mal weniger populäre Ausstellungen machen zu können. Was denken Sie eigentlich – ist die Zeit der Blockbuster-Ausstellungen vorbei?
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„ Alles Gegebene immer wieder in Frage zu stellen, betrachten wir als Voraussetzung für unsere Zukunftsfähigkeit.“
Die politisch korrekte Antwort lautet: Ja, wir besinnen uns wieder auf die Sammlung. Das wird Ihnen jeder Museumsdirektor zum Amtsantritt sagen. Aber de facto stimmt das nicht. Das haben Sie mit der Richter-Ausstellung ja gerade selbst erfahren. Ich sehe darin auch einen falschen Anspruch. Sagen wir, Sie haben eine große, bedeutende Sammlung alter Meister. Jedes Museum kann sich glücklich schätzen, wenn es über einen derartigen Schatz verfügt, und wir haben auch in den vergangenen Jahren unsere Sammlungen mit großer Sorgfalt und erheblichem Aufwand erweitert. Aber um wirklich das Leben und Wirken der großen Meister der deutschen Renaissance darzustellen, brauchen Sie eine Ausstellung. Nur so können Sie konzeptionell und thematisch die großen Zusammenhänge herstellen, die das Wissen und den Horizont der Museumsbesucher profund erweitern. Ich sehe keine andere Form der Präsentation von Kunst, mit der sich das sonst realisieren ließe. Pro Jahr produzieren wir rund 25 Ausstellungen in unseren drei Häusern. Nur wenige davon sind das, was Sie als Blockbuster bezeichnen würden. Eine Ausstellung ist ja oft die physische Manifestation eines längeren Forschungsprojektes, hat also ein Thema, mit dem wir uns schon seit längerem befassen. Dann machen wir eine Ausstellung daraus und geben der öffentlichen Diskussion darüber neue Impulse. Unsere Nolde-Ausstellung ist ein typisches Beispiel dafür. N e u m a n n : Was mich an den sogenannten Blockbustern stört, ist dieser Eventcha rakter, den die Kunst dadurch bekommt. Da frage ich mich: Wohin führt das? Machen wir nur etwas, um damit möglichst viele Besucher anzulocken, und achten nicht mehr auf die Qualität für die Häuser? Andererseits freut es mich, wenn ich sehe, wie viele junge Leute zu einer Eröffnung in die Häuser der Na tionalgalerie kommen. Denen geht es eher um die Inhalte, die qualitativen Angebote. Man trifft sich dort, um einen Dialog mit der Kunst, mit dem Künstler zu finden, und nicht so sehr, um ein Glas Schampus zu trinken. Hollein:
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Max Hollein Der Kurator und Museumsdirektor gilt als einer der profiliertesten Kulturmanager im deutschsprachigen Raum. Er wurde 1969 in Wien als Sohn des Architekten Hans Hollein geboren. Er studierte Betriebswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Nach dem erfolgreichen Abschluss bei der Studien 1995 zog er nach New York, wo er als Projektleiter für Ausstellungen am Solomon R. Guggenheim Museum arbeitete. Von 1996 bis Ende 2000 folgte eine enge Zusammenarbeit mit Guggenheim-Direktor Thomas Krens, zunächst als „Executive Assistant to the Director“ und ab 1998 als „Chief of Staff and Manager of European Relations“. Als Direktor der Schirn Kunsthalle kam Hollein 2001 nach Frankfurt am Main. Seit 2006 ist er zusätzlich Direktor des Städel Museums und der Liebieghaus Skulpturensammlung. Die Schirn zählt seit Jahren zu den meistbesuchten Kunstinstitutionen der Rhein-Main-Region. Im Städel hat Max Hollein seit Beginn seiner Tätigkeit zahl reiche neue Ausstellungsformate eingeführt, von kleinen, ausgewählten Kabinettaus stellungen bis zu bedeutenden Überblicksschauen. Die große, international viel beachtete Ausstellung „Botticelli“ war mit 367.000 Besuchern die mit Abstand erfolgreichste in der Geschichte des Städels. Unter Holleins Ägide wurde auch die größte bauliche Erweiterung des Museums realisiert. Auch die Liebieghaus Skulpturensamm lung wurde unter der Leitung von Max Hollein völlig neu gestaltet. Hollein ist Mitglied in verschiedenen Jurys und Beratungsgremien. Er verfasste vielfältige Publikationen und Vorträge zur zeitgenössischen Kunst sowie zum Museumswesen. Der „Manager, Macher, Motivator, Markenpromotor“ (Focus) lebt mit seiner Familie in Frankfurt. 72
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Wir leben in einer Zeit – und das ist hoffentlich nicht mehr umkehrbar –, in der Kunst wirklich im Mittelpunkt der Gesellschaft angekommen ist, gerade zeitgenössische Kunst. Das ist ja auch ein Resultat der Dichte an kulturellen Einrichtungen, insbesondere hier in Deutschland, und ihrer Arbeit. Wir setzen uns dafür ein, diese Begeisterung nicht nur weiter zu erzeugen, sondern auch neue Möglichkeiten zu finden, Inhalte zu vermitteln. In unsere Dürer-Ausstellung kamen zum Beispiel 25 Prozent der Besucher mit Online-Tickets. Wir wussten also ganz genau, wer kommt, und wann er kommt. Bei der nächsten großen Ausstellung wollen wir diesen Leuten vorab einen digitalen Kurs auf ihr Notebook oder ihr Smartphone schicken, mit dem sie sich, wenn sie mögen, auf die Ausstellung vorbereiten können. Wir stellen fest, dass die Besucher mit sehr unterschiedlichen Kenntnisständen kommen. Also müssen wir unsere Kommunikation in dieser Richtung segmentieren. Museen wird ja oft vorgeworfen, dass sie zu wissenschaftlich seien, dass sie anderseits aber auch zur Event-Institution verkommen. Beides stimmt nicht. Es liegt vielmehr daran, dass Museen sich bis her meist nur sehr eindimensional an ein sehr vielschichtiges Publikum gewandt haben. Wir müssen stärker differenzieren und uns mit unterschiedlichen An geboten an die verschiedenen Zielgruppen wenden. In der Vergangenheit kauften nur fünf Prozent unserer Besucher einen Katalog. Inzwischen erreichen wir bei großen Ausstellungen mit fünf verschiedenen Publikationen, zum Beispiel einem Einführungskatalog, dem wissenschaftlichen Ausstellungskatalog, einem Audiobuch und teilweise digitalen Angeboten eine deutlich höhere Reichweite bei unseren Besuchern. N e u m a n n : Sie haben eben mit der Digitalisierung ein wichtiges Stichwort gegeben, das ja auch die Wirtschaft derzeit stark beschäftigt. Die Digitalisierung wird die Unternehmen intern, aber auch in ihren Beziehungen untereinander vollkommen verändern. Es zeigt sich schon jetzt, dass herkömmliche Geschäfts modelle obsolet werden, dass Märkte verschwinden und neue entstehen, sich die Beziehungen der Unternehmen zu ihren Lieferanten und Kunden stark wandeln. Wir erwarten in den kommenden Jahren nichts weniger als die vierte industrielle Revolution. Wie sehen Sie das im kulturellen Bereich: Wird die Digitalisierung auch das „Geschäftsmodell“ der Museen verändern? Eröffnen sich Ihnen nicht große Potenziale zur Inklusion ganz neuer Zielgruppen? Oder geht kein Mensch mehr ins Museum, wenn er sich jederzeit Kunstwerke aus aller Welt auf den heimischen Computer herunterladen kann? Hollein:
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Das Museum und seine Aufgaben hören bei uns nicht mit dem Perimeter des Gebäudes auf, vielmehr reichen unsere Aufgaben im Bereich Bildung und Vermittlung weit darüber hinaus. Je mehr Sie die Gesellschaft auffordern, Sie zu unterstützen, desto mehr wird die Gesellschaft auch zurückfragen: Was ist eigentlich deine Leistung? Und um diese Bildungsaufgaben zu erfüllen, wird der digitale Raum für uns künftig ganz wichtig sein. Wir wollen es zum Beispiel auf keinen Fall kommerziellen Anbietern überlassen, die grundlegenden digi talen Kunstbücher der Zukunft zu gestalten oder die neuen Online-Kurse für Kunstgeschichte zu erstellen. Dazu ist doch ein Museum mit seinen Exponaten und seiner Expertise prädestiniert. Das heißt zugleich auch, dass wir die digi tale Erweiterung des Museums keinesfalls nur als Marketing- und PR-Instrument verstehen. Für mich ist die Frage: Wollen wir die Digitalisierung der deutschen Kunstgeschichte amerikanischen Medienunternehmen überlassen, oder wäre es nicht logisch, dass ein großes deutsches Museum das mit Stiftungsgeldern übernimmt? N e u m a n n : Viele Unternehmen haben in den vergangenen Jahren bereits intensive Erfahrungen mit der Online-Ansprache ihrer Kunden gemacht. Globale Anbieter wie Amazon wissen inzwischen aufgrund der Datendichte ziemlich genau über die Vorlieben und Lesegewohnheiten jedes einzelnen Kunden Bescheid und machen ihm kontinuierlich entsprechende Angebote. Da haben Sie als Kulturinstitution sicher einigen Nachholbedarf. H o l l e i n : Daran arbeiten wir intensiv. Die digitalen Möglichkeiten erlauben uns ja auch eine ganz andere Form der Skalierung. Digitale Vorabkurse zu Ausstellungen, Kurse in Kunstgeschichte, Online-Akademien, das alles bietet uns natürlich künftig ganz andere Möglichkeiten, unsere Qualität, unser Wissen weiterzugeben. Wir publizieren seit Jahren ein digitales Kunstmagazin, völlig unab hängig von unseren Ausstellungen. Das ist für viele oft die erste Berührung mit der Frankfurter Kunstszene. Ein anderes Projekt ist ein eigener Videokanal, auf dem wir die Künstler in Tiefeninterviews vor ihren Werken aufnehmen und die Clips öffentlich zur Verfügung stellen. Wir haben gerade in Deutschland eine Generation von Künstlern, die die internationale Kunstszene entscheidend prägen. In 20, 30 Jahren wird es darauf ankommen: Wer hat das Material über diese Persönlichkeiten?
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„ Wir wollen neue Denkräume schaffen – und zwar nicht gebunden an einen bestimmten Zweck.“ 76
Auch wenn gerade Urheberrechtsfragen einer der am heftigsten diskutierten Komplexe in der vernetzten Welt sind, bin ich persönlich davon überzeugt, dass Content sehr wertvoll ist und bleiben wird. Könnte bei der Vorbereitung des digitalen Zeitalters nicht auch eine stärkere Vernetzung der Museen untereinander helfen? H o l l e i n : Wir kooperieren sehr stark mit internationalen Häusern, ich bin zum Beispiel eng verbunden mit meinen Kollegen im Pariser Louvre und im Metropolitan Museum in New York. Wir arbeiten jetzt gerade an einem komplexen Projekt über das 3D-Scanning von Skulpturen mit dem Fraunhofer-Institut zusammen. Manches müssen wir aber erst einmal allein machen, wohl wissend, dass das wahrscheinlich in fünf Jahren überholt ist. Wir wären vollkommen realitätsfern, wenn wir glaubten, die digitale Präsentation von Kunst allein zu beherrschen. Aber wir sollten allemal eine Vorreiterrolle spielen. N e u m a n n : Darin kann ich Sie nur bestärken. Es gibt, was diese Fragen angeht, zu viele Bedenkenträger gerade im Kulturbetrieb. Wir in der Industrie überlegen ja auch gerade: Was müssen wir tun, damit uns die Digitalisierung nicht überrennt? Wenn zum Beispiel neue, innovative Produkte nicht mehr nur in Firmen entwickelt werden, sondern im Grunde auch Privatleute online Zugriff auf industrielle Fertigungsverfahren haben, mit denen sie ihre Ideen umsetzen können, dann müssen sich etablierte Unternehmen überlegen, was das für ihren Innovationsprozess bedeutet und wie sie solche Ideen in die eigene Organisation in tegrieren können. Die Digitalisierung verändert unser Leben in allen Bereichen, davon bin ich überzeugt. H o l l e i n : Wir lernen dabei von den Unternehmen. Denn die große Revolution steht ja erst bevor, nämlich dann, wenn digitale Bücher beispielsweise zu bildge triebenen werden. Skulpturen, Bilder, die nicht nur ein Foto zeigen, sondern animiert sind, ein Buch über Jeff Koons etwa, in dem man seine Skulpturen dreidimensional anschauen kann. Eine Monografie von Gerhard Richter, bei der Sie jedes Jahr die Updates seiner neuen Bilder zugeschickt bekommen und so weiter. Fantastische Möglichkeiten! N e u m a n n : Aber all das sollte nur dazu verhelfen, die Menschen ins Museum zu bringen, denn die Aura des Originals, die lässt sich nicht digitalisieren und replizieren. Das ist einfach das, was immer noch fasziniert und was dann wirklich die Veränderung im Kopf stattfinden lässt. Neumann:
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„ Wir leben in einer Zeit, in der Kunst wirklich im Mittelpunkt der Gesellschaft angekommen ist.“
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Greenpeace
Aufsichtsrat
Greenpeace-Chef Kumi Naidoo und Hans Wijers, früherer CEO von Akzo Nobel und Multi-Aufsichtsrat, über den langen Weg, den Umwelt- und Klimaschutz noch vor sich haben, neue Netzwerke zwischen Wirtschaft und NGOs sowie ein weltweit gerecht ausbalanciertes Verhältnis von ökologischen, sozialen und ökonomischen Ansprüchen.
H a n s W i j e r s (links) Multi-Aufsichtsrat K u m i N a i d o o (rechts) Executive Director, Greenpeace
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Die Natur lässt nicht mit sich feilschen. Auf diesen kurzen Nenner bringt Greenpeace-Chef Kumi Naidoo die akute Notwendigkeit zum Handeln in Sachen Umwelt- und Klimaschutz. Mit Hans Wijers, dem früheren CEO von AkzoNobel und Mitglied zahlreicher Aufsichtsräte, war sich der Südafrikaner Naidoo grundsätzlich einig darin, dass die beispiellose Herausforderung, die Lebensgrundlage der gesamten Menschheit zu erhalten, einen gemeinsamen Kraftakt aller Beteiligten erfordert – eingeschlossen eine neue Stufe der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Umweltschutzorganisationen. Noch aber sind mehr Hindernisse zu überwinden als Erfolge zu verzeichnen. So diskutierten Naidoo und Wijers im Büro von Egon Zehnder in Amsterdam darüber, warum die Kurzfristorientierung der Wirtschaft so gefährlich ist, wenn es darum geht, langfristige Probleme wie den Klimawandel zu lösen, und warum Unternehmen und Umweltschützer nicht auf politische Lösungen warten können. Und dass viele kleine praktische Schritte am Ende mehr bringen könnten als das Warten auf den einen großen Durchbruch. Klimaschutz, so Wijers, müsse eine Massenbewegung werden.
Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass wir hier zusammensitzen, um über die Chancen für mehr Kooperation zwischen Industrie und Umweltschutzorganisationen zu diskutieren? Ich glaube, vor 15 oder 20 Jahren wäre ein solches Gespräch nicht vorstellbar gewesen. K u m i N a i d o o : Das ist sicher richtig. Allerdings war die Dimension der Herausfor derung, vor der die Menschheit angesichts des Klimawandels steht, damals auch noch nicht absehbar. Über eines sollten wir uns auf jeden Fall einig sein: Wir diskutieren hier nicht über die Rettung des Planeten Erde. Die Erde bedarf keiner Rettung. Selbst wenn die Menschheit den verhängnisvollen Weg weiter beschreitet, den sie eingeschlagen hat, wird die Erde fortbestehen – wenn auch reichlich in Mitleidenschaft gezogen. Aber ohne uns Menschen dürfte sie bessere Chancen haben, sich wieder zu erholen. Wenn wir also von Klimaschutz sprechen, reden wir darüber, ob unsere Kinder und Enkel auf diesem Planeten noch eine lebenswerte Zukunft haben. Das Ausmaß der Herausforderung durch den Klimawandel ist derart gewaltig, dass weder Wirtschaft noch Politik noch Zivilgesellschaft allein eine Lösung finden können. Was wir benötigen, ist eine konzertierte Kraftanstrengung, über alle Grenzen und Interessengegensätze hinweg. Dass wir hier gemeinsam darüber nachdenken, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. W i j e r s : Da bin ich völlig Ihrer Meinung. Das Problem ist, dass die bisherigen poli tischen Institutionen auf internationaler Ebene nicht ausreichen, um Probleme dieser Größenordnung erfolgreich zu lösen. Fortschritte lassen sich, wenn überhaupt, nur sehr langsam erzielen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, mit dieser Hans Wijers:
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Kumi Naidoo
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Situation umzugehen. Wir können uns beklagen und sagen: „Es ist aussichtslos, wir schaffen das nicht!“ Oder wir versuchen, Netzwerke zwischen den verschiedenen Akteuren und Interessengruppen aufzubauen und Lösungen zu finden, die allen Beteiligten zugutekommen. Wenn wir dasitzen und darauf warten, dass es auf der großen politischen Ebene weitergeht, verlieren wir zu viel Zeit. Meines Erachtens sind viele Unternehmen sich dessen bewusst und stellen Überlegungen in diese Richtung an, und ich glaube, bei den NGOs ist es ähnlich. Doch im Grunde stehen wir noch ganz am Anfang. N a i d o o : Wir sprechen über einen langen Weg, das sehe ich genauso wie Sie. Wenn man mich fragt, wie es derzeit um Greenpeace bestellt ist, lautet meine ehrliche Antwort: „Wir gewinnen einige wichtige Schlachten, aber wir sind drauf und dran, den Krieg zu verlieren.“ Natürlich ist das Klima nicht das einzige Thema in Bezug auf Nachhaltigkeit, das uns Sorgen bereitet, aber wenn wir das Klima problem nicht wirksam angehen, können wir uns alle anderen Debatten sparen. Sicher haben Sie Recht damit, dass die Wirtschaft in gewisser Hinsicht von der politischen Führung im Stich gelassen wurde – und das hat wiederum etwas mit den Mängeln im System globaler politischer Entscheidungen zu tun. Die andere Seite der Medaille will ich aber hier nicht verschweigen: Es gibt, vor allem in den Vereinigten Staaten, eine Gruppe von Unternehmen, die nach wie vor aggressiv Front dagegen macht, dass die Regierung beim Klimaschutz eine Führungsrolle einnimmt. W i j e r s : Aus der Perspektive der Wirtschaft betrachtet, befinden sich die Unternehmen auf sehr unterschiedlichen Etappen jener langen Reise. Wenn ich sage, dass wir noch am Anfang stehen, dann meine ich das in Bezug auf die enormen Herausforderungen, die vor uns liegen. N a i d o o : Wenn ich mir die Haltung der Wirtschaft zu diesem Thema anschaue, dann sehe ich ein breites Spektrum: Rund zehn Prozent der Unternehmensführer und Topmanager haben tatsächlich erkannt, dass tiefgreifende Veränderungen nötig sind. Am anderen Ende der Skala finden sich die zehn bis 15 Prozent, die nach wie vor die Augen vor der Wahrheit verschließen und versuchen, Fortschritte zu blockieren. Die Mehrheit der Entscheider befindet sich zwischen diesen Polen: Sie haben zwar verstanden, dass auch ihr Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit gefordert ist, aber sie verweisen immer noch gern auf das Versagen der Politik, auf den Mangel an eindeutigen gesetzlichen Vorgaben – als Entschuldi gung dafür, selbst nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen zu haben.
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Wenn unsere Regierungen den politischen Willen aufbrächten, einen Preis für Kohlendioxidemissionen festzulegen und damit ein deutliches Signal an die Märkte zu senden, könnten die Unternehmen tatsächlich anfangen, verlässlich für die Zukunft zu planen. Im Moment bleibt den Führungsspitzen der Wirtschaft doch nichts anderes übrig, als zu mutmaßen, wie lange die Verhandlungen sich hinziehen und wie schnell der Übergang von fossilen Brennstoffen zu sauberer Energie vonstattengehen wird. Das Problem besteht nicht nur darin, dass der vor uns liegende Weg sehr lang ist, sondern darin, dass die Mehrheit der Führungskräfte in Politik und Wirtschaft noch immer unter einer schweren Form kognitiver Dissonanz leidet. Das Ergebnis sehen wir: Obwohl längst alle Fakten auf dem Tisch liegen, läuft uns die Zeit davon. W i j e r s : Der Manager eines globalen Konzerns, der mit amerikanischen Unternehmen konkurriert, die mit Hilfe billiger Kohle produzieren, steht vor einem großen Dilemma. Natürlich könnte der CEO sagen: „Wir nutzen nur Wind- und Solarenergie; Kohle, Öl und Gas sind tabu!“ Allerdings würde er damit das Unternehmen vermutlich in den Ruin führen – und jeglicher Möglichkeit berauben, auch nur den kleinsten Fortschritt an der Klimafront zu erzielen. Zudem müssen bestimmte institutionelle Fragen geklärt werden, um die Voraussetzungen für weitreichende Änderungen zu schaffen. Natürlich stehen beispielsweise die
Kumi Naidoo leitet seit 2009 die weltweiten Aktivitäten der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Er ist der erste Afrikaner (indischer Abstammung) an der Spitze von Greenpeace und der erste Greenpeace-Chef, der als „Außenseiter“, also nicht nach einer langjährigen „Greenpeace-Karriere“, an die Spitze der Organisation kommt. Naidoo, geboren 1965 im südafrikanischen Durban, engagierte sich seit früher Jugend in der Anti-ApartheidBewegung und wurde mehrmals inhaftiert, unter anderem wegen zivilen Ungehorsams. Um weiteren Verhaftungen zu entgehen, musste er 1987 ins Exil nach England gehen. Dort erhielt er ein Stipendium an der Oxford University, wo er in Politischer Soziologie promovierte. Nach dem Ende der Apartheid leitete Naidoo verschiedene globale Kampagnen gegen Armut und für den Schutz der Menschenrechte. Naidoos Amtsantritt bei Greenpeace fiel in eine Zeit der notwendigen Neuausrichtung für die Orga nisation. Die einst gerühmte Kampfkraft, so schien es, hatte nachgelassen. Naidoo will Greenpeace, anstatt in den alten „Kampf-Modus“ zurückzufallen, stärker dem Mainstream öffnen, die globale Relevanz der Organisation gegenüber Politik und Wirtschaft stärken und eine neue Dimension des Massenprotests erreichen. Einen deutlichen Kurswechsel markiert Naidoos Bereitschaft zu Kooperationen mit der Industrie. Ihm geht es darum, insbesondere die großen Konzerne als Partner im Kampf gegen den Klimawandel zu gewinnen. Die Zusammenarbeit mit der Industrie sieht Naidoo als Mittel zum Zweck, nicht als Traumpartnerschaft: „Wenn mir jemand sagen könnte, wie wir unser Ziel erreichen, ohne die Unternehmen an Bord zu holen, dann würden wir uns dafür entscheiden. In den Kooperationen mit der Wirtschaft muss es darum gehen, das eingefahrene Denken der dortigen Entscheider zu destabilisieren.“ Naidoo hat eine 22-jährige Tochter, die in England lebt. 86
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Kumi Naidoo
„ Das Ausmaß des Klimawandels ist derart gewaltig, dass weder Wirtschaft noch Politik noch Zivilgesellschaft allein eine Lösung finden können.“
Dominique Laffy, Egon Zehnder London, und Bart Blommers, Egon Zehnder Amsterdam, trafen Kumi Naidoo und Hans Wijers in Amsterdam.
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Hans Wijers
An diesem Gespräch hier nehme ich auch als Afrikaner teil, als Vertreter eines sich entwickelnden Teils der Welt. Für uns stellt sich beim Thema Klima ganz zentral auch die Frage der Gerechtigkeit: Die Menschen in den Entwicklungsländern tragen am wenigsten Verantwortung für die Klimakatastrophe, aber sie bezahlen den höchsten und brutalsten Preis. Für mich war das der Hauptgrund, warum ich der Umweltbewegung beigetreten bin. Es ist absolut unabdingbar, dass wir ökologische, soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit in Einklang bringen. Und es gibt noch einen weiteren wichtigen Faktor, das ist die Bildung. Die Art von Bildung, die wir jetzt benötigen, sollte auch die Erkenntnis vermitteln, dass sich bestimmte Dinge letztlich unserer Kontrolle entziehen. Lassen Sie es mich ganz deutlich sagen: Wir müssen einsehen, dass die Natur nicht mit sich feilschen lässt. W i j e r s : Das ist sehr schön ausgedrückt. N a i d o o : Wir brauchen hier und heute einen grundlegend neuen Bildungsansatz. Ich selbst habe lange in der Erwachsenenbildung gearbeitet und eine meiner größten Sorgen in Bezug auf Bildung besteht darin, dass sie hauptsächlich versucht, Menschen zu erziehen, in einer „unangepassten“ Welt zu überleben und sich ihr anzupassen. Menschen, die sich nicht in die Gesellschaft einfügen, werden häufig als „unangepasst“ bezeichnet. Ich möchte hier Martin Luther King zitieren: „Ich will unangepasst sein. Ich will mich nicht anpassen an die Tyrannei des Rassismus, die Tyrannei der Ungleichheit.“ Wir müssen ein entscheidendes Element in die Bildung einbringen: kritisches, unangepasstes Denken. Das ist ein dringendes Anliegen – denn uns gehen, ganz unverblümt gesagt, die Ideen aus und wir haben für viele Probleme, die sich vor uns auftürmen, einfach keine Lösungen. W i j e r s : Ich glaube, dass es ein großer Fehler ist, dass so viel über die Konsequenzen des Nichtstuns gepredigt wird und dass man darüber die Entwicklung prak tikabler, sinnvoller kurz- und mittelfristiger Lösungen vernachlässigt. Selbstverständlich befürwortet heutzutage jeder Wind- und Solarenergie, aber diese Energiequellen sind immer noch vergleichsweise teuer. Auf lange Sicht, wenn der Economies-of-scale-Effekt greift, wird sich dieses Problem nicht mehr stellen, aber bis dahin werden wohl noch 20 oder 30 Jahre vergehen. So lange sollten wir pragmatisch vorgehen und mittelfristig sinnvolle Lösungen finden. Die mögen vielleicht nicht so „sexy“ oder so faszinierend sein wie radikale Ansätze oder ein groß angelegter Masterplan, doch sie werden etwas in Bewegung bringen, ohne gleich die Wirtschaftlichkeit oder gar die Existenz vieler Unternehmern zu gefährden. Arbeit und Einkommen liegen den Menschen nun einmal besonders am Herzen. Naidoo:
„ Ich glaube, vor 15 oder 20 Jahren wäre ein solches Gespräch nicht vorstellbar gewesen.“
Technologien der regenerativen Energieerzeugung heute in weit größerem Umfang zur Verfügung als noch vor wenigen Jahren, aber der Strom aus Wind und Sonne ist, trotz aller Fortschritte, immer noch deutlich teurer als der aus Kohle. Ein Unternehmensvorstand, der für das Wohl von Tausenden von Mitarbeitern verantwortlich ist, kann das nicht außer Acht lassen. Im Ergebnis haben diese Energien noch nicht den durchschlagenden Effekt auf die Klimabilanz, den wir uns wünschen. Der Gedanke führt uns wieder zurück zur Politik. Auch wenn es banal klingt – in unseren demokratischen Systemen bekommen wir letztlich die Regierungen, die wir verdienen. Und die Mehrheit der Wähler ist in ihrer Interessenlage nun einmal eher kurzfristig orientiert. Der Klimawandel stand einmal ganz oben auf der Tagesordnung – das war vor der Finanzkrise. Inzwischen machen sich die Menschen weitaus mehr Sorgen um Renten, die Gesundheitsfürsorge und den Erhalt ihres Arbeitsplatzes. Wenn wir nicht aufpassen, geraten wir in einen Teufelskreis und wundern uns, dass wir immer wieder vor den gleichen ungelösten Fragen stehen. N a i d o o : Das sehe ich ganz genauso. Aber warum ist es nur so schwierig, ein Gefühl für die Dringlichkeit zu erzeugen? Sicher hat es damit zu tun, dass es schwierig ist, Kausalitäten zu vermitteln. Man kann Phänomene wie die langfristigen Wetterveränderungen in Großbritannien, die Dürre in Kalifornien oder Hurrikan Sandy nicht so einfach mit 100-prozentiger Sicherheit auf den Klimawandel zurückführen – selbst wenn die Zusammenhänge unter Wissenschaftlern mittlerweile kaum noch bezweifelt werden. Die wissenschaftliche Klimadebatte ist derart komplex, dass der Normalbürger davon mehr oder weniger ausgeschlossen bleibt. Als ich kaum einen Monat nach meinem Antritt bei Greenpeace an meinen ersten Klimaverhandlungen in Kopenhagen teilnahm, habe ich schätzungsweise 80 Prozent der dort verwendeten Abkürzungen und Fachtermini nicht verstanden. Die meisten derer, die diesen Kampf führen, kommunizieren in einer Art und Weise, die der Mehrheit der Menschen außerhalb des Verhandlungssaales nicht zugänglich ist – und das, obwohl wir doch viel mehr Menschen ermuntern müssten, an dieser Diskussion teilzunehmen. W i j e r s : Ob uns das nun gefällt oder nicht – letztlich benötigen Veränderungen die Unterstützung der Massen. Andernfalls sind wir chancenlos. 90
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Ich habe überhaupt nichts gegen kleine, pragmatische Schritte. Doch Unternehmen, die jetzt nicht weitreichende, fundamentale Änderungen vornehmen, schaden damit nicht nur der Gesellschaft und der Umwelt, sondern sie bleiben auf einem Pfad, der in den ökonomischen Selbstmord führt. Nur wer jetzt in die Zukunft investiert und seine Prozesse von Grund auf umorganisiert, wird auf lange Sicht überleben. Hier beobachte ich noch viel Attentismus. Viele Unternehmen werden ihre Geschäftsstrategien erst anpassen, wenn es längst zu spät ist. Sie werden dafür einen hohen Preis zahlen. W i j e r s : Als ich meine Aufgabe bei AkzoNobel übernahm und versuchte, das Thema Nachhaltigkeit zur Sprache zu bringen, rannte ich zunächst gegen eine Mauer. Große Skepsis schlug mir entgegen. Die verbreitete Einstellung war, dass hier ein neuer CEO seinen Stempel aufdrücken wollte, indem er ein paar eigene Themen setzt und hübsche Broschüren dazu drucken lässt. Wenn ich jedoch unsere Betriebe besuchte, erhielt ich einen ganz anderen Eindruck. Dort berichteten mir die Mitarbeiter voller Stolz von den vielen kleinen und großen Einzelmaßnahmen, die sie in Labors, Fabriken oder in der Logistik auf den Weg gebracht hatten – Initiativen, die schon etwas bewirkten, kleine pragmatische Schritte der Veränderung. „Was für eine seltsame Diskrepanz!“, dachte ich mir und beschloss, Naidoo:
Hans Wijers, geb. 1951 im niederländischen Oostburg, zählt zu den politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich versierten Multitalenten seines Landes. Nach einem Studium der Wirtschaftswissenschaften und der Promotion über Industriepolitik arbeitete er von 1982 bis 1984 als Beamter im Ministerium für Arbeit und Soziales sowie im Wirtschaftsministerium. Nach einer Tätigkeit als Unternehmensberater wurde Wijers 1994 von dem Sozialdemokraten Wim Kok zum Wirtschaftsminister berufen. Er machte sich einen Namen als Modernisierer, der verkrustete Strukturen aufbricht. Nach einer Legislaturperiode entschied er sich für eine Rückkehr in die Consultingbranche. 2003 sattelte Wijers abermals um und übernahm die Position des CEO beim niederländischen Chemie- und Pharmakonzern AkzoNobel. Unter seiner Ägide entwickelte sich der Mischkonzern zum lupenreinen Chemieunternehmen und weltweit größten Farbenhersteller. Den Vorstandsvorsitz behielt Wijers bis zu seinem Abschied im April 2012. Neben seiner Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender und Minister war Wijers stets in Aufsichtsräten sowie ehrenamtlich aktiv, unter anderem als Präsident des World Wildlife Fund (WWF) Holland, als Non-Executive Director von Royal Dutch Shell und Aufsichtsratschef von Ajax Amsterdam. Seit dem vergangenen Jahr leitet er den Aufsichtsrat von Heineken, dem drittgrößten Brauereikonzern der Welt. Beobachter beschreiben den in Politik und Wirtschaft bestens vernetzten Manager als „gewieften Taktiker“, der stets freundlich, humorvoll und jovial auftritt. Wijers, der sich für Fußball, Musik und Kunst begeistert, lebt in Amsterdam. Mit seiner Frau, der Gynäkologin Edith A. Sijmons, hat er zwei gemeinsame Kinder (19 und 21 Jahre alt). 93
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auf diesen Stolz und diese Leidenschaft zu bauen. Ich wollte diese Erfolgsgeschichten bis in die letzten Winkel des Unternehmens hinein kommunizieren. Meine Hoffnung war, dass diese positiven Beispiele wiederum an anderer Stelle Ver änderungen anstoßen und Impulse in Sachen Nachhaltigkeit auslösen würden. N a i d o o : Es ging Ihnen also darum, die Kräfte, die Veränderung bewirken sollen, von der Basis her aufzubauen? W i j e r s : Ganz genau. Ich trommelte eine kleine Gruppe zusammen und sagte: „Wir werden ein Buch herausgeben, in dem wir all diese positiven Beispiele sammeln. Jeder Mitarbeiter erhält ein Exemplar.“ Als wir das Buch in unseren Betrieben präsentierten, war die Wirkung geradezu greifbar. Die Mitarbeiter verstanden sofort, dass es hier nicht um eine Direktive des Managements ging, sondern um ganz praktische Dinge, die ihre Kollegen anderenorts bereits umgesetzt hatten. Das war ein unglaublicher Ansporn, es ihnen gleichzutun. Mit diesem Projekt ist es uns gelungen, Motivations- und Inspirationsquellen im gesamten Unternehmen zu erschließen. Das hat ausgezeichnet funktioniert. N a i d o o : Wie sind Sie mit jenen umgegangen, die am Sinn dieser Aktion zweifelten? W i j e r s : Ich habe einige der größten Skeptiker aus Vertrieb und Marketing gebeten, mit ihren Kunden einmal über Nachhaltigkeit zu sprechen – sie direkt zu fragen, ob Nachhaltigkeitsthemen für sie wichtig sind oder nicht. Viele dieser Mitar beiter kamen mit einer ganz neuen Perspektive aus diesen Gesprächen zurück; sie begannen, Nachhaltigkeit als Quelle für die Entwicklung neuer Geschäftsideen zu begreifen, also als Chance. N a i d o o : Was Sie erzählen, spiegelt sehr stark auch die derzeitige Entwicklung von Greenpeace wider. Wir befinden uns mitten in einer grundlegenden Umstrukturierung, die unter anderem bedeutet, dass wir unsere Arbeit dezentralisieren, vor allem in Richtung Asien, Afrika und Lateinamerika. Bisher wurden die meisten unserer Aktivitäten vom Hauptsitz in Amsterdam aus gesteuert. Das wird in Zukunft anders sein. Wenn wir ein paar Schlachten in Europa gewinnen, aber in Indien, China, Brasilien oder Indonesien verlieren, werden wir insgesamt scheitern. Sobald die Einkommen in diesen dicht bevölkerten Regionen steigen, werden die Menschen dort Autos und unseren westlichen konsumorientierten Lebensstil einfordern – was desaströse Folgen für unseren Planeten haben wird. Von diesem Jahr an werden wir daher jede globale Greenpeace-Kampagne gemeinsam mit unseren Aktivisten vor Ort entwickeln. W i j e r s : Wir mussten unseren Mitarbeitern vermitteln, dass Nachhaltigkeit nichts Abstraktes ist, sondern dass sie durchaus etwas mit ihrer ganz konkreten Arbeit zu tun hat. Also forderte ich dazu auf, das Thema zunächst von der Kostenseite zu betrachten. Anstatt etwas, das im Produktionsprozess abfällt, wie bisher ein-
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„ NGOs und Unternehmen haben nun einmal unterschiedliche Rollen im Leben. In bestimmten Situationen kann eine Zusammenarbeit jedoch sehr sinnvoll sein.“
fach wegzuwerfen, kann man es möglicherweise wiederverwenden und dadurch zusätzlichen Wert schaffen. Um das umzusetzen, mussten sich die Mit arbeiter nicht mal allzu weit aus ihrer Komfortzone herausbewegen. Aber sie waren natürlich stolz, wenn sie nach einiger Zeit eine Kostenersparnis präsentieren konnten. Wenn es uns gelingt, Menschen auf diese Weise stolz zu machen, wenn sie das Gefühl haben, dass jeder von ihnen einen Beitrag leisten kann, dann beginnen die Veränderungen ihren Lauf zu nehmen. N a i d o o : Ein solcher „Bottom-up“-Ansatz entspricht ganz klar meinen demokratischen Instinkten. Allerdings müssen wir auch realistisch bleiben, vor allem mit Blick auf den Faktor Zeit. Für all jene, die in den vergangenen Jahren durch die Folgen des Klimawandels gestorben sind, ist es bereits zu spät. Wir sprechen inzwischen von rund 500.000 Todesfällen pro Jahr! Auch für manche Pazifikinseln und einige Regionen in Afrika kommen Diskussionen wie diese hier zu spät. Wenn uns die Zeit nicht weiter davonlaufen soll, brauchen wir ergänzend einen „Top-down“-Ansatz, ob es uns gefällt oder nicht. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern. In den Unternehmen mehren sich die Stimmen, die dafür plädieren, mit weniger mehr zu machen. Im Hinblick auf Nachhaltigkeit ist das zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber er reicht absolut nicht aus. Seien wir doch mal brutal ehrlich: Was die Belastbarkeit des Planeten angeht, gibt es nur einen Weg – wir müssen weniger produzieren. Punkt, Ende. Doch anscheinend sperren wir uns dagegen, über unser völlig untragbares Konsumniveau auch nur nachzudenken, geschweige denn substanzielle Abstriche zu machen. Denken wir nur einmal an Chinas neue Elite: Diese Leute geben ihren neu erworbenen Reichtum bevorzugt für PS-starke, teure Autos aus – da steht dann aber nicht eine Luxuskarosse, da stehen fünf oder sechs nebeneinander geparkt. Wenn wir das als Normalität akzeptieren und derartige Konsumexzesse nicht als pathologisch betrachten, haben wir nicht den Hauch einer Chance. Finden Sie nicht, wir müssten uns einmal darüber unterhalten, wie viel Produktion und Konsum dieser Planet tatsächlich aushalten kann? 95
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Hier sind wir vermutlich unterschiedlicher Meinung. Sie haben das zwar nicht so ausgedrückt, aber mir klingt das zu sehr nach zentraler Planung und Steuerung. Niemand will doch ernsthaft eine Rückkehr zu einem Modell im sowjetischen Stil – in dem eine Handvoll Bürokraten entscheidet, was gut ist für das Volk und was nicht. Meiner Ansicht nach sollten wir versuchen, eine neue, auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Definition für Konsum zu finden. Entscheidend ist doch, wie es uns gelingt, den Menschen Gesundheitsfürsorge, Transport, Bildung, Urlaub und Freizeit anzubieten – nämlich so, dass dabei deutlich weniger Energie, Wasser und Rohstoffe verbraucht werden als bisher. Ich bin überzeugt, dass wir das schaffen können. Es gibt Milliarden von Menschen, die von einem komfortablen, sicheren und gesunden Leben träumen. Ich finde, sie haben auch ein Recht darauf. Unser Ziel sollte es nicht sein, ihnen die Erfüllung ihrer Wünsche zu verweigern, sondern ihnen dabei zu helfen, dass diese Wünsche in Erfüllung gehen – natürlich auf nachhaltige Weise. N a i d o o : Das funktioniert aber leider nur, wenn man Druck auf die Unternehmen ausübt – und zwar da, wo sie am empfindlichsten zu treffen sind: bei ihren Kunden. Greenpeace appelliert an die Verbraucher und setzt Druck seitens der Konsumenten ein, um die Unternehmen zum Wandel ihrer Geschäftspraktiken
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zu bewegen – eine Taktik, die im Kampagnen-Jargon als „Brand Attack“ bezeichnet wird und sich als sehr effektiv erwiesen hat. Natürlich denkt fast jeder, der den Namen Greenpeace hört, zunächst an solche Brand Attacks oder an die spektakulären, mitunter auch riskanten Aktionen. Dabei spielen sich 80 Prozent unserer Arbeit weit entfernt von der großen öffentlichen Bühne ab. Da werden Lösungen gesucht, da wird verhandelt – und zwar gemäß einer sehr einfachen Philosophie: „Keine dauerhaften Feinde, keine dauerhaften Verbündeten.“ W i j e r s : Diese Unabhängigkeit ist für Sie vermutlich lebenswichtig: Es wäre sicher sowohl naiv als auch gefährlich für Greenpeace, sich in dauerhafte „strukturelle“ Kooperationen zu begeben – auch mit der Wirtschaft. NGOs und Unternehmen haben nun einmal unterschiedliche Aufgaben und unterschiedliche Rollen im Leben. Wir sollten niemals vergessen, dass wir unterschiedlich ticken. NGOs neigen dazu, ihre Ziele ungeduldiger und vielleicht auch leidenschaftlicher zu verfolgen als Unternehmen, die weniger stark auf ein Ziel fokussiert sind. In bestimmten Situationen kann eine Zusammenarbeit jedoch sehr sinnvoll sein – nämlich immer dann, wenn ein hinreichendes Maß an Konsens über das Ziel eines gemeinsamen Vorgehens besteht. N a i d o o : Voraussetzung für einen Konsens über das Ziel ist ein gleiches oder zumindest ähnliches Maß an Problembewusstsein. Leider ist das eine Eigenschaft, die nach wie vor nicht allzu viele Führungspersönlichkeiten in der Wirtschaft auszeichnet. Wir hatten es kürzlich mit einem großen Einzelhandelsunternehmen zu tun, dessen Wertschöpfung zu großen Teilen auf Fischfang basiert. Ich habe das gesamte Management-Team in unsere Zentrale in Amsterdam eingeladen und dem CEO meine Bedenken dargelegt: Durch die Unterstützung nicht nachhal tiger Fischfangmethoden trägt sein Unternehmen nämlich auf lange Sicht aktiv zum Untergang seiner eigenen Branche bei. Der CEO, der ganz offensichtlich auch noch nie etwas von der Versauerung der Meere gehört hatte – eine Problematik, die wir ihm gerade erläutert hatten –, wandte sich an seinen Vice President für Nachhaltigkeit und fragte: „Ist das mit der Versauerung der Meere wirklich wahr?“ Die Antwort lautete: „Ich fürchte, ja.“ Dann war es ganz still im Raum.
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„ Kooperationen zwischen Industrie und NGOs können nur dann fruchtbar sein, wenn auf beiden Seiten Menschen über den Horizont ihrer Organisation hinausblicken.“
Kooperationen zwischen Industrie und NGOs können meines Erachtens nur dann erfolgreich und fruchtbar sein, wenn die auf beiden Seiten beteiligten Personen die gleichen Standpunkte und Werte teilen. Es müssen Menschen sein, die unternehmerisch denken und die in der Lage sind, über den Horizont ihrer eigenen Organisation hinauszublicken. Manchen Führungskräften, offenbar auch dem CEO, den Sie eben zitiert haben, fehlt dieses breitere Bewusstsein eindeutig. Auch ohne ein gewisses Maß an Offenheit, an kultureller Sensibilität geht es vermutlich nicht. Nicht zuletzt benötigt man für derartige Kooperationen Menschen, die sich darauf verstehen, eine Vertrauensbasis aufzubauen. Mein Partner auf der anderen Seite des Tisches muss darauf vertrauen können, dass ich ernsthaft verhandele und nicht nur versuche, Zeit zu gewinnen. Ich wiederum muss mich darauf verlassen können, dass beispielsweise die Vertraulichkeit während des gesamten Prozesses gewahrt bleibt. N a i d o o : Bei den NGOs ist das ganz ähnlich. Ich würde noch die Bereitschaft zum Risiko hinzufügen. Außerdem sollte, wenn es um eine Partnerschaft zwischen NGOs und Wirtschaft geht, Ehrlichkeit hinsichtlich des natürlichen Machtungleichgewichts herrschen. Wenn es da Illusionen gibt, wird es langfristig kaum gelingen, eine schwierige, komplexe Beziehung zu strukturieren, bei der von Anfang an klar ist, dass es Meinungsverschiedenheiten, Konflikte und Widerspruch geben wird. Allzu häufig funktionieren Kooperationen zwischen Unternehmen und NGOs nicht, weil die Partner dem Irrglauben verhaftet sind, sie seien in jeglicher Hinsicht gleich. Seien wir doch mal ehrlich: Was das Image oder die Unterstützung durch die Öffentlichkeit angeht, sind wir gegenüber einem großen Konzern vielleicht im Vorteil. Aber in puncto Mitarbeiterzahl, Forschungskapazität, Finanzkraft oder Know-how können wir doch mit einem weltweit operierenden Unternehmen nicht konkurrieren. Leider verspüren Menschen oft die eigentümliche Verpflichtung, zu behaupten, dass eine Beziehung perfekt funktioniert, dass man sich sofort ineinander verliebt. So etwas geht fast nie gut. W i j e r s : Letztlich geht es um gegenseitigen Respekt, oder? N a i d o o : Ja, wenn es uns gelingt, Respekt aufzubauen, wird das ein großer Schritt nach vorn sein. Wijers:
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i n d r a  k .
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Jazzlegende
Chairman and CEO
W y n t o n M a r s a l i s (links) Jazztrompeter, Director Jazz at Lincoln Center I n d r a K . N o o y i (rechts) Chairman and CEO, PepsiCo
Der legendäre Jazzmusiker Wynton Marsalis und PepsiCo-Chairman und -CEO Indra K. Nooyi swingen im selben Rhythmus – über Freiheit innerhalb bestimmter Regeln, Authentizität und darüber, weshalb Führungspersönlichkeiten beides sein sollten: brillante Solokünstler und gute Teamplayer.
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Indra K. Nooyi kam als junge Frau aus ihrem Heimatland Indien in die USA. Neben zahlreichen anderen Talenten brachte sie eine scharfe Beobachtungsgabe mit. Die half ihr, die Kultur ihres neuen Umfelds rasch zu verstehen und die Grundlagen für eine Karriere zu legen, die sie an die Spitze des Getränke- und Nahrungsmittelriesen PepsiCo führte. Und weil diese Topmanagerin immer noch sehr genau hinschaut, fiel ihr bei einem Konzert der von ihr bewunderten Jazzlegende Wynton Marsalis etwas ganz Besonderes auf: Marsalis, viele Jahre lang künstlerischer Leiter des Programms Jazz at Lincoln Center, benahm sich in seiner Band nicht wie ein Star, sondern achtete darauf, dass jeder Musiker zu seinem Recht kam und seine Zeit im Rampenlicht hatte. Beide trafen sich an einem schönen Frühlingstag auf der Upper West Side von New York zu einem Gespräch. Es war nicht ihr erstes Zusammen treffen, doch das erste Mal, dass sie über Leadership und deren kreative und inspirierende Elemente reflektierten. Obwohl sich Nooyi und Marsalis in unterschiedlichen beruflichen Welten bewegen und ihre Erfolge nach unterschiedlichen Maßstäben gemessen werden, entdeckten sie ein hohes Maß an Übereinstimmung. Wie ordnet man das eigene Ego den Teaminteressen unter? Was bedeutet es zuzuhören? Sie sprachen darüber, warum für Authentizität Herz, Seele und ein Verständnis der eigenen kulturellen Traditionen notwendig sind und dass „tough love“, also liebevolle Strenge, die Basis für großen beruflichen Erfolg sei … und warum Paranoia auch ihr Gutes hat.
Organisationen werden häufig mit einem Sinfonieorchester verglichen. Aber ich glaube, die besten Unternehmen und Führungsteams ähneln eher einer Jazzcombo. Beim Jazz wird improvisiert. Die Musiker richten ihren Einsatz nach den Mitspielern aus. Es existiert eine Freiheit des Gebens und Nehmens, des Kreativen, der Spontaneität. W y n t o n M a r s a l i s : Die Schönheit der klassischen Musik des Abendlandes liegt darin, dass 65 oder 70 Menschen miteinander im selben Saal sitzen und ohne besonderen Aufwand diejenigen Vorstellungen umsetzen können, die Beethoven hatte. Wenn vorne der Dirigent steht, schaut jeder in dieselbe Partitur. Das Fagott versteht dasselbe wie die Pauke – „das ist in G und mezzoforte“. Jazz ist da weniger zwingend. Er beruht auf der Annahme, dass jeder mitswingen will. Wenn wir alle zusammenarbeiten, swingt die Musik, und wenn wir es nicht tun, dann eben nicht. Um also das gewünschte Ergebnis zu erzielen, muss sich jeder über das Ziel im Klaren sein und in dieselbe Richtung marschieren. I n d r a K . N o o y i :
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In Unternehmen kämpft jeder gegen jeden. Es gibt zu viele Solisten! Mein Eindruck ist, dass die besten Jazzmusiker eine sehr klare Vorstellung von ihrer eigenen Rolle und davon haben, dass sie Teil eines Ganzen sind. Sie wissen: Wenn man dieses Selbstverständnis verliert, ist es unmöglich, als Gruppe zu funktionieren. So gesehen beruht unsere Musik auf dem Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen. Wenn man swingen will, muss man einander finden. Das bedeutet: Man kann nicht immer tun, was man will. N o o y i : Und wenn zu viele Leute für sich allein spielen, wenn sie solo spielen, gerät man irgendwann aneinander. Das ist keine Musik mehr, sondern Kakophonie. Es gibt eine Zeit fürs Solo – und dann wartet man auf das Zeichen der anderen und spielt zusammen. M a r s a l i s : Außenstehende glauben ja, Jazzmusiker kämen immer miteinander klar. In Wirklichkeit versuchen wir das nur. Denn keine zwei Leute empfinden die Zeit – das rhythmische Muster eines Musikstücks – auf dieselbe Weise. Wenn ich Sie zum Beispiel darum bitte, mir nach einer Minute Bescheid zu sagen, ohne auf die Uhr zu schauen, könnte es sein, dass Sie sich nach exakt einer Minute melden, während ich das schon nach 35 Sekunden tue. Wir empfinden die Zeit auf unterschiedliche Weise. Wir drücken und ziehen uns gegenseitig. Ich sage: „Hier sollte es sein.“ Und Sie sagen: „Nein, hier.“ Um miteinander zu swingen, müssen wir uns aber entgegenkommen. Geben Sie um meinetwillen Ihren Zeitbegriff auf, kommen wir ins Rasen, denn für mich fühlt es sich nach 35 Sekunden an. Wenn ich für Sie mein Zeitgefühl aufgebe, wird es zu schleppend. N o o y i : Wir müssen uns ständig entgegenkommen. M a r s a l i s : Stimmt, ein Geben und Nehmen. Wir müssen nach einem Weg suchen, wir selbst zu sein, und zugleich 1.000 kleine Korrekturen vornehmen. Als würden wir uns miteinander unterhalten. Ich kann improvisieren und mein eigenes Ding machen, oder ich kann einen Blues spielen und damit meine Stimmung ausdrücken. Aber das findet immer in schöpferischer Spannung zu der eigenen Erfahrung und zu dem Gefühl statt, das Sie vermitteln wollen. N o o y i : Ich glaube, das ist in meiner Welt ähnlich. Oft nehmen die Menschen sich nicht die Zeit, einander wirklich zuzuhören oder darüber nachzudenken, welche Rolle sie im Gesamtbild einnehmen. Für mich kann sich darin ein Mangel an Authen tizität zeigen. Nooyi:
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Wie würden Sie Authentizität denn definieren? Sich mit jeder Faser für das einzusetzen, was man tut. Was immer es sei, es muss authentisch sein. Man braucht Authentizität, um in einer Organisation seine Rolle zu finden, um Teil eines „Ökosystems“ zu werden und mit Kopf, Herz und Hand dabei zu sein. Sonst wird das, was man tut, eine rein mechanische Übung. Man schiebt die Karte in die Stechuhr, statt sein Bestes zu geben und das voll und ganz auszuschöpfen, womit man gerade beschäftigt ist. M a r s a l i s : Das sehe ich genauso. Unter Authentizität verstehe ich auch, die eigene Geschichte und Tradition zu kennen. In meiner Jugend habe ich viel Zeit mit älteren Musikern verbracht. Harry „Sweets“ Edison war ein Jazztrompeter, der in den Jahren der Depression Kansas City verließ und sich dem großen Count Basie Orchestra anschloss. Er wurde mein Förderer, als ich 15 war. Er sagte zu mir: „Junge, du musst lernen, den Blues zu spielen.“ Ich glaubte zu wissen, was er damit meinte, denn ich hatte schon immer eine Art Blues gespielt. Wenn man in New Orleans lebte, kam man gar nicht daran vorbei. Doch für mich bedeutete der Blues nur eine zwölftaktige musikalische Struktur. Die Tiefe der Tradition, die Edison meinte, verstand ich damals noch nicht. Blues ist nicht nur eine Art von Musik. Blues ist unser Erbe und damit Teil unserer amerikanischen Identität. Erst später begriff ich, dass der Blues ungeschminkt von Liebe, Schmerz und Tod, von Dummheit und Schönheit spricht und einen so auf die Härten des Lebens vorbereitet. Authentizität entspringt also nicht nur aus dem Enthusiasmus, mit dem man sich in seine Aufgabe stürzt. Man muss auch aus vollem Herzen bereit sein, sich auf Unbekanntes einzulassen. Marsalis:
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Indra K. Nooyi ist eine der weltweit renommiertesten und einflussreichsten Unternehmerinnen. Als Chairman und CEO von PepsiCo – das Unternehmen beschäftigt rund 278.000 Angestellte in 200 Ländern – nahm sie die Spitzenposition der Fortune-Liste der „50 mächtigsten Geschäftsfrauen“ ein und erschien auf der Time-Liste der „100 einflussreichsten Menschen“. Nooyi wurde in Madras (Indien) geboren. Sie erwarb am Madras Christian College einen Bachelor in Mathematik, Physik und Chemie und anschließend ihren MBA am Indian Institute of Management in Kolkata. Nach ihrem Umzug in die USA erwarb sie 1980 einen zweiten Mastertitel an der School of Management in Yale. Anschließend war sie für Boston Consulting Group Inc., Motorola Inc. und ABB Inc. tätig. Ihre Karriere bei PepsiCo begann 1994 mit dem Posten des Senior Vice President of Corporate Strategy and Development. 2006 wurde sie CEO, im Jahr darauf Chairman. Unter ihrer stra tegischen Führung erweiterte PepsiCo sein Portfolio durch den Kauf des Fruchtsaftherstellers Tropicana und gewann durch den Merger mit Quaker Oats die Marke Gatorade hinzu. Später folgte mit dem Milchfabrikanten Wimm-Bill-Dann die größte internationale Akquisition in der Unternehmensgeschichte. Indra Nooyi war die treibende Kraft hinter „Performance with Purpose“, einer Initiative von PepsiCo, durch die Vermarktung einer breiten Palette von Lebensmitteln und Getränken eine nachhaltige und erfolgreiche Geschäftsentwicklung zu erreichen. Zugleich senkte das Unternehmen die Kosten, begrenzte Umweltschäden, verbesserte die Arbeitsbedingungen weltweit und unterstützt an seinen internationalen Standorten Wirtschafts- und Sozialprojekte auf Gemeindeebene. 107
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Unbedingt. New York ist nun nicht die Heimat des Jazz. Warum haben Sie New Orleans verlassen, um hier Jazz zu spielen? M a r s a l i s : Unsere Musik ist nicht hier entstanden, doch New York war schon immer das Mekka des Jazz. Louis Armstrong war hier zu Hause und der Roseland Ballroom, George Gershwin und Paul Whiteman’s Concert Orchestra. Als ich nach dem Highschool-Abschluss herkam, war New York immer noch der beste Ort im Land, um Jazz zu spielen. Aber die Musikszene lag am Boden. Das Niveau der Liveauftritte war nicht annähernd dasselbe wie auf den Platten. Die Musiker und die ganze Branche hatten den Glauben daran verloren. Mit 19 Jahren wurde ich plötzlich sehr populär. So toll war ich auch wieder nicht. Ich spielte ganz anständig, doch aus irgendeinem Grund schauten alle auf mich. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, denn ich bekam mehr Publicity, Anerkennung und Geld als Leute, die besser spielten als ich. Und ich musste mich auf ihre Seite schlagen und gleichzeitig herausfinden, wie ich mich verbessern und das musikalische Erbe be wahren konnte, von dem sich viele Musiker abgewandt hatten. Es war ein langer Weg, der mich enorm viel Kraft gekostet hat. Durchgängig erhielt ich Verrisse, und ich konnte mich mit meinen Ideen nicht durchsetzen. Erst mit 30 Jahren fühlte ich mich allmählich wohler in meiner Haut. Wir fingen an mit „Jazz at Lincoln Center“, als ich 26 oder 27 war. Glücklicherweise lernte ich Menschen kennen, die zwar keine Musiker waren, aber die Aufgabe dieser Einrichtung und ihre Rolle für das städtische Leben verstanden. Sie setzten meine künstlerische Vision in etwas Konkretes um. N o o y i : Und hier sitzen wir nun, im „Jazz at Lincoln Center“. Dem Haus, das Wynton errichtet hat! M a r s a l i s : Wir alle haben es gebaut! Ich weiß ja, dass Sie auch einen langen, oft schwierigen Weg hinter sich haben. Als Sie nach New York kamen, ließen Sie eine Kultur zurück, in der eine andere Sprache gesprochen wird und vieles eine andere Bedeutung hat. Wie war das für Sie?
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Ich musste vieles ganz von vorn lernen. Menschen beobachten, mich anpassen. Auch ich hatte Förderer, die mir beibrachten, was geht und was nicht. Die eigentliche Aufgabe bestand darin, mich nicht vollständig anzupassen. Ich musste das Beste aus meiner eigenen Kultur bewahren, genauso wie Sie das mit Ihrer New-Orleans-Welt tun mussten. Es ging darum, die ideale Mischung aus beiden Welten zu finden. M a r s a l i s : Sie sind streng erzogen worden und haben Chemie, Physik und Mathematik studiert. Dann folgten Unternehmensplanung, Finanzen und Marketing. Ich finde es faszinierend, wie Ihr Führungsstil sich aus den verschiedenen Bereichen nährt und ständig zwischen der Mikro- und der Makroperspektive pendelt. N o o y i : Für mich bedeutet das: Freiheit innerhalb bestimmter Regeln. Bevor man sich auf geistige Höhenflüge begibt, müssen die Füße sicheren Halt haben. In Chemie, Physik und Mathematik sehe ich fundamentale technische Disziplinen. Sie bilden die solide Basis, die einem gestattet, zu träumen und kreativ zu sein. So wie ich die Dinge sehe, kann man jederzeit kreativ sein, doch nicht jederzeit Naturwissenschaften und Mathematik lernen – diese Fächer muss man sich aneignen, wenn man jung ist. M a r s a l i s : „Freiheit innerhalb bestimmter Regeln“, das gefällt mir. Das ist Jazz. Der Rahmen ist sehr flexibel, aber er ist unentbehrlich – er ist der Anker und das Fundament. Wenn man sich die Aufnahmen der größten Jazzmusiker anhört, von Leuten wie Louis Armstrong und Charlie Parker, ertappt man sie nie dabei, wie sie sich in den Harmonien vergreifen. Und glauben Sie mir, das ist eine ungeheure Tat, denn sie spielten ihre Improvisationen unter Zeitdruck. Sie konnten das, weil sie in einem harmonischen und rhythmischen Rahmen verankert waren. Ihre eiserne Disziplin gestattete ihnen, freier zu improvisieren. N o o y i : Ja, das ist sehr wichtig. Manche Menschen schauen eher auf die Freiheit, die sie innerhalb des Rahmens finden können. Andere dagegen betonen, wie sehr der Rahmen sie einengt. Notwendig ist beides. Unternehmen müssen innerhalb eines Rahmens arbeiten – andernfalls gäbe es Chaos. Aber Menschen brauchen schöpferische Freiheit, um ihr Bestes zu geben. M a r s a l i s : Das ist, was mich bewegt, wenn ich mit jungen Musikern arbeite. Und mein Eindruck ist: Wenn man sie eine Art Liebe und Bewunderung spüren lässt – besonders, wenn sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben –, erfahren sie das als eine ganz persönliche Freiheit. Gestern unterrichtete ich eine junge Dame von vielleicht zehn Jahren. Ich beschrieb ihr einfach, wie sie spielte: „Du hast einen Nooyi:
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Wie Sie schon sagten, diese Führungskultur fordert ihren Preis. Menschen zu fördern kostet Zeit und Energie. Beim Jazz gibt es dabei ein Problem. Oft werden Menschen Musiker, um auf die Bühne zu gehen und im Rampenlicht zu stehen – obwohl das Ego vom Prinzip her im Jazz keinen Platz hat. Die Musik erfordert eine gewisse Opferbereitschaft. Seit 25 Jahren versuche ich vergeblich, Bassisten davon zu überzeugen, ohne Verstärker zu spielen. Der Kontrabass hat eine wichtige Ausgleichsfunktion. Ich wollte vermitteln, dass es für den Kontrabass wichtig ist, das leiseste Instrument zu sein, denn das bringt auch das Schlagzeug dazu, leise zu spielen. Ein anderes Beispiel ist die Verkürzung der Soli. Ich habe schon an Jamsessions teilgenommen, in denen ich einer von sieben Blechbläsern war. Aus irgendeinem Grund spielte jeder von uns zehn Minuten. Warum spielen wir alle so lange? Ich sage also: „Wenn ich an der Reihe bin, werde ich nicht so lange spielen.“ Aber das erfordert Selbstdisziplin. N o o y i : Ich habe Sie im Konzert beim Spielen beobachtet, Wynton, Sie schauen ständig in die Runde. Sie spielen, doch Sie dirigieren auch. Ich denke, dass zu guter Führung beides gehört – man macht Musik, die anderen schauen zu und lernen von einem, und zugleich ist man Dirigent und stellt sicher, dass das Unternehmen harmonisch funktioniert. Manchmal möchte man erreichen, dass sich bestimmte Leute in den Vordergrund spielen; dann wieder möchte man, dass sie sich zurücknehmen. Sie müssen dieses Verhalten gestalten. Wenn man nicht auf Ihre Zeichen hört, müssen Sie das direkt ansprechen. Ehrliches Feedback ist dabei von entscheidender Bedeutung. Sie müssen die Gruppe auch ständig fordern, damit sie nicht unter ihren Möglichkeiten bleibt. Doch Musik und Unternehmen unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt: Das Ergebnis eines Konzerts ist augenblicklich erkennbar. Man hört es sofort. Wenn Ihnen etwas nicht gefällt, können Sie gleich zur Band gehen und ihr sagen: „Das hat nicht geklappt, spielen wir es noch einmal.“ Im Unternehmen haben wir den Luxus mehrmaliger Versuche nicht. Wir bekommen eine einzige Chance, es richtig zu machen, und der Preis des Scheiterns ist hoch. Es dauert auch länger, bis man das Ergebnis kennt. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, die Feedbackschleifen zu verkürzen und eine Gruppe dazu zu bringen, beständig in Einklang zu arbeiten. Marsalis:
wunderschönen Ton, du bist konzentriert, du gerätst nicht aus dem Gleich gewicht.“ Manche Lehrer sagen, man sollte dies oder jenes nicht tun, aber das kann dazu führen, dass der Schüler sich zurücknimmt. Verbotenes und Erlaubtes ergeben nur zusammen Sinn. N o o y i : Nicht alle Führungsfiguren wollen Lehrer und Förderer sein. Denn das kostet extrem viel Zeit und Energie. Doch wenn einem daran liegt, Menschen zu fördern und anzuleiten und eine Mannschaft aufzubauen, die das Unternehmen – oder das Jazzorchester – nach vorn bringt, dann gibt es keine Alternative. Man muss ermutigen und anspornen. Man muss liebevoll streng sein. Ich bin in einer Kultur dieser „tough love“ aufgewachsen und kam schließlich in eine Kultur, in der mittelmäßige Noten kein Problem waren. Wer in meiner Heimat nur eine Zwei oder Drei bekam, der brauchte gar nicht erst nach Hause zu kommen, sondern konnte ebenso gut wieder zurück in die Schule gehen und dort bleiben. Die Lösung liegt wohl in der Mitte. Eine Zwei oder Drei lässt sich verkraften, wenn man gleich darauf nachsetzt und fragt: „Was können wir gemeinsam tun, um dich auf eine Eins zu bringen?“ Man muss das Bedürfnis wecken, sich immer weiter voranzukämpfen. Jemand hat mir mal gesagt, der Abstand zwischen Nummer eins und Nummer zwei bleibe immer gleich – wenn man Nummer zwei verbessern wolle, müsse Nummer eins ebenfalls zulegen. Wenn du also etwas an dir selbst tust, profitiert davon auch das Unternehmen. Meines Erachtens müssen Führungskräfte das ganze Leben lang Schüler bleiben. Dass man es bis an die Spitze geschafft hat, bedeutet noch lange nicht, dass man nichts mehr zu lernen hat. Auch als CEO lerne ich ständig dazu und entwickele ständig neue Fähigkeiten. M a r s a l i s : Der große Pianist John Lewis hat mir davon erzählt, wie es war, in Dizzy Gillespies Orchester zu spielen. Als in den vierziger Jahren der Bebop populär wurde, so Lewis, wurde Dizzy fast über Nacht zur Legende. Er war erst 31 oder 32 Jahre alt. Dennoch nahm er weiterhin Trompetenstunden. Da sagten sich John Lewis und ein paar andere: „Mann, wenn Dizzy Stunden nimmt, dann brauchen wir erst recht welche!“ N o o y i : Genau. Über den lebenslang Lernenden sagen die Menschen: „Wenn der Boss im Unternehmen weiterlernen kann, warum sollen wir das nicht auch tun?“ 112
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Da sind Planung und strategisches Denken gefragt. Sie müssen fünf oder zehn Jahre vorausdenken. N o o y i : Manchmal auch 20. M a r s a l i s : Wie wirkt sich diese langfristige Perspektive auf Ihre Strategie aus? Wie greifen Sie korrigierend ein, wenn Sie erkennen, dass die Dinge nicht nach Plan laufen? N o o y i : Das ist schwierig. Strategisches Denken heißt, immer hinter die nächste Biegung zu schauen, Punkte zu Linien und Formen zu verbinden, wo andere nur schwache Pünktchen sehen. Am schwierigsten ist es, die Firma von der Notwen digkeit einer Kursänderung zu überzeugen. Menschen neigen ja dazu, sich mit dem Status quo zu arrangieren. Sie haben keine Vorstellung davon, was ein neuer Kurs bringen wird. Als Führungskraft müssen Sie ständig kommunizieren, warum Wandel sinnvoll ist. Das verschlingt viel Zeit und Kraft, denn die Leute sträuben sich, aber es gibt keinen anderen Weg. Wenn man nicht bereit ist, Überzeugungsarbeit zu leisten, kann die Firma weder wachsen noch sich weiterentwickeln. M a r s a l i s : Was heißt das konkret – um die Ecke schauen und Punkte verbinden? N o o y i : Das läuft in verschiedenen Stufen ab. Erstens muss ich das Gespräch mit Menschen aus anderen Bereichen und Branchen suchen und aus verschiedensten Quellen Informationen sammeln und aufsaugen. Wer viel liest und sich die richtigen Ideen herauspickt, erkennt plötzlich neue Zusammenhänge. Marsalis:
Wynton Marsalis ist ein international gefeierter Musiker, Komponist, Bandleader und Dozent und einer der wichtigsten Fürsprecher der amerikanischen Kunst und Kultur. Das einzigartige Spektrum seiner Konzerte und Kompositionen reicht vom Bebop bis zum modernen Jazz. Marsalis wurde 1961 in New Orleans geboren und wuchs in einer Familie von Jazzmusikern auf. Mit sechs Jahren bekam er zum Geburtstag von Jazzleader Al Hirt seine erste Trompete geschenkt. Schon mit 14 trat er mit dem New Orleans Philharmonic Orchestra auf. Nach dem Highschool-Abschluss zog er nach New York, um die Juilliard School of Music zu besuchen. Bald darauf schloss er sich Art Blakeys Jazz Messengers an, gründete schließlich seine eigene Band und machte sich mit Kompositionen und Plattenaufnahmen einen Namen. 1983 erhielt er als erster Künstler je einen Grammy für Jazz und klassische Musik. Im Jahr darauf wiederholte er diesen Erfolg und gewann in drei aufeinanderfolgenden Jahren, von 1985 bis 1987, je einen weiteren Grammy. Für sein Oratorium Blood on the Fields erhielt er 1997 als erster Jazzmusiker den Pulitzer-Preis für Musik. Daneben hat Marsalis sechs Bücher veröffentlicht, darunter Jazz, mein Leben: Von der Kraft der Improvisation, das er zusammen mit Geoffrey C. Ward schrieb. Der Musiker wurde mit mehr als zwei Dutzend Ehrentiteln ausgezeichnet und zählt in der Rangliste, die die Kennedy School of Government in Harvard zusammen mit dem Nachrichtenmagazin U. S. News & World Report erstellt, zu „America’s Best Leaders“. 114
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Zweitens müssen Sie mit Menschen sprechen, die gerade einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen haben. Sie können berichten, wie sie die Notwendigkeit der Veränderung erkannt und die Reform umgesetzt haben. Ich unterhalte mich viel mit solchen Agenten des Wandels, um deren Denkweisen zu verstehen. Drittens muss man das eigene Unternehmen unter einem langfristigen Blickwinkel betrachten und fragen, welche neuen Technologien aufkommen könnten, die die Regeln unseres Marktes auf den Kopf stellen. Man muss lernbereit sein und Menschen suchen, die einen an ihren Gedanken und Ideen für die Zukunft teilhaben lassen. Sich den Effekt verschiedener Szenarien vorzustellen, erfordert eine Menge Fantasie. Und schließlich meine ich: Ein bisschen Paranoia gehört unbedingt dazu! Bis zu einem gewissen Grad sollte man Angst haben – wer sich selbst grandios findet, ist unfähig zur Veränderung. Mit dieser Paranoia komme ich jeden Morgen ins Büro. M a r s a l i s : Nennen Sie mir doch mal einen Agenten des Wandels, der Sie gelehrt hat, Ihre eigene Arbeit in neuem Licht zu sehen. N o o y i : Als ich 2006 CEO von PepsiCo wurde, besuchte ich Steve Jobs bei Apple. Ich wollte wissen, was ein CEO seiner Meinung nach mit einem Unternehmen wie PepsiCo anstellen sollte. Er gab mir viele Anregungen auf der Produktebene. Dann erzählte er mir von Apple. Die Produkte seines Unternehmens, sagte er, seien benutzerfreundlich, intuitiv verständlich und ästhetisch ansprechend. Sein großes Ziel aber bestand darin, das gesamte Ökosystem um diese Produkte herum mit dem gleichen Anspruch aufzubauen. Noch das winzigste Apple-Accessoire sollte schön und aufregend sein, jeder Laden, jede Apple-Schnittstelle ein denkwür diges Ereignis. „Ich entwerfe nicht nur Produkte“, sagte Steve Jobs. „Ich entwerfe das Erlebnis, das Apple Ihnen bietet.“ Bei PepsiCo tun wir jetzt dasselbe. Früher haben wir gefragt: „Welche Produkte sollen unsere Kunden konsumieren?“ Heute fragen wir: „Wie sollen die Kunden unsere Produkte erleben?“ Diese Ausrichtung auf Design und Kundenorientierung hat unseren Innovationen eine neue Richtung gegeben. Wie ist das bei Ihnen? Wie gehen Sie den Wandel an?
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Wir kämpfen auch mit dem Anspruch, von dem Steve Jobs gesprochen hat – wir streben nach Perfektion. Alles soll sich auf herausragendem Niveau abspielen. Wenn man sich 50 Platten von Louis Armstrong anhört, ertappt man ihn vielleicht bei einem einzigen falschen Ton. Auf der Trompete ständig so genau zu spielen – und das beim Improvisieren – ist unglaublich. Dasselbe gilt für Charlie Parker. Selbst um zwei Uhr morgens spielte er nicht nur doppelt so schnell wie jeder andere, sondern absolut stimmig und perfekt. Für mich liegt die Herausforderung darin, immer wieder zu kommunizieren und allen klar zu machen, dass es um absolute technische Perfektion geht – denn diese Perfektion ist das Herz des Jazz. N o o y i : Wie wichtig ist Vielfalt im Jazz? Lassen Sie sich als Musiker davon inspirieren? M a r s a l i s : Die Geschichte lehrt, dass Monarchien untergehen, wenn Herrscherfami lien nur noch untereinander heiraten. Das gilt auch für die Musik. Für mich sind die größten Jazzmusiker diejenigen, die Gegensätze zusammenführen. Darin lag das wahre Genie von Louis Armstrong. Er führte uns die Verschmelzung gegensätzlicher Ideen vor Augen. Er war einer der besten, avanciertesten Trompeter, die die Welt je gehört hat – doch zugleich konnte er den dreckigsten, ursprünglichsten Blues singen, den man sich vorstellen kann. N o o y i : Für mich ist Vielfalt wunderbar, wenn man dafür offen ist. Doch viele im Unternehmen ersticken sie. Wenn ein Mitarbeiter ungewöhnliche Ansichten hat, sagen sie: „Der taugt nicht. Er ist kein Teamplayer.“ Ich finde das falsch. Vielfalt des Denkens muss bewusst gesucht und gefördert werden, denn sie verhilft dem Team zu besseren Entscheidungen. Man muss eine starke Führungsfigur sein, um abweichende Standpunkte auszuhalten, die das eigene Handeln hinterfragen. Das ist nicht leicht. M a r s a l i s : Dem Menschen, der Vielfalt begrüßt und durch sie wächst, folgen die anderen eher. Aber sie wollen auch sehen, dass ihre Meinungen sich in der Strategie niederschlagen. N o o y i : Genau. Die Leute wollen sehen, dass man mit einem Standpunkt gestartet ist, dann abweichende Meinungen gehört hat und anschließend zu einer besseren Entscheidung gekommen ist. Auch Jazzmusik entwickelt sich weiter und wird moderner. Wo finden Sie denn die Musiker, die etwas Neues oder Andersartiges beitragen? Marsalis:
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Mit spektakulärem Blick auf den Central Park: Ein Konzertsaal im bekannten Jazz at Lincoln Center bot die Bühne für einen inspirierenden Austausch über Parallelen in Jazz und Wirtschaft.
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Kreative Leute zu finden ist nicht schwer. Doch Musiker, die kreative Ideen und die nötige Ausbildung haben, auf die stößt man selten. Ich spiele viel mit Leuten, die ich unterrichtet habe, als sie erst zwölf oder 13 waren. Das kann anstrengend sein. Es sind eben Jazzmusiker! Freiheit gehört zu unserer Kultur. Man könnte das „Harmonie durch Konflikt“ nennen. N o o y i : Ja, genau. Man muss den Menschen vermitteln, dass jeder dasselbe Ziel vor Augen hat und dass jeder gewinnt, wenn wir es erreichen. Aber das wird nur passieren, wenn Sie den Menschen echtes Interesse und echte Empathie entgegenbringen. Tut man das nicht, glauben die Leute, das Unternehmen habe keine Seele und betrachte sie nur als Werkzeug. Als Führungspersönlichkeit muss man den Menschen helfen, täglich ihr Bestes für das Unternehmen zu geben. M a r s a l i s : Gab es eine Führungspersönlichkeit, die nicht aus der Wirtschaft kam und die Sie inspiriert hat? N o o y i : Ich mag Basketball. Als Michael Jordan noch für die Chicago Bulls spielte, sah ich mir seine Videos an. Er ging immer bis an die Grenze, jeden Tag gab er alles. Aber er wollte den Beifall nicht für sich allein, sondern er wollte, dass das Team gewinnt. Er wusste genau, wann er abspielen musste – und zwar auch dann, wenn er selbst hätte werfen können. Ich erinnere mich an ein Meisterschaftsspiel, da hätte er mit dem letzten Wurf als Held dastehen können, doch er sah, dass John Paxson außerhalb der Dreierlinie stand und sein Wurf der Mannschaft den Sieg bringen könnte. Ich sah auch, wie aufmerksam Jordan in den Pausen seinem Coach Phil Jackson zuhörte. Von Michael Jordan habe ich viel über mein eigenes Spiel gelernt – wie man ein Star ist und zugleich ein Teamplayer, dass die Mannschaft wichtiger ist als der Einzelne, und wie man auf den Trainer hört, selbst wenn man schon alles zu wissen glaubt. M a r s a l i s : Mich begeistert Jordans Vorstellung von Fusion. Für ihn war es immer wichtiger, einen Spielzug mit zwei, drei oder auch fünf Mitspielern zu gestalten, als sich den Ball zu schnappen und es im Alleingang durchzuziehen. So machte er es nicht nur als Spieler, sondern auch als Mensch. Taten sagen mehr als tausend Worte. N o o y i : Stimmt. Haben Sie denn ein ähnliches Vorbild – jemanden außerhalb der Musikwelt, der Sie auf neue Ideen gebracht hat?
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Ja, Harriet Tubman, eine afroamerikanische Kämpferin für die Abschaffung der Sklaverei. Sie wurde als Sklavin geboren, konnte aber entkommen. Später half sie anderen mit einem geheimen Netzwerk im Norden, dasselbe zu tun. Ihr Motto lautete: „Ich habe Tausende von Sklaven befreit; es hätten noch mehr sein können, wenn ihnen nur bewusst gewesen wäre, dass sie Sklaven waren.“ In meiner Jugend war Tubman meine Heldin. Ich lernte von ihr, dass man die Realität aktiv gestalten und neu schaffen kann. Ich bewundere ebenfalls die Autorin Helen Keller. Sie konnte weder sehen noch hören, doch bestimmte Dinge erspürte sie. Von ihr stammt der Satz: „Charakter bildet sich nicht in Ruhe und Wohlstand; nur durch Anfechtung und Leiden wird die Seele gestärkt, der Ehrgeiz geweckt und Erfolg erzielt.“ Helen Keller hat mir beigebracht, dass man nicht immer weiß, was man sieht. Die Dinge haben eine spirituelle Seite, die sich der Vernunft entzieht. Wenn wir, besonders in schwierigen Zeiten, auf diese innere Stimme hören, können wir etwas Höheres erreichen. Auf diesem Weg sind wir alle.
Marsalis:
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Das Gespräch wurde begleitet von Edilson Camara, Egon Zehnder Toronto (links), Justus O’Brien, Egon Zehnder New York, und Ulrike Krause, „Connecting Leaders“.
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dialoge
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Sir David
Mathias
c h i pp e r f i e l d
d รถpf n e r
Architekt
Ve r l e g e r
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Meisterarchitekt Sir David Chipperfield und Verleger Mathias Döpfner diskutieren den Einfluss der Architektur als Ausdruck von Gesellschafts- und Unternehmenskultur.
M a t h i a s D ö p f n e r (links) Vorstandsvorsitzender Axel Springer SE S i r D a v i d C h i p p e r f i e l d (rechts) Architekt
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Genau wie Dörfer und Städte können Firmenzentralen nicht nur Infrastruktur und Schutz, sondern auch Identität und Wurzeln bieten. Der renommierte Architekt Sir David Chipperfield und Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, trafen sich in dem von Chipperfield entworfenen Galeriehaus am Kupfergraben in Berlin. In den Räumen der Contemporary Fine Arts Galerie – gegenüber dem von Chipperfield meisterhaft rekonstruierten Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel – sprachen sie darüber, wie Architektur zur Förderung unternehmerischer Ziele beitragen kann; und das in einer Zeit, in der sich Wertvor stellungen und Bedürfnisse ändern und Identitäten unbeständig sind. Zusätzlich an Spannung und Relevanz gewann das Gespräch durch den Umstand, dass das Verlagshaus Springer sich mitten in einem Designwettbewerb für einen ambi tionierten „New Media Campus“ in Berlin befindet – mit der Zielsetzung, seine unterschiedlichen journalistischen Bereiche aus traditionellen und neuen Medien zusammenzuführen.
Schon immer haben Unternehmen mit ihren Gebäuden auch den Geist zum Ausdruck bringen wollen, der innen herrscht – von betont schlichter Bescheidenheit über schnörkellose Modernität mit klaren Linien und glatten Fronten bis zu aufwendigen Prunkbauten. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass umgekehrt Ästhetik und Design auch einen starken Einfluss auf den Umgang miteinander und auf die Kultur in einem Unternehmen haben können. S i r D a v i d C h i p p e r f i e l d : Ich beobachte, dass wir in Zeiten leben, in denen Führung vor allem die Aufgabe hat, Risiken zu minimieren, indem sie sich an Zahlen hält. Das macht es schwieriger, den weniger messbaren Faktoren des Lebens eine Stimme zu verschaffen. Das ist eine der Herausforderungen, denen sich die Architektur – wie übrigens der gesamte Kulturbereich – stellen muss. Heutzutage bewertet man ja sogar Museen anhand ihrer Besucherzahlen; im Grunde wird alles in Zeit und Geld gemessen. Doch für das Abstrakte haben wir keine Maßeinheit. Es gibt keine Methode, mit der wir ausdrücken könnten: „Zahlenmäßig waren es zwar nicht so viele Besucher, doch die, die kamen, waren tief beeindruckt!“ Es lässt sich einfach nicht messen, welche Eindrücke man in jemandes Gehirn hinterlassen hat. Möglicherweise hat man das Leben von zehn Museumsbesuchern verändert, und vermutlich ist das sogar das Wesentliche – doch wann ist davon je die Rede? In der Architektur sollten wir uns eigentlich immer an den drei Dimensionen Zeit, Geld und Qualität orientieren, und jedes Projekt sollte jeder dieser Dimensionen gleichermaßen gerecht werden. Doch allzu oft werden zunächst ehrgeizige Vorhaben auf die Faktoren Zeit und Geld reduziert und verflachen damit. Qualität hingegen ist nicht absolut, und es ist sehr schwierig, den weniger leicht quantifizierbaren Aspekten ausreichend Beachtung zu verschaffen. Mathias Döpfner:
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Sir David Chipperfield
Mathias Döpfner
Da stimme ich Ihnen zu. Ich glaube, gerade heute, im Zeitalter der Digi talisierung und angesichts riesiger Datenmengen, erliegen wir zunehmend dem Trugschluss, alles sei komplett quantifizierbar – und jede Entscheidung könne anhand messbarer Kriterien getroffen werden. Doch wenn Zahlen und Messbar keit die einzigen Grundlagen für eine Entscheidung darstellen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Fehlentscheidung ziemlich hoch. Ich habe das in meiner beruflichen Laufbahn mehrmals festgestellt. Eigentlich bräuchten wir Fürsprecher für qualitative Faktoren, wie etwa die Architektur. Wir spüren, dass es dringend notwendig ist, eine neue Unternehmenskultur zu entwickeln, die die Mitarbeiter der alten und der neuen Medien zusammenbringt – Menschen mit sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, Lebensstilen und Arbeitsweisen. Deshalb planen wir ein neues Gebäude. Natürlich könnte man die Frage stellen, wozu wir in der Zeit der digitalen Ökonomie überhaupt ein neues Gebäude brauchen. Heute lässt sich im Prinzip alles von zu Hause aus erledigen, und niemand benötigt einen Arbeitsplatz im herkömmlichen Sinne. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass eine Neudefinition von Arbeit und Arbeitsraum, ein attraktives, neu gestaltetes Arbeitsumfeld die Menschen zusammenbringen kann. Wir sehen das neue Haus auch als ein konkretes Beispiel für den Ansatz, Unternehmenskultur mithilfe eines ästhetischen Projekts zu verändern. C h i p p e r f i e l d : Unsere Generation ist mit der Annahme aufgewachsen, Architektur sei ein „Change Agent“, ein Katalysator. Sie ist es aber nicht per se. Wer nur das Fassadenmaterial auswechselt und vielleicht ein paar Fenster neu platziert, bewirkt damit gar nichts. Wirklich etwas verändern kann man nur, wenn man an die Substanz eines Gebäudes geht – und dazu braucht es, genau wie Sie sagen, den bewussten Wunsch nach Veränderung. Mir ist aufgefallen, dass sich in Deutschland hauptsächlich mittelständische Unternehmen intensiv mit ihrer Unternehmenskultur auseinandersetzen. Es beeindruckt mich sehr, wie viel Geld und intensive Überlegungen sie in langfristige Vorhaben, wie zum Beispiel klug konzipierte Firmengebäude, investieren. Das ist in anderen Ländern in dieser Ausprägung nicht zu finden. Döpfner:
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Sir David Chipperfield
Mathias Döpfner
Sir David Chipperfield, 60, wuchs auf einer Farm im britischen County Devon auf. Seine Liebe und sein Talent für die Architektur entdeckte er beim Umbau einiger Hofgebäude seines Vaters zu Ferienwohnungen. Er begann ein Architekturstudium am Kingston Technical College in London und wechselte später zur prestigeträchtigen Architectural Association School of Architecture, ebenfalls in London. Nach seinem Abschluss 1977 arbeitete er für Douglas Stephen und anschließend im gleichen Architekturbüro wie Richard Rogers und Norman Foster. 1984 machte er sich selbstständig. „David Chipperfield Architects“ unterhält heute Büros in London, Berlin, Mailand und Schanghai. Weltweite Anerkennung erhielt Chipperfield für den Wiederaufbau des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel, den er 2009 nach zwölfjähriger Planungs- und Bauzeit beendete. Hoch gelobt werden auch seine Gestaltung des Literaturmuseums der Moderne in Marbach, des Figge Art Museum in Davenport und des preisgekrönten River & Rowing Museum in Henley-on-Thames. Die sensible Integration der Tradition in zeitgenössische Architektur hat Chipperfield zu einem der renommiertesten Architekten unserer Zeit gemacht und ihm zahlreiche Preise und Auszeichnungen eingebracht. 131
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Sir David Chipperfield
Vielleicht liegt es daran, dass mittelständische Unternehmer Eigentümer sind. Sie fühlen sich ihrem Unternehmen und ihren Mitarbeitern gegenüber persönlich verpflichtet und sind mit beiden auch emotional stark verbunden. C h i p p e r f i e l d : Und sie denken langfristig. Gerade in der angelsächsischen Welt lässt sich hingegen beobachten, dass Kurzfristigkeit zum Hauptanliegen wird – und Kurzfristigkeit führt nicht zu Investitionen in Architektur. Ich habe vor einiger Zeit die Unternehmenszentrale des Traktorenherstellers John Deere in Illinois besucht. Es ist eines der großartigsten Firmengebäude der Welt, mitten im ländlichen Mittleren Westen. Gebaut wurde es in den sechziger Jahren von Eero Saarinen. Das Unternehmen hat damals richtig viel in diesen beeindruckenden Bau investiert, ebenso wie in den umgebenden Park, entworfen vom besten amerikanischen Landschaftsarchitekten der damaligen Zeit. Leute reisen nur wegen dieses Gebäudes dorthin – ein Bauwerk, das zu einer Zeit entstand, als John Deere noch von der Eigentümerfamilie geführt wurde. Man ist sich dort bis heute bewusst, dass die Entscheidung für diesen Bau eine der besten war, die die Firma jemals getroffen hat. Die Mitarbeiter sind immer noch unglaublich stolz, dort zu arbeiten. Würde man allerdings allein nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten darüber entscheiden, dann käme ein solches Gebäude heute nicht mehr zustande. D ö p f n e r : Manchmal erweisen sich Entscheidungen, die einem unvernünftig, subjektiv oder emotional erscheinen, letztlich als die weisesten und besten – während Entscheidungen, die stark auf Fakten und Zahlen basieren, die schlechtesten sein können. Deshalb ist es nur logisch, dass eigentümergeführte – und damit meist mittelständische – Unternehmen sich mehr Gedanken um diese Dinge machen als Manager, die große Unternehmen leiten. Sie sind bürokratischer orientiert, müssen es meist auch sein, denn ihr Erfolgskriterium sind vor allem ihre Quartalsergebnisse. Mich würde interessieren, wie Sie den Faktor Schönheit und dessen Rolle einschätzen. Ich bin nämlich vielen Architekten begegnet, die da abwinken: „Ach wissen Sie, Schönheit …“
Mathias Döpfner
Döpfner:
Mathias Döpfner
„ Manchmal erweisen sich Entscheidungen, die unvernünftig oder emotional erscheinen, letztlich als die weisesten und besten.“ 132
Darüber sprechen wir tatsächlich nie gerne. Aber geht es am Ende nicht auch um Schönheit? Natürlich gilt seit Bauhaus-Zeiten der Satz „Form follows function“, doch es geht ja auch um Ästhetik im eigentlichen Sinn. C h i p p e r f i e l d : Normalerweise rutschen wir bei dieser Frage nervös auf unseren Stühlen hin und her, weil wir unsere Arbeit nicht basierend auf wolkigen Versprechungen verkaufen können. Eines der Probleme von Architekten besteht doch darin, dass wir zunächst nur die Idee eines Bauwerks anbieten. Natürlich gibt es Modelle, und moderne, dreidimensionale Computersimulationen erlauben es heute, schon lange vor der Fertigstellung eines Gebäudes virtuell durch die Räume zu spazieren. Aber es braucht noch immer sehr viel Vorstellungskraft dafür, wie das fertige Gebäude in seinem Umfeld wirkt, welche Atmosphäre es ausstrahlen wird; großartig, erhaben, einladend, kühl oder abweisend, erdrückend – und ja, auch schön oder hässlich, wobei das dann ja noch einmal eine sehr subjektive Rezeption ist. Wenn ein Künstler ein Bild gemalt hat, kann er es Ihnen in seinem Atelier vorführen, und Sie können ihm sagen, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Sie beurteilen das Ergebnis. In der Architektur verwenden wir jedoch, um einen Auftrag zu bekommen, 95 Prozent unserer Zeit vor der Fertigstellung dafür, zu erklären, wie das Objekt nach der Fertigstellung sein wird. Im Grunde frage ich mit meinem Designstudio also: „Darf ich jetzt anfangen? Geben Sie mir das Geld dafür?“ Wir wollen einen Auftrag erhalten und müssen dafür eine Sprache finden, die Vertrauen schafft – und das Versprechen von Schönheit passt da nicht so gut hinein. D ö p f n e r : Also sprechen Sie auch lieber über das, was nachvollziehbar und messbar ist. C h i p p e r f i e l d : James Sterling und Ludwig Mies van der Rohe haben immer gesagt: „Erkläre dem Klienten niemals das Projekt. Erkläre niemals die schwierigen Dinge. Erkläre die vernünftigen Dinge.“ D ö p f n e r : Mein Vater war Architekt und hat mir davon abgeraten, die gleiche Laufbahn einzuschlagen. Er fand, die Zeit der anspruchsvollen Architektur sei vorbei, da es keine echten Bauherren mehr gäbe – jeder Laie sei davon überzeugt, sich mit den Details besser auszukennen als der Architekt. Der Bauherr hat seinen eigenen Geschmack, seine eigenen subjektiven Vorlieben, mischt sich ein. Das ruiniert jedes architektonische Meisterwerk. Ein guter Auftraggeber muss voll darauf vertrauen, dass sein Architekt eine hervorragende Lösung finden wird. Chipperfield: Döpfner:
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Wichtig ist auch das Vertrauen in den Dialog, denn der Architekt selbst ist beim jeweiligen Projekt immer nur so gut wie der Bauherr. Es ist wie beim Tennis: Ein zu guter Gegner demoralisiert einen, doch auch ein schlechter Gegner ist problematisch, denn dann fängt man selbst an, den Ball ins Netz zu schlagen. Also braucht man einen guten Partner. Ich weiß, dass wir bei guten Beziehungen zu unseren Klienten mehr leisten. Und ich finde nicht, dass Auftraggeber nur sagen sollten: „Okay, hier ist der Bauplatz. Machen Sie damit, was Sie wollen.“ D ö p f n e r : Eine solche Aussage könnte ja auch mangelndes Interesse signalisieren. Auf eine Unternehmenskultur etwa kann Architektur nur reagieren und diese beeinflussen, wenn das Architekturbüro sich intensiv mit dieser Kultur auseinandersetzt, sie versteht und eine Verbindung zum Bauwerk hergestellt werden kann. Ich denke, dann beeinflussen Architektur und Kultur einander gegenseitig. C h i p p e r f i e l d : Ja, ein Architekt ohne einen mitdenkenden und -fühlenden Bauherrn hat wenig Spielraum. Der Architekt kann Möglichkeiten und Ideen anregen, doch dafür braucht er einen Adressaten. Ich denke, wir brauchen immer eine Art von Dialog, denn Architektur ist für den Menschen da. Sie bildet die Kulisse. In gewisser Hinsicht geht es um Bühne und Schauspieler. Wir sollten also den Großteil der Zeit auf die Erschaffung der Bühne verwenden – und dann andere Leute darauf spielen lassen. D ö p f n e r : Genau das erhoffe ich mir von der neuen Unternehmenszentrale für Springer. Es geht darum, die richtige Bühne zu schaffen, damit die kreative DNA des Unternehmens erhalten bleibt. Wir sind traditionell ein Inhalte- und Kreativ-Unternehmen. Die große strategischen Frage für uns lautet: Werden die Technologieunternehmen den genetischen Code der Kreativ-Unternehmen übernehmen und Inhalte produzieren? Oder sind die Inhalte-Unternehmen in der Lage, sich auf die Plattformen der neuen Technologien zu begeben und die Sprache der Technologie verstehen zu lernen, um damit erfolgreiche Produkte für die digitale Zukunft zu erschaffen? C h i p p e r f i e l d : Das ist eine große und offene Frage. D ö p f n e r : Ja, noch ist nichts entschieden. Zurzeit spricht zwar mehr für den Erfolg der Technologieunternehmen. Langfristig erscheint es wiederum wahrscheinlicher, dass sich die Content-Unternehmen durchsetzen werden, da sich deren kreative DNA nur schwer kopieren lässt. Chipperfield:
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„ Wir sollten die meiste Zeit auf die Erschaffung einer Bühne verwenden – und dann andere Leute darauf spielen lassen.“
In unserem Unternehmen gibt es derzeit zwei Welten: Technologieanhänger, die finden, Inhalte würden überbewertet und es sei unnötig, viel Geld dafür auszugeben. Und dann gibt es die Verlagsvertreter alter Schule, nach deren Meinung die Technologie den Journalismus kaputt macht. Sie sehen es als das Ende einer Kultur und tun sich sehr schwer damit, überhaupt zu verstehen, worüber die Technologievertreter sprechen. Ich denke, wir müssen das Beste aus beiden Welten vereinen. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere besten IT-Entwickler unmittelbar mit den besten Journalisten, Autoren und Reportern zusammenarbeiten. Denn nur wenn beide Seiten wissen, was technologisch möglich ist, sind beide Seiten auch in der Lage, gemeinsam das beste kreative Produkt herzustellen. Deshalb muss unser neues Gebäude extrem kommunikationsfördernd sein. Es soll so gestaltet werden, dass beide Seiten nicht nur miteinander reden können oder es müssen, sondern dass sie miteinander reden wollen. C h i p p e r f i e l d : Architektur ist ja im besten Fall die Antwort auf zwei menschliche Grundbedürfnisse: Einerseits bietet sie Obdach und Schutz, andererseits ermöglicht sie, dass Menschen zusammentreffen und sich austauschen. Gebäude sind die physische Verkörperung von Gesellschaft, und wir als Architekten versuchen, Formen zu erschaffen, die diese sozialen Bestrebungen widerspiegeln und unterstützen. Mit Ihrem Gebäude erschaffen Sie eine Art internen Dorfplatz. Sie signalisieren: Jeder, der für uns arbeitet, gehört zu unserer Gemeinde und kann sich im gemeinschaftlichen, offenen Raum entfalten. Es muss Platz geben für spontane Begegnungen und regelmäßigen Austausch. Zwischen Menschen, die hinter Wänden in Einzelbüros sitzen, gibt es wenige Berührungsflächen – im positiven wie im negativen Sinn. D ö p f n e r : Unser Kulturwandel-Projekt soll das Alte und Neue zusammenbringen, ohne eine Harmonie vorzutäuschen, die nicht existiert. Ein gewisser Kontrast und Differenzen müssen bleiben, denn gerade durch die Kombination von Alt und Neu, Tradition und Avantgarde sollen neue Ideen entstehen. Nach der NSAAffäre gehe ich allerdings davon aus, dass wir davon abkommen werden, alles mit jedem zu teilen, und die Menschen wieder verstärkt auf ihre Privatsphäre, 137
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Mathias Döpfner
Mathias Döpfner, Jahrgang 1963, studierte in Frankfurt am Main und Boston Musikwissenschaft, Germanistik und Theaterwissenschaften. Sein Vater Dieter C. Döpfner war Professor für Architektur. Döpfners journalistische Karriere begann 1982 bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Weitere Stationen waren Positionen als Chefredakteur bei der Berliner Wochenpost und der Hamburger Morgenpost. Seit 1998 arbeitet Dr. Döpfner für den Axel Springer Verlag, zunächst als Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt. Seit 2002 ist er Vorstandsvorsitzender der Axel Springer SE, deren Führung er in wirtschaftlich schwierigen Zeiten übernahm. Das Unternehmen hatte zum ersten Mal in seiner Geschichte einen Verlust zu verzeichnen. Döpfner überraschte seine Kritiker mit einem kompromisslosen, aber erfolgreichen Kostensenkungsprogramm, das unter anderem die Zusammenlegung von Zeitungsredaktionen beinhaltete. Das in der Branche zunächst kontrovers diskutierte Kooperationsmodell kopierten kurz darauf Verleger in ganz Deutschland. Heute setzt der Springer-Chef konsequent auf Digitalisierung und Internationalisierung. Durch Gründung und Akquisition von ContentPortalen, Online-Vermarktern sowie Rubriken-Portalen auf der einen Seite und die Trennung von einer ganzen Reihe von Print-Titeln auf der anderen Seite treibt Döpfner die systema tische Transformation des Verlags zu einem Multimedia-Unternehmen energisch voran. Als Ausdruck dieses Aufbruchs in eine neue Ära plant das Unternehmen einen Neubau vis-à-vis dem Berliner Springer-Turm, der für neue Arbeitsweisen in einem urbanen Umfeld stehen soll, verbunden mit einer radikal neuen Ästhetik.
auf Sicherheit und Datenschutz achten werden. Viele werden nicht länger tole rieren, dass jemand all ihre Daten sammelt, verwendet oder gar missbraucht. Was denken Sie: Was bedeutet das für die Architektur? Ich glaube nämlich, dass auch der Trend zum Gemeinschaftsbüro vorbei ist. Vielmehr geht es jetzt um gemischte Modelle, die sowohl individuelles als auch gemeinsames Arbeiten ermöglichen. C h i p p e r f i e l d : Ich denke, dass wir es mit verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen Trends zu tun haben. Wir glauben immer, dass sich alles ändert – und dabei ändert sich in Wahrheit nichts. Diese Widersprüchlichkeit finde ich auch in mir selbst als Architekt: Da ist der Pessimist in mir, der mir ständig sagt, dass Qualität nicht länger gefragt ist, dass der einzige Inhalt der Architektur darin besteht, schnell und billig zu bauen, dass niemand mehr Werte schätzt und wir tatsächlich auf eine Art synthetische Normalität zusteuern, die weder gut noch schlecht, sondern einfach nur okay ist. Doch dann gibt es immer wieder Momente voller Optimismus, in denen mir klar wird, dass diese Werte nicht verloren sind und die Menschen nicht alles ästhetische Verständnis aufgegeben haben. Wir beschäf tigen uns mit Gegenständen, die nicht sprechen und sich nicht selbst erklären können. Gebäude sind nicht beschriftet; sie können keine Kritik oder Rechtfertigung abgeben. Immer, wenn es im Studio ein Problem gibt und meine Mitar beiter deswegen in Konflikt mit dem Bauherrn geraten, sage ich ihnen: „Letztlich kann man ja nicht an die Fassade des Hauses schreiben: ‚Dieses Gebäude wäre besser geworden, wenn der Auftraggeber verständnisvoller gewesen wäre, der 139
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Sir David Chipperfield
Bauunternehmer mehr Geduld gehabt hätte und, und, und …‘ “ Architektur äußert sich nicht und kann sich nicht verteidigen – sie ist stumm. Sie kann nur durch ihre physische Präsenz etwas mitteilen, durch Material, Raum, Licht. Das ist die einzige Sprache, die die Architektur besitzt, und dieser Sprache müssen wir uns bedienen. Ich glaube wirklich, dass solche Momente in einer stetig synthetischeren Welt immer seltener werden – was sie umso wertvoller macht. D ö p f n e r : Momente von Authentizität. C h i p p e r f i e l d : Ja, aber es gibt sie. Es ist interessant zu sehen, wie sehr sogar dieses Gebäude, in dem wir jetzt sitzen, Menschen anspricht und berührt. Es ist ja eigentlich gar nichts Besonderes: Die Räume sind groß, es ist wunderbar ausgeführt, das Licht ist fantastisch, aber das ist auch alles. Ich fand es deshalb umso bemerkenswerter, als der Eigentümer mir erzählte, dass viele Leute einfach an das Gebäude herantreten, nur um die Außenwand anzufassen. Zunächst forderte er sie auf, das zu unterlassen, bis er erkannte, dass es sich bei dieser Geste um eine Art Kompliment handelte. Und als wir das Neue Museum eröffneten, musste ich an diese Menschen denken – Menschen, die sich hinknieten, nur um zu sehen und zu fühlen, wie und woraus bestimmte Dinge gefertigt waren. Das gab mir ein enormes Gefühl der Zuversicht und Hoffnung darauf, dass nicht alles verloren ist. Allerdings sind diese zwei Positionen schwer zu vereinen. Ich nehme an, es ist ein bisschen wie mit dem Essen: Einerseits wollen wir unsere Mahlzeiten so schnell und billig wie möglich, andererseits sind wir bereit, sehr viel Geld für ein einziges Abendessen zu zahlen. Es sind Parallelwelten: Man kann für 58 Pence bei McDonald’s essen gehen oder im Restaurant zwei Türen weiter 150 Pfund ausgeben.
Mathias Döpfner
„ Im Zeitalter der Digitalisierung und angesichts riesiger Datenmengen erliegen wir zunehmend dem Trugschluss, alles sei komplett quantifizierbar.“ 140
Mathias Döpfner
Was für Architektur und Essen gilt, trifft auch auf den Journalismus zu. Und was Sie gerade über das Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen Kulturpessimismus und -optimismus gesagt haben, das beschreibt genau meinen eigenen etwas schizophrenen Gemütszustand. Manchmal denke ich: Es geht auch in unserem Metier nur noch darum, dass alles schnell geht und kurz ist – Info-Fastfood eben. Man braucht kein Gedächtnis mehr, und auch die Sprache, das Geschichtenerzählen spielen keine Rolle mehr. Layout? Interessiert niemanden. Es geht nur noch um die Produktion von News, wie in einer Werkshalle. Doch dann mache ich auch wieder völlig gegensätzliche, sehr positive Erfahrungen – wenn zum Beispiel ein Text, an dem ein talentierter Autor zwei Monate lang gearbeitet hat, plötzlich eine außerordentliche Wirkung entfaltet. Wenn wir noch Wochen nach der Veröffentlichung Briefe bekommen, in denen Leser diesen herausragenden Artikel loben und uns mitteilen, dass sie daraufhin unsere Zeitung oder unsere Website abonnieren wollen. Hervorragende Leistungen werden also doch noch wahrgenommen und wertgeschätzt. C h i p p e r f i e l d : Aufgabe der Architektur muss es sein, die äußeren Strukturen zu liefern, eine Art Maschinerie, die es solchen Faktoren ermöglicht, dauerhaft zu wirken und nicht nur ab und an aufzuscheinen. Es ist übrigens interessant, was in dieser Hinsicht in Berlin passiert; die Stadt ist im Aufbruch. D ö p f n e r : Es ist ein bisschen wie bei einem Goldrausch: Berlin ist eine Stadt der Möglichkeiten. Da gab es zunächst ein noch vages Versprechen, dass man hier Ideen verwirklichen könne. Die Leute, vor allem junge und kreative, kamen und stellten fest: Es stimmt. Hier lassen sich tatsächlich Ideen verwirklichen. Das gilt für die Architektur, weil genug Raum vorhanden ist, und es gilt für Kunstprojekte und Start-ups, weil alles relativ billig, undefiniert und offen ist. Berlin ist noch immer eine weitgehend undefinierte Stadt. C h i p p e r f i e l d : Ja, die Stadt ist undefiniert, bietet aber gleichzeitig eine vielfältige Textur und hat jede Menge Charakter. Berlin ist bei aller Liebe ja keine schöne Stadt, aber es ist trotzdem voller intensiver Momente. Ich habe kürzlich einen Freund herumgeführt, der eine Weile nicht hier war. Wir fuhren zur Karl-MarxAllee, dann zur Bismarck-Allee und hinaus nach Potsdam. Entlang unseres Weges entdeckten wir jede Menge interessante Geschichten und kraftvolle Eindrücke! Berlin ist keine Stadt der anonymen Architektur – sogar die einstigen sozialistischen Prachtbauten an der Karl-Marx-Allee haben eine unglaubliche physische Präsenz. Es ist also eine Struktur vorhanden, die ich als geradezu körperlich empfinde. Döpfner:
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Das Galeriehaus am Kupfergraben, gegenüber dem Pergamonmuseum in Berlin gelegen, zählt zu den bekanntesten Privatgebäuden, die David Chipperfield entworfen hat. Dort trafen Brigitte Lammers, Egon Zehnder Berlin, und Michael Meier, Egon Zehnder Düsseldorf, den Architekten zum Dialog mit Mathias Döpfner.
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Sir David Chipperfield
„ Unternehmen müssen genau das anstreben – eine Kultur des permanenten Austauschs und der fließenden Grenzen.“
Da wir gerade von Präsenz sprechen: Es würde mich interessieren, wie Sie zu den großen neuen Unternehmenszentralen im Silicon Valley stehen. Mich erinnern sie weniger an die Repräsentanzen von Unternehmen, die für Offenheit und universellen Freigeist stehen möchten, als eher an die Hauptquartiere von Geheimdiensten, die sich unter der Erde verstecken. C h i p p e r f i e l d : Ein bisschen das Pentagon-Modell, nicht wahr? Allenfalls aus der Luft lassen sich die wahren Dimensionen erkennen. Ich denke, genau um diese Verschleierung geht es, was die Beziehung zwischen Unternehmen und Öffentlichkeit angeht. D ö p f n e r : Die Macht macht sich unsichtbar, wie neulich eine große deutsche Tageszeitung titelte … C h i p p e r f i e l d : Für mich ist eine entscheidende Eigenschaft von Gesellschaften: Auf welche Weise bieten unsere Behausungen und unsere Städte uns Schutz und sorgen zugleich für Austausch und Diskurs untereinander? Wie können wir angenehm leben und unsere Privatheit genießen, ohne uns voneinander zu iso lieren? Ich finde, ein nordafrikanischer Souk ist in dieser Hinsicht ein wunderbares Vorbild. Die Definition von Eigentum ist dort eher vage, Grenzen verschwimmen. Wer weiß schon genau, wo sein Laden anfängt und wo er aufhört? Auch Innen und Außen sind nicht klar definiert. Man befindet sich in einer Art dynamischer Intimität zwischen privatem und urbanem Leben. Wenn man aus den sauberen Städten Nordeuropas kommt, wo alles klar abgesteckt ist, hat das etwas Schockierendes und zugleich ziemlich Attraktives. Und meines Erachtens müssen genau das auch Unternehmen anstreben – eine Kultur des permanenten Austauschs und der fließenden Grenzen. Denn wenn es das nicht gibt … D ö p f n e r : … igelt sich jeder in seiner Komfortzone ein; genau. C h i p p e r f i e l d : Ein festgesetztes Meeting am Donnerstagmorgen von neun bis elf Uhr ist eben nicht dasselbe, wie eigentlich absichtslos und zufällig mit Kollegen zusammenzutreffen und spontan im Gespräch eine gute Idee zu entwickeln. Mir fällt dabei ein Freund mit einer riesigen Bibliothek ein, der seine Bücher nie einräumte, sondern sie einfach stapelte. Er erklärte mir: „Ich mache das, weil ich Döpfner:
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von Zeit zu Zeit darüber stolpere und ich dann vielleicht auf ein bestimmtes Buch stoße, an das ich lange nicht mehr gedacht habe. Es mag Zufall sein, aber oft passt es genau zu dem, womit ich mich gerade befasse. Sobald ich es jedoch einsortiert habe, vergesse ich es.“ Und ich denke, genau diese Dynamik sollte auch in Unternehmen herrschen. D ö p f n e r : Das lässt mich wieder an den Journalismus denken. Die Aufgabe einer Zeitung besteht darin, den Horizont der Menschen zu erweitern, sie zu überraschen, aber auch zu irritieren oder zum Widerspruch zu reizen. Mithilfe neuer digitaler Technologie kann man heute allerdings messen, was die Menschen tatsächlich lesen und somit bei genügend Informationen auch prognostizieren, wofür sich eine bestimmte Person interessieren wird. Damit lässt sich das perfekt personalisierte Medienprodukt für jeden schaffen. Manche halten dies für die Zukunft des Journalismus in der digitalen Welt: Es gibt nicht länger eine Zeitung, in der die einen den anderen auf recht autoritäre Weise vorschreiben, was sie lesen und denken sollen. Nein, alles wird auf die individuellen Interessen abgestimmt. Für mich wäre es das Ende des Journalismus. C h i p p e r f i e l d : Aber ich finde, die deutsche Presse hat doch wirkliche Stärken. Sie haben zum Beispiel immer noch die Tradition des klassischen Feuilletons: Jemand schreibt etwas in einer Zeitung und am nächsten Tag antwortet ein anderer Autor in einem anderen Blatt darauf. Die Debatte ist hier auch abstrakter und intellektueller als etwa in Großbritannien. Das habe ich persönlich bei der öffentlichen Auseinandersetzung über die Restaurierung und Renovierung des Neuen Museums erlebt. Alle meine deutschen Freunde haben mich bedauert. Doch meine Antwort lautete: „Als Architekt beschwert man sich ständig, dass sich niemand für Architektur interessiert. Wenn also jemand Interesse zeigt, sollte man sich wirklich nicht beklagen.“ In England gibt es nur dann eine Diskussion über Architektur, wenn Fehler gemacht werden. Norman Foster wählt den falschen Kalkstein für die Fassade des British Museum, und es gibt einen riesigen Skandal. Doch sobald er den Bau vollendet hat, spricht oder diskutiert niemand mehr darüber. D ö p f n e r : Ich denke, ein gewisser Grad an Kritik spiegelt auch Leidenschaft wider. Wenn man Leidenschaft für etwas empfindet, setzt man sich damit auch kritisch auseinander. Ist es einem egal, sitzt man eben unbeteiligt daneben. C h i p p e r f i e l d : Es tut Architekten nur gut, wenn sie ihre Arbeit auch mal verteidigen müssen. Zu Beginn dieses Projekts kam es vor, dass Leute mich in Meetings angeschrien haben. Draußen auf der Brücke zur Museumsinsel wurde demonstriert, und es kam sogar jemand zu mir und meinte: „Herr Chipperfield, Sie haben in Berlin mehr zerstört als Winston Churchill!“ Das waren natürlich Übertreibungen. Umgekehrt haben mich einige dieser Aussagen, Vorwürfe und Fragen auch wirklich dazu gebracht, die Dinge abends auf dem Heimweg zu überdenken. Auch wenn es sich nicht unbedingt angenehm anfühlt, muss es ja nicht komplett falsch sein. Und ich muss sagen – diese kritische Auseinandersetzung schärft die Sinne.
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dialoge
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P a u l  E .
jacobs
lang lang
Te c h n o l o g i e u n t e r n e h m e r
Virtuose
Der Pianist Lang Lang im Gespräch mit Paul E. Jacobs, Erfinder und Executive Chairman von Qualcomm, über die Balance von Disziplin und Freiheit, wichtige Vaterfiguren und künstliche Intelligenz.
P a u l E . J a c o b s (links) Executive Chairman, Qualcomm L a n g L a n g (rechts) Pianist
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Wie kommt das Neue in die Welt? Wie lässt sich höchste Qualität erzielen – in klassischer Musik wie in mobiler Kommunikation? Der Pianist Lang Lang und der Technologieunternehmer Dr. Paul E. Jacobs, jeder auf seinem Gebiet ein Superstar, trafen sich zu einem Gespräch über Prägungen, Motivation und Ziele – und die Verantwortung außergewöhnlich Begabter. Das Gespräch fand in Los Angeles statt, wo Lang Lang für einen mehrtägigen Konzertaufenthalt zu Gast war. Zwischen zwei Konzerten mit dem venezolanischen Dirigenten Gustavo Dudamel und dem Los Angeles Philharmonic Orchestra fand er Zeit für ein Gespräch, in dem der chinesische Künstler und der amerikanische Unternehmer zahlreiche Gemeinsamkeiten entdeckten.
Großes kann entstehen, denke ich, wenn man sich daranmacht, über Fachgrenzen hinweg Ideen zu entwickeln und zusammenzuarbeiten. Derzeit unterstütze ich zum Beispiel ein Projekt zum Aufbau eines Instituts an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Wir wollen Designstudios schaffen, in denen interdisziplinäre Teams aus Künstlern, Ingenieuren und Designern gemeinsam Projekte entwickeln können. Im Zusammentreffen von Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen liegt ein enormes Potenzial. L a n g L a n g : Ja, es ist wichtig, sich außerhalb seines vertrauten Bereichs umzutun und von möglichst unterschiedlichen Menschen zu lernen. Ich suche immer Gelegenheiten, mit Musikern zu spielen, die einen anderen Erfahrungshintergrund haben als ich, die im Kammerorchester spielen, Sänger begleiten oder Jazz machen. Am besten lernt man von Kollegen aus anderen Gebieten. Man muss nur die richtigen finden. J a c o b s : Auch wer mit Hightech zu tun hat, kann von Künstlern eine Menge lernen. Als Apple vor einigen Jahren das iPhone herausbrachte, hatte ich schon eine ganze Zeit lang Smartphones gebaut. Aber mit der reinen Technik erreicht man immer nur ein begrenztes Publikum. Dann stellte Steve Jobs sein Gerät vor, das Ästhetik und Technik miteinander verband. Er zeigte uns: Wenn man beide Elemente miteinander verbindet, kann ein emotionales Erlebnis entstehen, wie es Technik allein niemals hervorrufen kann. Eine Frage, die mich schon eine Weile beschäftigt, ist, ob es wohl möglich ist, eine Maschine zu konstruieren, die über eine Kreativität verfügt, die mit der des Menschen vergleichbar ist. Kann ein Computer jemals etwas tun, das uns emo tional ebenso berührt, wie es Ihnen mit Ihrer Musik gelingt? L a n g L a n g : Es gibt ein elektronisches Klavier, das ganz gut allein spielen kann – aber eben nur, wenn es mit Aufnahmen großer Pianisten gefüttert wird. Mit fortschreitender Technik wird es vielleicht eines Tages lernen, die Musik irgendwie zu Paul E. Jacobs:
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adaptieren und seine eigene Interpretation anzubieten – die vielleicht sogar besser ist als das Original. Ich halte das nicht für ausgeschlossen. Wenn dieser Tag kommt, hoffe ich nur, dass man auch mich noch im Konzert auftreten lässt. J a c o b s : Darüber müssen Sie sich wohl keine Sorgen machen. [Lacht] L a n g L a n g : Aber Sie sprechen da eine interessante Frage an. In unseren Betätigungsfeldern, der darstellenden Kunst und der Technologie, scheint es einen starken Druck zu geben, ständig besser zu werden. J a c o b s : Das stimmt. Ich selber bin tatsächlich schon in einem fast absurden Maß kompetitiv. Als ich klein war, spielte ich mit meinen Brüdern gerne Basketball. Wenn einer auf den Korb werfen wollte, war das Ziel, ihn möglichst in das Garagentor hineinzudrücken. Selbst heute, wenn ich mit Kollegen meines Alters spiele, machen wir es immer noch so körperbetont. Das wird man wohl nie los. Wettbewerb ist ein starker Antrieb. Man muss es nur so einrichten, dass er nicht zu etwas Zerstörerischem wird. Er muss für konstruktive Ziele kanalisiert werden. Meistens gelingt mir das, aber ganz leicht ist es nie. L a n g L a n g : Auch in der Kunst kann überzogener Ehrgeiz zum Problem werden. Wer als Pianist immer nur daran denkt, der Beste zu sein, der endet beim Gegenteil – als Schlechtester. Entscheidend beim Klavierspiel ist, sich auf die Musik zu kon zentrieren und zu seinen tiefsten Empfindungen vorzudringen. Erst wer sich dafür öffnet und das Beste, was er von anderen gelernt hat, in sein Spiel einfließen lässt, der fängt an, einen eigenen Stil zu entwickeln. J a c o b s : Das ist auf meinem Gebiet nicht anders. Ich finde es immer sehr aufregend, wenn es mir gelingt, eine Idee, die anfangs nur in meinem Kopf ist, gemeinsam mit einem Team in die Wirklichkeit umzusetzen und zum Leben zu erwecken – insbesondere, wenn sie dazu beiträgt, das Leben von Menschen in aller Welt zu verbessern. Ich stelle mir vor, das wird so ähnlich sein, wenn große Künstler das Leben anderer Menschen mit dem Ausdruck ihrer Empfindungen berühren. L a n g L a n g : Ja, Musik kann enorm kraftvoll sein. Jedenfalls ist es die Aufgabe des Interpreten, sie so zu spielen. Aber um das Spiel auf dem Klavier oder irgendeinem anderen Instrument zu meistern, muss man üben, viel üben, darum kommt man nicht herum. J a c o b s : Mir war es immer sehr wichtig, so viel zu lernen wie nur möglich. Als Junge habe ich jeden Sommer in der Firma meines Vaters gearbeitet. Ich habe alle möglichen Arbeiten übernommen, und er sorgte dafür, dass ich in jedem Sommer etwas anderes zu tun bekam. Während des Studiums in Berkeley war es genauso – ich wollte so viel wie möglich lernen und das, was man als Ingenieur wissen muss, von Grund auf verstehen.
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Als ich zu Qualcomm kam, arbeitete ich eine Zeit lang als Ingenieur und wechselte dann ins Management. Ich habe versucht, meine Lektionen zu lernen. Einer meiner Vorstandskollegen gab zu bedenken, dass manche der Fehler, die man unweigerlich macht, wirklich ins Geld gehen können. Aber ich habe immer versucht, aus ihnen zu lernen. Ich glaube, darauf kommt es an. Die Beherrschung der Grundlagen ist entscheidend – in der Technik wie im Geschäft und sicherlich auch in Ihrer Arbeit. L a n g L a n g : Wenn es um mein eigenes Spiel geht, bin ich extrem kritisch. Ich frage mich immer, was ich verbessern kann. Aber wenn ich mit anderen zusammenarbeite, versuche ich, ihnen Raum zu geben, damit sie sich entwickeln und ihre eigenen Ideen ausdrücken können. Dann geht es weniger um meine Selbstkritik als darum, ein gemeinsames Erlebnis zu schaffen. J a c o b s : Ich suche bewusst Situationen, in denen ich gefordert bin. Die einzige Art, weiterzukommen, ist, es sich so unbequem zu machen wie nur möglich. Wenn es um andere Menschen geht, bin ich wie mein Vater: Ich gebe ihnen Aufgaben und sehe mir an, ob sie diese lösen und daran wachsen können. Das kann zuweilen schwierig sein. Wenn sie zu scheitern drohen und es aussieht, als würden sie untergehen, ist der erste Impuls natürlich, ihnen einen Rettungsring zuzuwerfen. Aber das darf man auf keinen Fall tun, denn damit hindert man sie daran, selber zu schwimmen. L a n g L a n g : Ich möchte noch mal anknüpfen an das, was Sie über das Lernen auf die harte Tour sagten: Auch ich lerne eine Menge aus Dingen, die sich nicht so ent wickelten, wie ich gehofft oder geplant hatte. Ich versuche gern, Probleme zu vermeiden, aber manchmal geht das einfach nicht. Als ich sieben Jahre alt war,
Paul E. Jacobs, Jahrgang 1962, ist Executive Chairman von Qualcomm, einem Forschungs- und Entwicklungsunternehmen für Mobilfunkkommunikation mit Sitz in San Diego, Kalifornien. 1985 von seinem Vater Irwin Jacobs gegründet, gehört Qualcomm zu den drei größten Chipherstellern weltweit. Nach seiner Promotion an der University of California, Berkeley, im Jahr 1989 und einem Forschungsaufenthalt in Toulouse trat Dr. Jacobs 1990 als Entwicklungsingenieur in das Unternehmen ein: als Angestellter Nr. 33. Fünf Jahre später wurde er Vice President und General Manager der Combined Handset and Integrated Circuit Division. Von Juli 2005 bis März 2014 hatte er die Position des CEO inne, bevor ihm mit Steve Mollenkopf der erste familienfremde CEO des Unternehmens nachfolgte. Paul Jacobs, der mehr als 50 Patente auf eigene Entwicklungen angemeldet hat, ist unter anderem Chairman of the U. S.-Korea Business Council und des Beirats der University of California, Berkeley, College of Engineering, Vice Chairman und Miteigentümer des NBA-Teams der Sacramento Kings und Mitglied des International Business Council des World Economic Forum. 154
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Ein Flügel immer in Reichweite: Während eines Tourneestopps in Los Angeles lud Lang Lang den Unternehmer Paul E. Jacobs und die Moderatoren Pavan Vohra, Egon Zehnder Palo Alto, und Ulrike Krause, „Connecting Leaders“, zu einem Gespräch in sein Hotel.
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„ Wettbewerb ist ein starker Antrieb. Man muss es nur so einrichten, dass er nicht zu etwas Zerstörerischem wird.“ 156
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„ Es heißt oft, dass Druck Spitzeninterpreten hervorbringt, aber das glaube ich nicht. Wenn mein Vater weniger streng gewesen wäre, hätte ich genauso gut gespielt.“
nahm ich an meinem ersten nationalen Wettbewerb teil. In meiner Heimatstadt war ich immer sehr gut gewesen, aber dies war das erste Mal, dass ich in einem landesweiten Klavierwettbewerb spielte. Und es wurde ein Desaster: Ich kam auf den siebten Platz. Als Trostpreis bekam ich einen Spielzeughund. Zuerst hasste ich diesen Hund. Aber dann freundete ich mich mit ihm an, denn jedes Mal, wenn ich ihn ansah, gab er mir Mut, besser zu spielen. J a c o b s : Ich habe da eine ähnliche Geschichte, wenn auch mit einer anderen Art von Wettbewerb. Wir verbrachten viel Zeit damit, ein bestimmtes Mobiltelefon zu entwerfen. Es war das kleinste Telefon, das man damals bauen konnte, und es sah sehr gut aus. Wir hatten mit einem Industriedesigner zusammengearbeitet und eine große Marketingkampagne entwickelt. Anfangs verkaufte sich das Telefon auch gut, aber dann kamen die Reklamationen: Der Kunststoff hatte einen Fehler, und das Gehäuse zerbrach. Es kostete uns Zigmillionen Dollar, das Problem zu beheben. Als wir es endlich geschafft hatten, gab es keinen Markt mehr für unser Handy. Eines der Bilder unserer Werbekampagne hängt bis heute in meinem Büro. Es erinnert mich daran, dass es nicht ausreicht, eine gute Idee zu haben. Wenn sie nicht gut ausgeführt ist, muss sie scheitern. Es erinnert mich auch daran, aus Fehlern zu lernen. So lange man voller Leidenschaft ist und wieder aufsteht, wenn man hingefallen ist, wird man es das nächste Mal besser machen. Das gehört einfach dazu. L a n g L a n g : Das ist bei Musikern genauso. Als ich klein war, fand ich es immer schwierig, nach Niederlagen wieder aufzustehen. Es war immer mein Vater, der darauf bestand, dass ich weitermachte. Seine Liebe zu mir drückte sich in Strenge aus. Manchmal ging er dabei sicherlich zu weit und überforderte mich. Ich glaube nicht, dass das wirklich nötig war. Vielleicht war der Grund, dass er als junger Mann selber große Träume hatte, aus denen dann nichts wurde. Heute kommen wir zum Glück sehr viel besser miteinander aus. 158
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Es heißt oft, dass diese Art von Druck Spitzeninterpreten hervorbringt, aber das glaube ich nicht. Wenn mein Vater weniger streng gewesen wäre, hätte ich genauso gut gespielt. Ich erinnere mich – als ich in die USA kam, fragte mich mein Lehrer: Was willst du werden? Anstatt zu sagen: ein großer Klavierspieler, sagte ich, ich wolle jeden Wettbewerb im Land gewinnen. Eine ganz verquere Einstellung! Mein Lehrer ermutigte mich, daran zu arbeiten, ein großer Musiker zu werden und keine Gedanken daran zu verschwenden, Wettbewerbe zu gewinnen. Ein strenger Trainer kann einem helfen, schnell oder technisch perfekt zu spielen. Aber das hilft überhaupt nicht dabei, ein besserer Musiker zu werden. Wahres musikalisches Können lässt sich nicht erzwingen, es muss sich von selber, auf natürliche Weise einstellen. J a c o b s : Ich hatte großes Glück mit meinem Vater. Er hat mich immer ermutigt und gab mir die Freiheit, Risiken einzugehen. Sein Rat war, hart zu arbeiten, einen guten Job zu machen, keine unvernünftigen Risiken einzugehen, ein gutes Team aus den besten Leuten aufzubauen, den rechten Weg zu beschreiten und das Richtige zu tun, dann würde ich auch Erfolg haben. Er zwang mich zu nichts, sondern ging mit gutem Beispiel voran. Wenn ich in Schwierigkeiten bin, denke ich oft daran, was ich von ihm gelernt habe. Ein Beispiel: Als ich unser Mobil telefongeschäft leitete, dachte ich, ich könnte mein Team zusammenschweißen, wenn ich eine „Wir gegen die anderen“-Stimmung verbreitete. Allerdings musste ich erkennen, dass eine solche Haltung die gesamte Organisation erfasst und am Ende zerstört. Ich änderte meinen Führungsstil grundlegend und versuchte, Vorbild zu sein. Ich formulierte eine Vision dessen, was wir erreichen wollten, und lud meine Mitarbeiter ein, an dieser Vision teilzuhaben. Es war ein Ansatz, der viel weniger von oben gelenkt war und auch weniger Konflikte erzeugte. Und er hatte Erfolg. L a n g L a n g : Ihr Vater ist ein beeindruckender Unternehmer. Haben Sie sich jemals Sorgen gemacht, den hohen Erwartungen nicht gerecht werden zu können? J a c o b s : Merkwürdigerweise: nein. Ich weiß nicht, wieso, aber ich fühlte mich nie getrieben, dasselbe zu tun wie er. Vielleicht liegt es daran, dass wir zwar scheinbar recht ähnliche Dinge taten, ich dann aber doch eine ganz andere Richtung eingeschlagen habe. Er hatte sich auf Funktechnologien konzentriert, und ich war mehr an der Anwendung neuer Techniken wie GPS und Software interessiert. Ich glaube, das hat mir geholfen, mein eigenes Revier abzustecken. Wie war das bei Ihnen? Es muss doch ein Kulturschock für Sie gewesen sein, als Sie in die USA gezogen sind. Wie hat sich das auf Ihre Entwicklung als Musiker ausgewirkt?
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Als ich 1997 in die USA kam, war das ein wirklich großer Einschnitt in meinem Leben. Damals war China noch sehr konservativ, das kulturelle Leben war längst noch nicht so vielfältig wie heute. Als ich in die USA kam, schien alles so viel offener und freier als zu Hause. Am Tag meiner Ankunft hörte ich zum ersten Mal Hip-Hop-Musik. Die Leute waren entspannt und locker. Sie fragten mich, warum ich dauernd meine Musik übte. Sie sagten, ich solle mal loslassen und das Leben genießen. Diese Freiheit hat mich erst zu dem Interpreten gemacht, der ich heute bin. Man weiß nie, woher die Anstöße kommen, die eine Arbeit positiv beeinflussen – aber ohne Zweifel sind Zeit und Spielräume für Erkundungen und Experimente ungemein förderlich. J a c o b s : Die Freiheit, die Sie beschreiben, ist auch eine entscheidende Voraussetzung für Innovation. Wir versuchen, in unserem Unternehmen Vielfalt zu fördern, in den Geschlechtern, geografisch und ethnisch. Das ist von uns von größter Bedeutung. Außerdem haben wir Instrumente entwickelt, die Innovation und Kreativität fördern sollen. Wie Sie schon gesagt haben, kann man nie wissen, woher ein zündender Gedanke, eine neue Idee kommen wird – eines unserer interessantesten Projekte wurde von einem Mitarbeiter aus dem Finanzbereich entwickelt! Für alle ist es umgekehrt sehr motivierend, wenn sie sehen, dass eine gute Idee überall im Unternehmen entstehen kann. L a n g L a n g : Ich glaube, die Idee der Inklusion ist sehr wichtig. Ich versuche immer, das Publikum für klassische Musik zu vergrößern, gerade bei jungen Leuten. Ich suche nach geeigneten Partnern, um deren Fans zu erreichen. Das war einer der Gründe, warum ich bei den diesjährigen Grammy Awards mit Metallica auf getreten bin. Was tun Sie, um die Zielgruppe für Ihre Technologie zu erweitern? Lang Lang:
Lang Lang, 1982 in Shenyang geboren, gehört zu den absoluten Superstars der klassischen Musik. Er war, wie er oft erzählt hat, zwei Jahre alt, als er im Fernsehen sah, wie Tom – aus der Reihe „Tom und Jerry“ – die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 von Franz Liszt spielte, und beschloss, das Klavierspiel zu erlernen. Seine Eltern setzten alles daran, ihm den Un terricht zu ermöglichen. Im Alter von fünf Jahren gewann er einen lokalen Wettbewerb, ab dem neunten Lebensjahr besuchte er das Konservatorium von Peking, und mit elf gewann er den ersten Preis beim Internationalen Wettbewerb für junge Pianisten in Ettlingen. Seinen Durchbruch feierte er 1999, als er bei der „Galaxy of Stars“ des Ravinia Festival nahe Chicago für den erkrankten André Watts einsprang und Tschaikowskys 1. Klavierkonzert spielte. 2003 führte er sich mit einem auf CD und DVD dokumentierten Recital in der Carnegie Hall ein. Seine internationalen Erfolge sorgten in seinem Heimatland für Euphorie und führten dazu, dass viele Millionen junger Chinesen mit dem Klavierspiel begannen. Lang Lang wurde 2013 von Ban Ki-moon zum UN-Friedensbotschafter mit Schwerpunkt weltweite Bildung ernannt. Auch mit seiner 2008 ins Leben gerufenen Lang Lang International Music Foundation engagiert sich der Ausnahmekünstler in der Förderung des musikalischen Nachwuchses. 161
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„ Kann ein Computer jemals etwas tun, das uns emotional ebenso berührt, wie es mit Musik gelingt?“
Das ist eine gute Frage. Ich sehe das Handy als eine Plattform, auf der andere Unternehmen mit ihren Geschäftsmodellen aufbauen. Das hat mir eine Reihe von Möglichkeiten eröffnet, Kontakte zu anderen Industrien herzustellen und Verbindungen und Partnerschaften einzugehen, mit denen wir neue Märkte erreichen. Das hat zu hochinteressanten Forschungsprojekten geführt. Wir arbeiten gerade mit jemandem zusammen, der einen Sensor entwickelt, kleiner als ein Sandkorn. Er wird in den Blutkreislauf eingeführt und soll fähig sein, einen Herzinfarkt vorherzusagen – zwei Wochen, bevor er eintritt. Das heißt, schon bevor irgendetwas schiefgeht, klingelt Ihr Telefon und sagt Ihnen: Gehen Sie zum Arzt! L a n g L a n g : Ich kenne ein paar Musiker und Dirigenten, für die wäre das genau das Richtige – sie regen sich oft zu sehr auf, wenn sie Musik machen. [Lacht] J a c o b s : Es macht wirklich Spaß, auf diesem Gebiet zu arbeiten, weil man dabei auf faszinierende Erfindungen stößt, die wie Science-Fiction klingen – und auf Menschen, die sich das ausdenken. Zum Beispiel arbeiten wir gerade daran, digitale Gehirne zu bauen. Sie sind zu Dingen fähig, die schon sehr menschlich oder wenigstens biologisch wirken. L a n g L a n g : Das ist schon toll. Es sieht so aus, als stünden wir immer wieder vor irgendeinem Durchbruch, der uns völlig neue Möglichkeiten eröffnet. J a c o b s : Ich finde interessant, dass – obwohl Sie und ich in ganz verschiedenen Feldern arbeiten – wir uns doch beide sehr stark um Bildungsfragen kümmern. L a n g L a n g : Ja, Bildung und soziales Engagement liegen mir inzwischen sehr am Herzen. Ich habe 2008 die International Music Foundation gegründet, eine Orga nisation, die staatlichen Schulen in Amerika hilft, ihre Musikprogramme neu zu etablieren. Wir haben gerade ein wirklich gutes Programm an der Boston Arts Academy entwickelt: Wir haben den Schülern 40 Klaviere und Keyboards gegeben und Musiklehrer eingestellt, die sie unterrichten sollen. Die Kinder wollen keine Profis werden, aber sie interessieren sich für Musik – nur hatten sie niemals richtige Musikstunden. Das Programm läuft jetzt seit einem Jahr, und wir wollen uns nun anschauen, welche Fortschritte sie gemacht haben, wie sie sich entwickelt haben. Jacobs:
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Gibt es irgendetwas, das Sie aus Ihrer eigenen Erziehung mitgenommen haben? Etwas, das Sie heute in Ihrer Art beeinflusst, wie Sie unterrichten? L a n g L a n g : Ich hatte viele verschiedene Lehrer. Einige mochte ich, andere nicht. Aber die besten Lehrer haben mir geholfen zu verstehen, wie wichtig es ist, den Bereich vertrauter Sicherheiten zu verlassen. Wenn man Schüler nur dabei unterstützt, ihre Lieblingsstücke zu spielen, werden sie nie etwas anderes spielen können als eben diesen Stil. Als Lehrer muss man die Schüler eigentlich auf fordern, das genaue Gegenteil dessen zu spielen, was sie mögen – und aus dieser Erfahrung zu lernen. Ich fand es als Kind immer sehr schwer, langsam zu spielen. Ich musste erst mühsam lernen, ruhig zu werden und auch die langsamen Passagen mit Herz und Seele anzunehmen. Ich bin froh, dass ich mich dieser Anstrengung unterzogen habe – sonst würde ich heute wahrscheinlich nichts anderes spielen als schnelle Stücke. Das würde mich verrückt machen. J a c o b s : Mich hat immer fasziniert, wie Musiker ihre Persönlichkeit ausbilden und in ihre Interpretation einfließen lassen. Wie fördern Sie diese Fähigkeit? L a n g L a n g : Bei klassischer Musik kann das schwierig sein, weil es ein striktes Regelwerk zu beachten gibt. Aber einigen Menschen gelingt es, diese Regeln auf sehr persönliche Weise auszulegen. Andere halten sich daran, als wären sie in Stein gemeißelt. Wer das dauernd tut, wird wahrscheinlich nie zu seinem eigenen Stil finden. Wenn ich mir junge Klaviertalente ansehe, suche ich Spieler mit dem besonderen Klang. Ich versuche zu erkennen, ob sie eine Persönlichkeit haben, die sich zu etwas Einzigartigem, zu etwas Unvorhersehbarem entwickeln lässt. Ich achte auch darauf, wie sie sich außerhalb des Klavierspiels bewegen – wie sie sprechen, wie sie über Dinge denken, ob sie Musik analysieren und so weiter. Ich mag nicht, wenn jemand darauf besteht, dass es nur eine einzige richtige Art gebe, Mozart oder Bach zu spielen. Ich suche junge Leute, die neugierig und geistig offen sind für die Musik, aber sich auch für die Welt um sie herum interessieren. Jacobs:
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Ja, Neugier ist der wichtigste Antrieb. Ich kann mir gar nicht vorstellen, nicht auf der Suche nach der nächsten großen Idee zu sein – und sie zum Leben zu bringen. Diese Energie suche ich auch in anderen. L a n g L a n g : Junge Pianisten müssen aber auch in der Lage sein, sich mit anderen Musikern auszutauschen. Nur dadurch lernt man, mit seinem eigenen Instrument zu kommunizieren. Ich denke, gemeinsames Musizieren ist der schnellste und direkteste Weg des Lernens. Aber das wird in Ihrer Arbeit vermutlich nicht anders sein. J a c o b s : Keine Frage. Man kann im Elfenbeinturm vor sich hin theoretisieren, so viel man will, und glauben, man habe alles verstanden – aber höchstwahrscheinlich liegt man damit falsch. Die Realität ist oft viel subtiler als die Theorie, die man entwickelt hat. Aber eine kritische Masse von Menschen, die sich alle auf das gleiche Thema konzentrieren, kann eine Menge bewirken. Wenn Sie genügend Leute zusammenbringen, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie etwas Herausragendes zustande bringen. Dann wirkt der Zauber. Ich denke daher, dass Nähe und Austausch gleichermaßen entscheidend sind. Eine weitere entscheidende Eigenschaft, die ich bei jungen Führungskräften suche, ist Leidenschaft. Wenn sie Leidenschaft für etwas entwickeln und ihrem Team vermitteln können, dann hilft das, die Organisation in die richtige Richtung zu steuern. Dabei sollten sie nie zu dominant auftreten. Gute Führung braucht eine leichte Hand. Die besten Führungskräfte delegieren Kompetenzen, damit ihre Mitarbeiter die notwendigen Spielräume haben. Wenn man in diesen Fragen allzu starr ist, fühlen sich die Leute nicht mehr für die Sache verantwortlich. L a n g L a n g : Sie sagten, dass Sie immer auf der Suche nach der nächsten großen Idee sind. Woran arbeiten Sie gerade? J a c o b s : Seit ich nicht mehr CEO bin, möchte ich etwas Großes, irgendwie Verrücktes, fast Unmögliches machen. Wenn Leute davon reden, dass sie die nächste Mobilfunkgeneration entwickeln wollen, dann heißt das meistens, die Telefone schneller zu machen und ein paar neue Features hinzuzufügen. Für mich ist das zu linear. Ich will etwas Nichtlineares machen. Vielleicht das Internet neu
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„ Bildung und soziales Engagement liegen mir inzwischen sehr am Herzen. Konzerte kann ich immer geben, aber sie beeinflussen unsere Gesellschaft nicht.“ 166
erfinden, damit es besser im Sinne der Menschen arbeitet – es ihre Privatsphäre schützt und weniger anfällig für schädliche Software ist. Ich glaube, das ist machbar. Schon heute fließt der meiste Traffic über mobile Geräte, und die verändern sich sehr schnell – was bedeutet, dass die gesamte Industrie so etwas unterstützen könnte. Mal sehen, ob wir das schaffen. Das würde uns sehr viel Spaß machen. Und bei Ihnen? Was ist Ihr nächstes großes Projekt? L a n g L a n g : Ein Großteil meiner Arbeit dreht sich um Bildung und die Arbeit mit jungen Leuten. In diesem Jahr spiele ich beim Konzert zum Tag der Vereinten Nationen nicht nur mit, sondern produziere das Ereignis erstmals auch selbst. Ich bin dabei, ein Weltjugendorchester aufzubauen mit Musikern unter 21 Jahren aus aller Welt. Ich glaube, eine solche Arbeit kann für die nächste Generation von Musikern verbindend wirken und ganz neue Impulse setzen. Konzerte kann ich immer geben. Tatsächlich trete ich ja jedes Jahr bei wichtigen Veranstaltungen auf. Aber Auftritte haben keinen Einfluss auf andere Musiker. Sie beeinflussen un sere Gesellschaft nicht. Sie bringen mir nur mehr Fans und mehr Anerkennung. Darum will ich etwas schaffen, das junge Leute wirklich berührt. Musik hat mein Leben verändert und meinen Blick auf die Welt geprägt. Sie kann Liebe fördern, Leidenschaft, Selbstvertrauen und offenen Dialog. Das ist eine Erfahrung, die ich mit anderen teilen möchte – vor allem mit Kindern.
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Paul E. Jacobs
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Ó l a fu r
Alexander
Elíasson
Lju n g
Künstler
Start-up-Entrepreneur
Ólafur Elíasson
A l e x a n d e r L j u n g
Eine neue Kultur der Teilhabe: der Künstler Ólafur Elíasson und Alexander Ljung, Internet-Entrepreneur, über die Anziehungskraft eines kreativen Clusters und Werte als Bindeglied zwischen Denken und Handeln.
A l e x a n d e r L j u n g (links) Gründer & CEO SoundCloud Ó l a f u r E l í a s s o n (rechts) Künstler 173
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Alexander Ljung und Ólafur Elíasson trafen sich in Elíassons Atelier in Berlin. Der Künstler hat eine ehemalige Brauerei in Prenzlauer Berg zu einem beeindruckenden Studio umgebaut; eine Mischung aus Werkstatt und Labor, in dem seine großformatigen, technisch wie künstlerisch anspruchsvollen Objekte und Installationen entstehen. Die Geräusche der künstlerischen Arbeit von Elíassons Team hallten auch während seines Gesprächs mit dem Gründer des VorzeigeStart-ups SoundCloud durch das Gebäude und kollidierten gelegentlich mit den Worten. Etwaige Verständigungsschwierigkeiten beschränkten sich aber rein auf das Akustische, denn Elíasson und Ljung hatten sich viel zu sagen – zu den Verbindungen zwischen Kunst, Technologie und neuen Medien, über die Lust am Experimentieren und weshalb bestimmte Orte dabei besonders inspirierend wirken. Und warum sowohl die Kunst als auch das Geschäft nicht nur um ihrer selbst willen betrieben werden, sondern einen höheren Zweck verfolgen sollten.
Interessant, nicht wahr, dass wir zwei Skandinavier uns ausge rechnet hier in Berlin treffen. Was hat dich hierher gezogen, Ólafur? Ó l a f u r E l í a s s o n : Ich bin jetzt 20 Jahre hier, ich habe also fast die Hälfte meines Lebens in dieser Stadt verbracht. Am naheliegendsten wäre wohl der Verweis auf Berlins lebendige künstlerische und kreative Szene … Aber ich würde gern ein bisschen tiefer gehen: Wie wirkt sich eine dynamische Community wie diese eigentlich in der Praxis aus, und warum spielt das für mich als Künstler eine Rolle? Historisch gesehen ist Berlin in der modernen Geschichte bislang der einzige Ort der Welt, wo eine vergleichbare Situation wie die heutige schon früher einmal bestanden hat. Vor ungefähr 100 Jahren herrschte in dieser Stadt eine ähnliche kreative Dichte wie jetzt. Natürlich hat es auch anderswo Höhepunkte gegeben, zum Beispiel im Paris der zwanziger Jahre oder im New York der Sieb ziger, aber die Ballung von Kreativität hier in Berlin ist heute ebenso beispiellos wie vor 100 Jahren. Eine solche Fülle ist ein idealer Nährboden für Experimente und Kreativität. Hier findet man Hunderte Antworten auf jede Art von künstlerischer Herausforderung. Und wenn an einem Ort eine Menge Talent versammelt ist, fördert das auch die Qualität. L j u n g : Mich hat vor allem die einzigartige Verknüpfung von Kunst, Technologie und Medientheorie fasziniert, die wir so nur in Berlin gefunden haben. Hier gibt es Leute, die interaktive Installationen schaffen, andere experimentieren mit Schnittstellen zwischen Technologie und Kunst, wieder andere gehen die Dinge aus rein künstlerischer Sicht an. Als wir mit SoundCloud noch in Stockholm waren, fand sich zu sehr spezifischen technischen oder musikalischen Fragen oft jemand in Berlin, der genau an dem betreffenden Thema arbeitete. Alexander Ljung:
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Die Entscheidung, unser Unternehmen hier anzusiedeln, fiel aber trotzdem sehr spontan. Zum Teil gab die Stadt selbst den Ausschlag, zum Teil die schiere Fülle von Künstlern und kreativ Tätigen. Hier gab und gibt es eine besondere Stimmung, eine Art Gegenkultur mit sehr viel Freiraum, in dem jeder seine eigenen Vorstellungen realisieren kann. Die geografische Lage war uns gar nicht so wichtig. Wir standen ganz am Anfang mit unserer Idee, dass im Internet etwas sehr Entscheidendes fehlte, und wir hatten beschlossen, diese Lücke zu schließen. Dabei hatten wir das Gefühl, dass uns das in Berlin leichter fallen würde. Wie sah es denn vor 20 Jahren aus, als du hierher gezogen bist? E l í a s s o n : Damals zog es viele Leute hierher, es herrschte Aufbruchsstimmung. Berlin bot viel offenen Raum, viele Dinge hatten noch keine Gestalt – oder zumindest keine endgültige – angenommen. Die Stadt bestand sozusagen mehr aus den Lücken zwischen Räumen als aus definierten Räumen selbst. Die Leute waren nicht nur damit beschäftigt, ihre Positionen und ihre Identität zu klären, sondern auch den Kontext, in dem das passieren sollte. Der Mangel an Zweckbestimmtheit des öffentlichen Raums zum Beispiel ließ sehr unterschiedliche Auslegungen zu: Können wir diesen Abschnitt des Bürgersteigs nicht einfach in eine Galerie verwandeln oder in ein Theater oder den Schauplatz für ein kleines Poesiefestival? Plötzlich hatte man eine Situation, in der Straße und Künstler atelier verschmolzen und der Begriff öffentlicher Raum nicht nur Zugänglichkeit bedeutete, sondern gedanklich ganz neu belegt wurde. Diese äußere Gestaltungsfreiheit schuf eine Atmosphäre, in der sich Literatur, Theater, darstellende Kunst, Sprachkünste wie Poesie oder Gesang und Künstler auf Augenhöhe begegneten. Für junge Leute war das eine höchst lehrreiche Erfahrung, zumal in den frühen neunziger Jahren noch die Krise der späten Achtziger nachklang, als der Kunstmarkt in London, New York, Paris und anderswo zusammengebrochen war. Kreativität musste danach ohne kommerzielle Plattformen auskommen, und hier in Berlin zeigte sich, dass sie es auch sehr gut konnte. Die Aufhebung aller Grenzen wirkte auf jeden Fall sehr befreiend. Gleichzeitig bedeutete sie aber auch eine Herausforderung, denn Grenzen sind als Grundlage kontextbezogener Sprache unverzichtbar. Den Künstlern wurde folglich einiges abverlangt.
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Ich glaube, das spürt man in Berlin heute noch. Die Aufhebung von Grenzen wirkt befreiend und belastend zugleich; vor allem, wenn man versucht, etwas Neues zu schaffen. Für mich zumindest ist Grenzenlosigkeit eine echte Herausforderung. Das gilt auch für den Gedanken von offenem oder nicht definiertem Raum. Prinzipiell kann also jeder diesen Raum beanspruchen; erst recht, wenn er keine erkennbaren physischen Grenzen hat, wie das im Internet ja der Fall ist. Ich habe erlebt, wie andere Unternehmen, insbesondere Start-ups, dabei auf Irrwege geraten sind. Denn die grenzenlose Freiheit, alles zu denken und auszuprobieren, führt bei manchen dazu, dass sie den Kontakt mit dem Rest der Welt verlieren und sich in ihren eigenen Ideen verstricken. Im Vergleich dazu ist man zum Beispiel in San Francisco, wo ich einen Teil des Jahres verbringe, viel mehr darauf bedacht, die praktische Anwendbarkeit der eigenen Entwicklungen zu berücksichtigen und über den Nutzen für möglichst viele Menschen nachzudenken. Das vermisse ich hier manchmal. Wie gelingt denn dir die Balance zwischen absoluter Freiheit und Fokussierung im kreativen Schaffensprozess? Diese Frage stellt sich für uns beide vermutlich ziemlich unterschiedlich dar … E l í a s s o n : Da bin ich mir nicht so sicher. Zwischen Denken und Handeln liegt ein Weg, genauer gesagt ein Prozess, der vom ersten Aufgreifen eines Gedankens, einer Idee, einer Vorstellung, eines Gefühls oder auch einer rein intuitiven Empfindung bis zur konkreten Umsetzung führt. Der Kompass, der dich dabei leitet, wird in erheblichem Maße von deinem sozialen Beziehungsgeflecht oder Empfinden beeinflusst und von den Werten, die dich leiten, etwas Bestimmtes zu tun – das Verhältnis zwischen Denken und Tun wird also in jeder Hinsicht von den eigenen Wertvorstellungen gesteuert. Und besonders in Berlin haben wir eine relativ starke, robuste Beziehung zur akademischen Welt, etwa zu den Sozialwissenschaften. Du hast also eine Wissensgrundlage, dazu einen Einfall, den du umsetzen möchtest, gepaart mit dem, was ich als eine ausgeprägt humanistische Agenda bezeichnen würde. Eine solche Handlungsmaxime lässt sich, glaube ich, auf viele Bereiche anwenden. Ljung:
Alexander Ljung
„ Wie gelingt die Balance zwischen absoluter Freiheit und Fokussierung im kreativen Schaffensprozess?“ 176
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Ólafur Elíasson
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Zwischen Atelier und Laboratorium: Hélène Reltgen, Egon Zehnder Paris, und Mark Krymalowski, Egon Zehnder Berlin, waren mit Alexander Ljung zu Gast in Ólafur Elíassons Studio in Berlin.
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Ólafur Elíasson
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Mir scheint, dass Werte in Unternehmen eine immer größere Rolle spielen. Gerade in jungen Firmen wird doch der Begriff „Erfolg“ heute viel weiter gefasst als früher. Es reicht nicht mehr aus, dass nur die Zahlen stimmen. Erfolg bemisst sich zunehmend am Umgang mit den „soft skills“. Man muss kommunizieren, warum man etwas tut. Die Begründung des eigenen Tuns ergibt sich meiner Meinung nach aus der gesellschaftlichen Interdependenz der Unternehmen und daraus, dass sie ihre Verantwortung anerkennen. Das heißt nicht unbedingt, dass man alle Vorstellungen teilen muss, sondern dass man ungeachtet unterschiedlicher Meinungen und Überzeugungen im selben Boot sitzt. Wir sind alle zugleich Teil einer Gemeinschaft, aber auch Individuum. Diese Vorstellung ist Angehö rigen älterer Generationen eher fremd, weil die Welt früher viel eindeutiger in Gruppierungen, Haltungen und Meinungen aufgeteilt war. Wer einer bestimmten Gruppe angehörte, konnte nicht gleichzeitig Meinungen etwa einer gegne rischen Partei vertreten oder auch nur gutheißen. Da war sehr viel mehr Linientreue gefragt. Heutzutage gibt es in der Welt viele Räume, die man mit anderen teilen kann. Um auf die Wertgrundlage zurückzukommen: Ihre Qualität zeigt sich erst in der Umsetzung der Entscheidungen. Deine Weltanschauung kann auf noch so hehren Werten beruhen, Wirkung entfaltet sie nur dann, wenn sie in Taten mündet. L j u n g : Das Gefühl kommt bei mir oft auf, wenn ich traditionelle Firmen besuche. Schon im Korridor hängt dort ein Poster mit den Unternehmenswerten, sehr professionell und verständlich formuliert, so akkurat und präzise, dass eigentlich jedermann damit arbeiten kann. Aber irgendwann wurden diese Werte ausgehöhlt oder durch das Verhalten von Führungskräften im Geschäftsalltag konterkariert. Im Bedarfsfall können die Mitarbeiter sie zwar noch herunter beten, aber keiner tut mehr, was er predigt. Viele Existenzgründer haben mit zwei Fragen zu kämpfen: erstens, wie man Mitarbeitern Werte so vermittelt, dass diese wirklich als Richtschnur dienen können; zweitens, wie man vermeidet, dass der Sinngehalt dieser Werte irgendwann auf der Strecke bleibt. Ich denke, das Ganze funktioniert nur, wenn die Unternehmensspitze die Werte mit Überzeugung vorlebt. Elíasson:
„ Das Augenmerk richtet sich jetzt stark auf andere, bessere Systeme. Ich sehe die Kunst als einen Weg, hier neue Verbindungen herzustellen.“
Das stimmt! Wir haben die Diskussion über die unterschiedlichen Intentionen von Start-ups selbst auch schon geführt. Auch wenn die technologischen Möglichkeiten bei den meisten im Vordergrund stehen, lassen sich zwei Kategorien von Unternehmen unterscheiden. Die einen werden vor allem von bestimmten Zielen und Werten angetrieben, ihr Geschäftsmodell ist Mittel zum Zweck. Die andere Gruppe startet von einer ganz anderen Basis: Bei ihnen ist der ökonomische Erfolg der Antrieb, und sie überlegen sich dann, mit welchen Mitteln sie ihn erreichen können. Mein Geschäftspartner Eric Wahlforss und ich haben SoundCloud nicht einfach als Wirtschaftsunternehmen gegründet – wir wollten damit etwas erreichen, an dem uns persönlich sehr viel liegt. Aber wir stellen auch fest, wie schwierig es ist, sich mit wachsender Unternehmensgröße und zunehmendem wirtschaftlichem Erfolg auf die ursprünglichen Zielvorstellungen zu konzentrieren. Um kreativ bleiben zu können, muss man von Zeit zu Zeit einen Schritt zurücktreten und sich fragen: Wie sehen unsere Kernwerte aus? Welche übergeordneten Grundsätze müssen unsere Unternehmenstätigkeit leiten, damit wir unseren Vorstellungen auch mit einem größeren Mitarbeiterteam treu bleiben können? E l í a s s o n : Ich glaube, bei jedem Projekt, egal ob wirtschaftlicher oder künstlerischer Art, muss man sich im Laufe des Prozesses immer wieder Fragen über Sinn und Zweck stellen. L j u n g : Die Berliner Szene macht es einem leichter, ein sinnorientierter Entrepreneur zu sein und zu bleiben. Für viele junge Berliner Unternehmen stand die Frage „Wozu?“ vor der ökonomischen Seite. Die Szene zieht viele Leute an, die sehr kreativ und zugleich pragmatisch denken und handeln. Das hängt, denke ich, mit gewaltigen Umwälzungen bei der Entwicklung von Anwendungssoftware und insbesondere von sozial basierten Applikationen zusammen. Früher funktionierte das quasi nach dem klassischen Fließbandprinzip; heute läuft diese Entwicklung dagegen sehr iterativ, das heißt, Teile der Software funktionieren zu einem gegebenen Zeitpunkt schon sehr gut und können bereits genutzt werden, während andere komplett versagen und überarbeitet werden müssen. Das setzt ständige Anpassungsbereitschaft voraus – und Leitsätze, die diesen kontinuierlichen Veränderungsprozess zusammenhalten. Ljung:
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Ólafur Elíasson zählt zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Seine großformatigen Instal lationen, in denen nicht selten urbane Landschaften, Wasser, Sonne oder Luft als Grundmaterial dienen, werden oft als Aufruf zu einem verantwortungsbewussteren Umgang mit der Umwelt interpretiert. Elíasson wurde 1967 in Kopenhagen geboren, beide Eltern stammen ursprünglich aus Island. Von 1989 bis 1995 studierte er an der Königlich Dänischen Kunstakademie, 1994 zog er nach Berlin. Zu Elíassons bekanntesten Werken zählen The Weather Project (2003), das die Turbinenhalle der Tate Modern in London in eine künstliche Atmosphäre aus feinem, farbig beleuchtetem Nebel tauchte, sowie New York City Waterfalls (2008), für das er entlang des East River vier riesige Wasserfälle schuf. Elíasson ist für seine Arbeiten vielfach ausgezeichnet worden: 2006 bekam er den mit 500.000 DKK dotierten Kulturpreis des dänischen Kronprinzenpaares. Im Oktober 2013 erhielt er den renommierten Goslarer Kaiserring. Ebenfalls 2013 wurde er zusammen mit dem dänischen Architekten Henning Larsen für das Konzerthaus Harpa in Reykjavík mit dem Mies-van-der-Rohe-Preis der Europäischen Union für zeitgenössische Architektur ausgezeichnet. 182
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Ólafur Elíasson
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Genau das ist der Erfolgsmaßstab, an dem auch wir uns messen: Wirkung. Ich bin fest davon überzeugt, dass SoundCloud auf sehr einzigartige Weise Emotionen weckt; es schafft Zusammengehörigkeit und verbindet. Derzeit werden jede Minute zwölf Stunden Musik und Audiomaterial hochgeladen. 90 Prozent der Titel werden auch abgespielt, die meisten am Tag ihrer Einstellung und über die Hälfte binnen einer Stunde, nachdem sie gepostet wurden. E l í a s s o n : Dieser Maßstab gefällt mir. Trotzdem ist es gerade in der Kunst wichtig, sich an Inhalten und nicht am Erfolg zu orientieren. Gelegentlich erlebt ein Künstler mit einem Kunstwerk einen Durchbruch und setzt dann ständig auf dieses Erfolgsrezept und dessen formelhafte Wiederholung – das Gleiche in anderen Farben, in einer anderen Größe et cetera. Vor dieser Gefahr sollte sich jeder Künstler hüten. Viel wichtiger ist, dass du eine Bewegung auslöst, Querbeziehungen schaffst oder zu einem Diskurs beiträgst. Wenn dir das gelingt, spürst du als Künstler plötzlich eine Resonanz, die andere Menschen zum Handeln bewegt – du wirst als Künstler gewissermaßen Teil eines evolutionären Prozesses, einer organischen Entwicklung. L j u n g : Die Versuchung, Erfolgsrezepte zu wiederholen, gibt es wohl überall. Aber dies verspricht gerade in unserer heutigen technologisch geprägten Welt nur trügerische Sicherheit. Ein Entrepreneur mit einer guten Idee kann heute die Situation so radikal verändern, dass sogar führende globale Unternehmen binnen weniger Jahre vom Markt verschwinden. Deshalb ist die Industrie gezwungen, sich ständig in allen Bereichen zu erneuern. Mir verschaffen Begegnungen mit Usern, die mir erklären, wie sie SoundCloud einsetzen – vom Teenager mit seiner ersten Gitarre bis zu renommierten Musikern – ein gutes Gespür für unsere Wirkung. Ich verknüpfe Erfahrungen aus direkten Kontakten mit den Daten und Informationen von 200 Millionen Menschen, die SoundCloud nutzen, um unsere Wirkung zu verstehen. Und was die Chance anbetrifft, mit der eigenen Tätigkeit eine Bewegung auszulösen – das wäre aus unternehmerischer Sicht der Gipfel des Erfolgs! Ljung:
Und welche Rolle spielst du als CEO in diesem Prozess? Auf keinen Fall bin ich ein Zauberer, der immer eine Antwort parat hat, an deren sagt, wo es langgeht, und dann die Ausführung seiner Anweisungen überwacht. In unserem von ständigem Wandel geprägten jungen Unternehmen stellen sich in der Praxis viele Aufgaben, bei denen ich als CEO eine Vielzahl von Ideen sozusagen kuratorisch betreue und Mitarbeitern helfe, Dinge auf den Punkt zu bringen. Ich sorge eigentlich nur für ein Gleichgewicht zwischen kreativem Chaos und dem erforderlichen Mindestmaß an Struktur, wobei ich darauf achte, dass wir uns selbst treu bleiben. Aber du arbeitest im Rahmen deiner Kunstprojekte doch auch mit großen Teams – wie sorgst du denn dafür, dass dein Wertesystem gelebt wird? Wie pflegst du es, wie passt du die Werte an? E l í a s s o n : Ein Künstleratelier ist aus meiner Sicht eine Wirklichkeitsmaschine. Das heißt, ich stelle mich der Herausforderung, eine eigene Form von Realität zu produzieren. Das tue ich im Kontext der existierenden Welt. Mit meinem künstle rischen Eingriff produziere und gestalte ich diese Welt mit. Ich sehe mich nicht als eine Art Avantgarde im Sinne einer Abkoppelung, sondern im Gegenteil in enger Verbindung mit der Realität. Das heißt, dass zwischen Atelier und Außenwelt sehr ausgeprägte Kontakte bestehen. Jedes meiner Kunstprojekte wird professionell gemanagt. Es gibt eine Vielzahl von Kontakten zum Beispiel zu Stadtverwaltungen und den Lieferanten der Rohmaterialien, mit denen ich arbeite. In diesen Kontakten spiegelt sich die Qualität der Entscheidungen, die während der Entstehung eines Kunstwerks im Atelier fallen. Im Gegensatz zu einem Wirtschaftsunternehmen ist es aber entscheidend, dass ich Entscheidungen nie aus rein ökonomischen Interessen treffe oder um den Erwartungen eines Auftraggebers oder Sammlers zu entsprechen. Natürlich komme ich manchmal nicht umhin, pragmatische Einschränkungen zu akzeptieren, etwa weil sich etwas technisch nicht realisieren lässt oder der Platz nicht ausreicht, aber meine Entscheidungen zielen darauf ab, in erster Linie das beste Ergebnis in meiner Kunst zu produzieren. Was ich in die Welt setze, darf nicht der Erfüllung eines Wunsches dienen, den die Welt bereits verspürt. Die Leute kommen zu mir auf der Suche nach einer objektiven Haltung, nach einem Kunstwerk als Ausdruck dieser Objektivität. Der tiefere Grund ist, dass sie ihre eigenen Wertvorstellungen überprüfen wollen. Zu mir kommen Leute aus allen Kreisen – nicht weil sie glauben, wir beschäftigten uns mit realitätsfernen Dingen, sondern weil wir durch gemein same Zielvorstellungen, Werte oder Projekte verbunden sind. Ich mache die Erfahrung, dass die Kunst in unserer Gesellschaft immer stärker aus ihrer einstigen Nebenrolle in das Zentrum rückt. Elíasson: Ljung:
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„ Ob Kritik oder Lob – worauf es ankommt, ist, dass die Leute Anteil nehmen.“ 185
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„ Heutzutage gibt es in der Welt viele Räume, die man mit anderen teilen kann.“
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In meinen Projekten schaffe ich vor allem durch die Umformung von Natur neue Räume und ungewöhnliche Situationen, in die die Menschen ihre eigenen Erinnerungen und Erwartungen, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft einbringen. Damit will ich eine Art Doppelerfahrung vermitteln, bei der man als Betrachter zu seinen Ursprüngen zurückkehrt und gleichzeitig eine Verbindung zu seinem zukünftigen Sein aufbaut. Wenn ich mich nicht Künstler nennen würde, hielte man mich möglicherweise für einen Therapeuten. Ich möchte zeigen, dass individuelle Erfahrungen Konstrukte sind. Stimmungen, die wir beispielsweise auf der Straße, in einem Gebäude oder auch in der freien Natur empfinden, sind in viel stärkerem Maße von uns selbst geprägt, als wir denken. Aber wenn etwas konstruiert ist, kann es auch verändert werden. Wenn unser Umfeld und unsere Sinnesempfindungen zumindest weitgehend von uns selbst erzeugt werden, dann kommt man nicht um die Tatsache herum, dass man für seine persönliche Umgebung mit verantwortlich ist und sie nicht einfach konsumiert. Damit stellt mein Konzept den Begriff der Autorenschaft auf den Kopf: Der Betrachter ist in gewissem Umfang also am Werk beteiligt, Miturheber. L j u n g : Alles, was uns umgibt, ist auf die eine oder andere Art konstruiert, aber viele glauben, dass dies zum einen bewusst, zum anderen durch Dritte geschehen ist. Das ist ein absoluter Trugschluss! Jeder baut sich seine eigene Wirklichkeit. Bei SoundCloud ist das ganz konkret zu erleben. Wer bei uns ein User-Konto anlegt, wird automatisch Bestandteil von SoundCloud. Die Leute laden ihre Musik hoch, posten Beiträge. Jeder trägt damit wesentlich zum Aufbau dieser Plattform bei. Wir schaffen die technischen Grundlagen, aber langfristig gesehen hängt alles davon ab, wie SoundCloud genutzt wird, welche Funktionen die User erwarten oder ob sie sich vielleicht irgendwann für etwas anderes entscheiden. Dann wäre es, als hätten wir ein riesiges Haus gebaut und plötzlich stünde es leer. E l í a s s o n : Das ist ein interessanter Aspekt. Betrachtest du das enorme Feedback, das du erwähnt hast, als ein Privileg oder als eine Last? Elíasson:
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Alexander Ljung
„ Ich sorge als CEO eigentlich nur für ein Gleichgewicht zwischen kreativem Chaos und dem erforderlichen Mindestmaß an Struktur.“
Eindeutig ein Privileg, denn niemand wird sich die Mühe machen, dir etwas mitzuteilen, wenn ihm nicht wirklich etwas daran liegt. Ob Kritik oder Lob – worauf es ankommt, ist, dass die Leute Anteil nehmen. Das bedeutet, dass wir genug Eindruck hinterlassen haben, um eine Reaktion auszulösen. Andererseits ist es ab einer gewissen Menge an Informationen nicht immer leicht, alle Anregungen aufzugreifen und praktisch umzusetzen. E l í a s s o n : Ihr solltet eure engagierten User so gut wie möglich pflegen. Menschen, die sich um nichts kümmern, denen alles egal ist, sind in der heutigen Gesellschaft eine große Gefahr. Motivation ist nicht nur im Bildungswesen eine große Herausforderung – ganze Wissenschaftszweige konzentrieren sich auf empathische und inklusive Systeme. Durch Interesse und Engagement zeigt man ja auch den eigenen Standpunkt. Sich für etwas zu engagieren setzt Kritikfähigkeit voraus, man muss in der Lage sein, eigene Wertmaßstäbe zu entwickeln. Und in diesem Zusammenhang kann meines Erachtens auch die Kunst wichtige Anstöße geben – nicht so sehr in Bezug auf die Urteilsfähigkeit des Künstlers, die hoffentlich gegeben ist, sondern durch das Auslösen einer kritischen Reaktion beim Betrachter. Deshalb mache ich zum Beispiel in meinen Arbeiten immer wieder unser Verhältnis zur Natur zum Thema. Auch die Natur ist ein Konstrukt, das dürfen wir nicht länger ignorieren. Lange Zeit hielten wir Natur und Klima für unveränderbar, eben weil wir glaubten, die Natur entzöge sich unserem Einfluss. Hier müssen wir Plattformen finden – und dabei spielen künstlerische Ausdrucks formen eine wichtige Rolle –, die Engagement, kritisches Denken und Verantwortungsbewusstsein fördern. L j u n g : Weltweit besteht ein Missverhältnis zwischen Denken und Handeln. Die Menschheit macht sich Sorgen um den Klimawandel, und trotzdem fährt jeder, der es sich leisten kann, ein Auto. Vielleicht kann Kunst, so wie du sie betreibst, hier wirklich etwas verändern. Ljung:
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Die Fassade des Gesprächsorts verweist auf die industrielle Vergangenheit des Gebäudes im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg.
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Natürlich stellt sich die Frage, ob heutige Qualitätskriterien und Wert vorstellungen morgen noch relevant sein werden. Und wie wir zwischen dem Gestrigen und dem, was uns morgen erwartet, einen Übergang herstellen können. In letzter Zeit ist so viel Vertrauen geschwunden – Vertrauen in die Märkte, in das politische System, in die Demokratie ganz allgemein. Und deshalb richtet sich das Augenmerk jetzt so stark auf die Frage nach anderen, besseren Systemen. Ich sehe Kultur, und vor allem die Kunst, als einen Weg, hier neue Verbindungen herzustellen, weil sie sich auf ein eigenes Wertesystem stützt. Es gilt, Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Kulturen statt Unterschiede in den Mittelpunkt zu rücken und ein nachhaltiges – allerdings nach wie vor marktwirtschaftlich orientiertes – Wirtschaftsmodell aufzubauen, das von der Vor stellung von Gleichheit ausgeht. Es gilt, neue Formen, Inhalte, aber auch Werte zu finden, die zu einer Zivilgesellschaft des 21. Jahrhunderts passen. L j u n g : Wir haben einen Punkt erreicht, an dem mehr Menschen als je zuvor einen eindeutigen Lebenssinn suchen. Bleibt diese Suche unerfüllt, verfallen die Menschen in Gleichgültigkeit. Ich glaube, genau darin liegt die Herausforderung für künftige Führungspersönlichkeiten: Ziel und Sinn zu formulieren. Elíasson:
Alexander Ljung, geboren 1981, ist Gründer und CEO von SoundCloud. Die weltweit führende Audioplattform ermöglicht den Zugriff auf die global größte Community von Musikern, Bands, Produzenten und Komponisten aller Art. Als Teenager entwickelte Ljung eine Leidenschaft für Musik und Musikproduktion. Er studierte in Stockholm Ingenieurwissenschaften mit Schwerpunkt Computer- und Schnittstellentechnologie. Während des Studiums lernte er in einem Computerraum der Universität seinen künftigen Geschäftspartner, den Künstler Eric Wahlforss, kennen. Beide erkannten bald, dass SoundCloud in der Musikwelt werden könnte, was YouTube im Videobereich ist – eine Online-Plattform zum Schaffen, Anhören, Herunterladen und Diskutieren. 2007 zog Ljung nach Berlin, ein Jahr später gründete er zusammen mit Eric Wahlforss als CTO offiziell das Unternehmen SoundCloud. Als CEO ist Ljung für die Unternehmensstrategie und für ein Team von über 200 Mit arbeitern verantwortlich. Das Magazin Fast Company prämierte SoundCloud als eine der „Most Innovative Companies 2012“ und begründete seine Wahl unter anderem damit, das Start-up habe dem Internet eine Stimme verliehen. Das junge Unternehmen gewann den Europioneer Award der Europäischen Kommission und erhielt die Auszeichnung Best International Startup. 192
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Su g a t a
Jasmine
Mitra
Whitbread
Bildungsvordenker
Save the Children
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Jasmine Whitbread von Save the Children und der Bildungs forscher Sugata Mitra sprechen über soziale Verantwortung, nachhaltige Entwicklung und die Zukunft des Lernens.
J a s m i n e W h i t b r e a d (links) Chief Executive, Save the Children S u g a t a M i t r a (rechts) Professor für Bildungstechnologie 196
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Immer mehr Kinder auf der Welt erhalten Zugang zu Grundschulen. Doch was nützt das, wenn unser Schulsystem überholt ist, ja am Boden liegt? Jasmine Whitbread, Chief Executive von Save the Children International, und Sugata Mitra, Träger des TED-Preises und visionärer Denker in Sachen Bildung und Technologie, gehen diesen Fragen schon seit mehr als zehn Jahren nach. Beide glauben an einen Wandel auf internationaler Ebene, der Bildung neu definieren und zur Lösung sozialer Probleme beitragen könnte. Das Treffen der beiden fand im Sommer 2013 in London statt. Es war ihre erste Begegnung, bei der sich aber sofort ein hohes Maß an Übereinstimmung und gegenseitiger Inspiration zeigte. Beide sind der Auffassung, es sei zu wenig, sich mit verbindlichen Richtlinien für Schulbildung zu begnügen und lediglich sicherzustellen, dass jedes Kind das nötige Rüstzeug erhält, um sich in der globalisierten Wirtschaft zu behaupten. Ebenso wichtig ist in ihren Augen ein neues Verständnis globaler und nachhaltiger Entwicklung, in deren Fokus es steht, dass Wissen (mit-) geteilt wird und Partnerschaften wachsen – mit dem Ziel einer Veränderung der Welt durch Zusammenarbeit.
S u g a t a M i t r a : „Save the Children“ – Rettet die Kinder – das hat heute wohl eine sehr
viel umfassendere Bedeutung als vor 100 Jahren. Es geht nicht mehr nur darum, Kindern in Hunger und Armut zu helfen. In manchen Teilen der Welt besteht das Problem eher darin, sie vor zu viel Fast Food zu bewahren. J a s m i n e W h i t b r e a d : Völlig richtig. Als Save the Children vor bald 100 Jahren ins Leben gerufen wurde, waren Kinderrechte eine revolutionäre Vorstellung. Heute ist es selbstverständlich, dass Kinder nicht hungrig ins Bett gehen oder ohne Schulbildung aufwachsen. Die internationale Entwicklung hat sich stark verändert, und die Umwälzungen sind noch nicht zu Ende. In ein paar Jahren werden wir diesen Bereich kaum wiedererkennen. M i t r a : Haben die Dinge vielleicht zu viel Tempo, verändern sie sich schneller, als wir – als Organisation – darauf reagieren können? W h i t b r e a d : In den letzten zehn Jahren hat es gewaltige Fortschritte gegeben, doch jetzt ist es an der Zeit, neue Antworten auf die Herausforderungen zu finden. Organisationen müssen strategische Entscheidungen treffen, und sie werden auch Neuland betreten müssen, um die Dinge zum Besseren zu wenden. 198
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Jasmine Whitbread
Im Jahr 2000 fand in Dakar im Senegal eine Tagung von Hilfsorganisationen statt. Damals gingen fast 120 Millionen Kinder nicht zur Schule. Seitdem arbeiten wir in einem großen Verbund daran, diese Zahl zu senken. Heute liegt sie nur noch bei 57 Millionen. Man sieht also, was gemeinsame Anstrengung vermag. Wir sind auf dem richtigen Weg. Doch das, was noch vor uns liegt, ist schwieriger zu bewältigen. Um weiter voranzukommen, brauchen wir wesentlich mehr Engagement von außen. M i t r a : Leider besuchen viele dieser Kinder Schulen, in denen es keine Lehrer gibt oder die sehr dürftig sind. Ein Jahr in der Schule, so glaubt man, entspreche einem Jahr Lernen. An vielen Orten mag das ja so sein, aber eben nicht überall. Also müssen wir uns die Schulen, die diese Kinder besuchen, sehr genau anschauen. W h i t b r e a d : Stimmt. Manche glauben, Save the Children sorge draußen in der Welt für Schulen und Lehrer. In Regionen wie dem Südsudan tun wir das auch. Aber die meisten Länder verfügen bereits über Schulen und Lehrer. Dort müssen wir uns eher darum kümmern, die Qualität der Bildung zu verbessern und effizientes Lernen zu fördern. Wir helfen bei der Erstellung von Lehrplänen, bilden Lehrer aus und arbeiten mit Regierungen und lokalen Verwaltungen zusammen, damit Schüler das Lehrmaterial und die Informationen erhalten, die sie brauchen. M i t r a : Schlechte Schulen sind nicht nur ein Problem von Entwicklungsländern. In manchen Gegenden der Vereinigten Staaten, der größten Wirtschaftsnation der Welt, ist die Bildung genauso dürftig wie in ländlichen Gebieten Afrikas. W h i t b r e a d : Um Qualität geht es überall. In den frühen neunziger Jahren habe ich zwei Jahre in Uganda verbracht. Als eines der ersten afrikanischen Länder hatte Uganda eine Grundschulbildung ohne Schulgebühren eingeführt. Eine aufregende Zeit, denn die Schulen waren plötzlich voll. Über die Lehrpläne allerdings hatte sich die Regierung kaum Gedanken gemacht. Die Kinder lernten also dasselbe, was auch ich Jahrzehnte zuvor in England gelernt hatte. Zum Beispiel über den Sankt-Lorenz-Seeweg, völlig nutzloses Zeug! [Lacht] M i t r a : Der Lehrplan in Uganda stammt aus dem Jahr 1895. W h i t b r e a d : Richtig. Ich erinnere mich noch an die baufälligen, fensterlosen Klas senräume mit Lehmboden. Oft hatten die Lehrer selbst nur die einfachste Schulbildung und waren nie angeleitet worden, wie sie Kindern helfen konnten zu lernen.
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Jasmine Whitbread ist CEO von Save the Children International, der weltweit größten unabhän gigen Kinderrechtsorganisation. Mit einem Budget von 6 Milliarden USDollar und weltweit 14.000 Mitarbeitern setzt sich diese Hilfsorganisation in 120 Ländern dafür ein, Kindern eine bessere Ausbildung, medizinische Versorgung und wirtschaftliche Chancen zu verschaffen. Darüber hinaus leistet die Charity-Organisation Hilfe für Opfer von Naturkatastrophen, Kriegen und anderen Konflikten. Nach fünf Jahren an der Spitze von Save the Children UK wurde Whitbread 2010 zum ersten internationalen CEO der Hilfsorganisation ernannt. Davor arbeitete sie sechs Jahre für Oxfam, zunächst als Regionalleiterin in Westafrika und anschließend als Direktorin für weltweite Hilfsprogramme. Jasmine Whitbread ist in London geboren und aufgewachsen. Nach dem Besuch der örtlichen Gesamtschule studierte sie Englisch an der Bristol University und arbeitete in den frühen neunziger Jahren als Freiwillige für den Voluntary Service Overseas in Uganda. Später war sie fast zehn Jahre in der Wirtschaft tätig, so zum Beispiel von 1994 bis 1999 als Hauptgeschäftsführerin von Thomson Financial. Sie besitzt die britische und die schweizerische Staatsbürgerschaft, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Aber schlechte Schulen sind nur ein Teil des Problems. Dazu kommt das Bildungssystem selbst. Das Unterrichtsmodell guter Schulen in reicheren Teilen der Welt geht ausnahmslos auf das 19. und 20. Jahrhundert zurück. Dieses Schulsystem entstand in der viktorianischen Ära, der Zeit der Kolonialreiche. Damals wurde alles mehr und mehr automatisiert, und vor diesem Hintergrund sollten Schulen vor allem Angestellte produzieren, die lesen, schreiben und rechnen konnten. Heute sind diese Angestellten überflüssig, weil Maschinen den größten Teil ihrer Arbeit übernommen haben. Trotzdem bestehen die Schulen weiter. W h i t b r e a d : Und die Schüler lernen Dinge, die sie nicht brauchen. Meine Tochter hat gerade die Schule beendet und besucht demnächst die Universität. Tests sind ihr immer leichtgefallen, und sie hat in den Abschlussprüfungen hervorragend abgeschnitten. Wir haben darüber gelacht, denn das Ablegen von Prüfungen bringt nichts mehr. Ein Jammer, dass sie wirklich gut in etwas ist, das sie im Leben kaum mehr brauchen wird. M i t r a : Ja, viele Fertigkeiten, die gelehrt werden, spielen heute keine Rolle mehr. Zum Beispiel Schreiben mit der Hand. Kinder verwenden viele Jahre darauf, eine schöne Handschrift zu erlernen. Aber das ist nicht mehr wichtig – man sollte es als Hobby betrachten, so wie Stricken. Auch die Rechtschreibung gehört dazu. Wir bringen sie den Kindern bei, und die meisten Eltern halten korrektes Buchstabieren für ungeheuer wichtig. Aber da die Kinder nicht mehr mit der Hand schreiben, korrigiert der Computer ihre Rechtschreibung. Mitra:
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Sugata Mitra
Wollen Sie damit sagen, Kinder sollten nicht mehr Buchstabieren lernen? M i t r a : Nein. Nur, dass die Technologie ihnen unter die Arme greift. Wenn man ein Wort einmal falsch schreibt, wird man von der Rechtschreibkorrektur erwischt. Schreibt man es wieder falsch, kommt wieder die Autokorrektur. Beim dritten Mal haben die Kinder es dann gelernt. Auf diese Art kostet Lernen keine Mühe. Das ist etwas ganz anderes, als einen Test zu schreiben oder gesagt zu bekommen, man sei schwach in Rechtschreibung. Ich beobachte das an Kindern auf der ganzen Welt, und ihre Reaktion ist immer die gleiche. W h i t b r e a d : Sie verlieren das Selbstvertrauen. M i t r a : Ja, aber nicht nur das. Sie ziehen nämlich einen Schluss daraus: „Und wenn schon!“ Dieser unausgesprochene Kommentar treibt Kinder, die älter werden, aus der Schule heraus. Sie sagen sich: „Ohne mich. Ich schmeiße es hin.“ W h i t b r e a d : Sie haben Recht. Oft versagt die tradierte Schule und ist unfähig, junge Menschen zu fördern. Wir müssen uns also überlegen, was wir ändern können. M i t r a : Ja. Eine Schule sollte Menschen hervorbringen, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen können. Das ist nicht dasselbe wie das Einmaleins, hier sind andere Fähigkeiten und Verhaltensregeln gefragt. Kinder etwa müssen wissen, wie sie sich Informationen beschaffen. Ständig starren sie auf ihre Handys und Tablets und wühlen sich durch Informationen. Aber wie sie richtig suchen, haben wir ihnen nicht beigebracht. Wir haben sie sich selbst überlassen, und nun müssen sie sich durch ein Meer von Informationen kämpfen, das wir geschaffen haben – mit Mitteln, die ebenfalls wir geschaffen haben. W h i t b r e a d : Kann man das in der Schule lernen? M i t r a : Meine Arbeit zielt weniger auf das Unterrichten ab – dieses Modell muss sich ändern. Mir liegt eher daran, Kinder zum eigenständigen Lernen zu bewegen. Immer häufiger stelle ich fest, dass sich Kinder, die man in einer Umgebung voller Informationen alleinlässt, wie ein selbstorganisierendes System verhalten. Whitbread:
Sugata Mitra
„ Ein guter Lehrplan ändert sich täglich – nicht nur alle fünf Jahre, wie es derzeit in den meisten Industrieländern der Fall ist.“ 202
Jasmine Whitbread
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„ Vor zehn Jahren glaubte man, die Bildungsprobleme der Welt ließen sich lösen, wenn man jedem Kind einen Laptop in die Hand drückt. Das klingt heute etwas naiv.“
Wenn sie mit Ideen und Informationen hantieren dürfen, kommt etwas in Gang. Der Fachbegriff dafür ist Emergenz, wie bei der Pflanze. Lernen tritt hervor wie eine Blüte, es passiert einfach. Für Kinder, die kaum Zugang zu Hilfsmitteln haben, ist das von hoher Bedeutung, denn auf diese preiswerte Art lernen sie mehr und besser als in der üblichen Umgebung. Setzt man als vorrangige Lernmethode selbstorganisierende Systeme ein, muss sich auch der Lehrplan selbst organisieren. Ein guter Lehrplan ändert sich täglich – nicht nur alle fünf Jahre, wie es derzeit in den meisten Industrieländern der Fall ist. W h i t b r e a d : Die Fragen, die Ihre Forschungen aufwerfen, sind sehr interessant. Im Nahen Osten und in großen Teilen Afrikas beklagen Unternehmen, dass sie keine ausgebildeten jungen Leute finden, die ihren Anforderungen entsprechen. In Ländern, in denen es kein viktorianisches Schulsystem gibt, könnten Ihre Ideen dazu beitragen, das alte Modell zu überwinden und eine neue Art Bildung hervorzubringen. M i t r a : Ein selbstorganisierendes System hat bestimmte Voraussetzungen. Zunächst braucht man eine Frage, die motiviert und neugierig macht. Darüber entscheiden Kinder häufig selbst. Aber man kann ihnen auch etwas Interessantes vorschlagen, mit dem sie sich dann beschäftigen, etwa eine ganz grundlegende offene Frage. Zum Beispiel: Warum sind Menschen die einzigen Wesen auf der Welt, die Kleidung tragen? Zehnjährige können sich stundenlang mit dieser Frage beschäftigen. Ähnliche Fragen lassen sich zu jedem anderen Thema entwickeln. Statt Kindern etwas beizubringen, was wir bereits wissen, könnten wir den Lehrplan doch auch um Dinge kreisen lassen, die wir noch nicht wissen. Das würde Kinder stärker ansprechen und ihnen helfen, mehr zu lernen. W h i t b r e a d : Dasselbe gilt für die Wirtschaft. Allzu oft greifen Unternehmen auf das Bekannte und Bewährte zurück, statt sich die wesentlichen Fragen zu stellen und Neuland zu erkunden. 203
Zu Gast in der Londoner Zentrale von Save the Children: Jill Ader, Egon Zehnder London, und Philippe Loewenstein, Egon Zehnder Brßssel, im Gespräch mit Jasmine Whitbread und Sugata Mitra.
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Richtig. Der zweite Schlüssel zur selbstorganisierten Lernumgebung ist der Zugang zu Informationen. Wenn Kindern die ganze Bandbreite des Internets auf Abruf zur Verfügung steht, funktioniert irgendwann das gesamte System. Die dritte und vielleicht wichtigste Bedingung ist äußerste Zurückhaltung der Erwachsenen. W h i t b r e a d : Was vermutlich schwieriger ist, als man glauben würde. M i t r a : Ja, manche Lehrer tun sich schwer mit Selbstorganisation – schon in der Theorie. Unser derzeitiges Bildungssystem unterstellt, dass man lernt, wenn man Unterricht bekommt. Wenn wir wollen, dass Kinder etwas lernen, heißt das, dass sie unterrichtet werden müssen. Aber es gibt noch einen anderen Weg. Wenn man zulässt, dass Gruppen von Kindern sich selbst organisieren, lernen sie ganz von selbst. W h i t b r e a d : Interessant, wie sich die Debatte über die Rolle der Technik in der Bildung in den letzten Jahren verschoben hat. Vor zehn Jahren glaubte man, die Bildungs probleme der Welt ließen sich lösen, wenn man jedem Kind einen Laptop in die Hand drückt. Das klingt heute etwas naiv. M i t r a : Ja – meine Forschungen zeigen, dass Gruppen von vier bis fünf Kindern, die einen einzigen Computer haben, mehr leisten als einzelne Kinder mit je einem eigenen Computer. Man hilft jungen Menschen nicht, wenn man ihnen einfach nur einen Laptop gibt. Computerhersteller hören das natürlich nicht gern. Kinder in Gruppen und ohne Lehrer lernen schneller als mit Lehrer im Klassenzimmer. Und das gefällt wiederum der Schule nicht. W h i t b r e a d : Da sind zu viele Interessen im Spiel. M i t r a : Ich möchte mich hier nicht in Schuldzuweisungen ergehen, sondern lediglich darauf hinweisen, dass wir ein 200 bis 300 Jahre altes Bildungsmodell im Gepäck haben. Das Ganze wirkt auf mich wie eine stumpfsinnige Maschine, die ein Produkt herstellt, das man nicht mehr braucht. Mitra:
Sugata Mitra ist Professor für Bildungstechnologie an der Universität von Newcastle in England. Er wurde 1952 im indischen Kalkutta geboren und studierte zunächst Informatik und Molekularwissenschaft, bevor er zu Biologie, Medizin und Psychologie wechselte und 1978 am Indian Institute of Technology in Physik promovierte. Mitra wurde vor allem wegen der „Hole in the Wall“- Experimente in den Slums von Neu-Delhi und anderen Orten bekannt. Dafür installierte er Computer mit Internetzugang in Maueröffnungen und wartete ab, was geschah. Es gab keine Lehrer und keine Anweisungen, lediglich freien Zugang zu einer Online-Welt voller Informationen. Die eifrigsten Nutzer waren Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren, die über keinerlei Erfahrungen mit Computern verfügten. Sie fanden schnell einen Zugang zu den Geräten und überwanden dabei sowohl Sprachgrenzen als auch Bildungsdefizite. Allein von Neugier und dem Interesse ihrer Altersgenossen angetrieben, brachten sie sich das Gelernte gegenseitig bei. Für diese Experimente, die bei Bildungswissenschaftlern große Aufmerksamkeit erregten, erhielt Mitra 2013 den angesehenen, mit 1 Million US-Dollar dotierten TED Prize. 206
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Sugata Mitra
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„ Unser derzeitiges Bildungssystem unterstellt, dass man lernt, wenn man Unterricht bekommt. Aber es gibt noch einen anderen Weg. Wenn man zulässt, dass Gruppen von Kindern sich selbst organisieren, lernen sie ganz von selbst.“
Ich sehe allerdings auch Anlass zum Optimismus. In der Bildung sind in den kommenden Jahren große Veränderungen möglich. Der Bereich internationaler Entwicklung macht gerade eine Phase kreativer Umwälzungen durch. Noch zu unseren Lebzeiten könnte er sich grundlegend wandeln. Denken Sie nur an die vielen Unternehmen, die sich einem sozialen Auftrag verpflichtet fühlen. Jedes Jahr kommen Tausende solcher Unternehmer zum Skoll World Forum nach Oxford. Ein Drittel aller Teilnehmer der MassChallenge, der Schmiede für Start-ups in Massachusetts, befasst sich mit sozialen Fragen. Immer mehr Firmen starten Projekte wie etwa das 10.000 Women Entrepreneurship Programme von Goldman Sachs oder The Girl Effect von Nike. In Großbritannien hat sich das Founders Forum unter der Leitung von Martha Lane Fox zum Ziel gesetzt, die Leistungen von Unternehmen aus dem Technologiebereich zur Lösung sozialer Probleme zu nutzen. Während diese neuen Akteure auf der Bühne erscheinen, treten traditionelle Player ab. DFID zum Beispiel, das Ministerium für internationale Entwicklung in Großbritannien, hat sich kürzlich aus Indien zurückgezogen. Das liegt daran, dass viele Länder, die wir in unserer Jugend als „Entwicklungsländer“ bezeichnet haben, mittlerweile Länder mit mittlerem Einkommen sind, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Wir wissen nicht, was kommt, aber mit etwas Glück könnten diese Trends große Veränderungen in der Weltentwicklung auslösen. M i t r a : Das stimmt – niemand weiß, was kommt. Die Dinge sind ungewiss und ver ändern sich zu schnell. Doch ich glaube, heutige Unternehmen müssen das Geschäftsfeld, auf dem sie tätig sind, mit sozialer Verantwortung – corporate social responsibility – verbinden. Wer das schon getan hat, steht an der Spitze seiner Branche. Denn gesellschaftlicher Wandel wird immer wichtiger. Besonders junge Whitbread:
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Jasmine Whitbread
Menschen hier im Westen fordern ihn. Wenn ich Studenten frage, was sie einmal machen wollen, höre ich oft: „Ich will mit meinem Leben etwas Sinnvolles anfangen.“ Interessanterweise bekomme ich auf diese Frage in Indien eine ganz andere Antwort. Dort heißt es: „Ich will Arzt werden“, „ich will Rechtsanwalt werden“, „ich will Ingenieur werden“. Indische Jugendliche denken über ihr Berufsziel noch in sehr traditionellen Bahnen. W h i t b r e a d : Das wird sich mit der Zeit wohl ändern. M i t r a : Vielleicht. Wenn es zum natürlichen Entwicklungsprozess gehört, ja, dann wird sich das ändern. Aber was, wenn es ähnlich geht wie mit der produzierenden Industrie, die heute fast ausschließlich in Asien sitzt? Was, wenn die Ärzte, Rechtsanwälte und Ingenieure der Zukunft alle aus diesem Teil der Welt kommen? Dann werden wir uns in einer merkwürdigen Welt wiederfinden, in der nicht nur alle Expertise aus dem Osten kommt, sondern auch die verarmte Bevölkerung. Waren und Dienstleistungen gelangen nach Westen, während die Menschen hier wieder in den Osten eilen, um dort den Benachteiligten zu helfen! [Lacht] W h i t b r e a d : Junge Leute in Indien werden sich wohl kaum sagen: „Ich will mich aufmachen und die Welt verändern.“ Aber Indien hat eine sehr lebendige Zivilgesellschaft. Und da die Wirtschaft weiter wächst, wird auch der Druck zunehmen, das Thema Ungleichheit anzugehen. Indien kann es sich zum Beispiel nicht leisten, die weitverbreitete Mangelernährung zu ignorieren, die nachfolgende Generationen belastet. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Indien selbst zum Geberland wird. Daher glaube ich daran, dass das alte Entwicklungsmodell – das meiner Meinung nach ohnehin kein gesundes war – bald abgelöst wird. M i t r a : Hoffentlich haben Sie Recht. Seit ich vor acht Jahren nach England gezogen bin, beobachte ich Indiens wachsenden Wohlstand. Man hat manchmal den Eindruck, dass dort eine Generation ziemlich verwirrter, aggressiver und materialistisch denkender Jugendlicher heranwächst. Sie akzeptieren keine Autorität und lehnen soziale und religiöse Überzeugungen ab. Wenn man sie fragt, woher die Werte stammen, die sie leben, antworten sie: „Hat es Amerika auf diese Art nicht bis ganz an die Spitze geschafft?“ Oft höre ich in indischen Großstädten das Kürzel WIIFM. Es bedeutet: „What’s in it for me?“, also „Was springt für mich dabei heraus?“. Jugendliche benutzen es ständig. Ein erschreckendes Wort. Wenn für diese Jugendlichen nichts dabei herausspringt, wollen sie nichts damit zu tun haben.
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Ein gutes Beispiel dafür, wie Entwicklung manchmal gerade an denen vorbeigeht, die sie am dringendsten brauchen. Heute wird viel von Verantwortung gesprochen, davon, dass man Rechenschaft geben muss. Aber damit ist nur die Rechenschaft gemeint, die man dem Kreditgeber gegenüber ablegt, nicht der betroffenen Bevölkerung. M i t r a : Ja, in der Bildung beobachte ich das auch. Forschungs- und Entwicklungs teams erarbeiten Problemlösungen, ohne Kinder einzubeziehen. Niemand spricht mit ihnen. W h i t b r e a d : Wir sind eine Kinderrechtsorganisation. Deshalb sind Kinder an der Entwicklung all unserer Programme beteiligt. Aber wir von Save the Children wollen möglichst viel erreichen. Das bedeutet: Damit andere etwas von unserer Arbeit haben und unsere Idee weitertreiben können, müssen wir einen Teil der Wertschöpfungskette abtreten. Das unterscheidet sich deutlich von einer Wirtschaft, der es darum geht, geistiges Eigentum zu schützen und Mehrwert für Share holder zu schaffen. Als Kinderrechtsorganisation haben wir es geradezu darauf angelegt, dass unsere Ideen kopiert werden. Unser Wissen soll öffentlich zugänglich sein. In dieser Hinsicht bleibt noch viel zu tun. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Als ich in Westafrika für Oxfam arbeitete, wollte ich unser dortiges Bildungsprogramm verbessern. Also unterhielt ich mich mit unseren Fachleuten. Ich fuhr zur Weltbank nach Washington und zu Geldgebern, die sich auf Bildung fokussieren. Doch wohin ich auch kam, es war sehr schwierig herauszufinden, welche Fußangeln es zu meiden galt und welches Qualitätsniveau überhaupt den Maßstab bildete. Geben Sie mal den Begriff „hochwertige Bildungsprojekte“ oder „quality education project“ in die Suchmaschine ein – es ist hoffnungslos! Es gibt zu wenig Austausch und Zusammenarbeit zwischen Organisationen verschiedener Bereiche. M i t r a : Über Nacht verändert man die Systeme nicht. Aber meine Sorge ist, sie könnten zusammenbrechen, bevor wir Gelegenheit haben, sie zu reparieren. W h i t b r e a d : Ja, wir müssen Kooperation lernen. Wenn wir es nicht schaffen, unser Wissen zu teilen und neue Formen der Partnerschaft einzugehen, laufen wir Gefahr, auf die internationale Entwicklung von heute mit Rezepten von gestern zu reagieren.
Whitbread:
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„ Entwicklung geht manchmal gerade an denen vorbei, die sie am dringendsten brauchen.“ 212
dialoge
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Heiner
friedrich
geissler
v o n  m e t z l e r
Politiker
Bankier
F r i e d r i c h v o n M e t z l e r (links) Bankier H e i n e r G e i ß l e r (rechts) Politiker
Öffentliches Anliegen und privates Kapital: Der Politiker Heiner Geißler und der Bankier Friedrich von Metzler diskutieren über Mut, Risiko und soziale Verantwortung zwischen staatlicher Regulierung und privater Initiative.
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In einer Villa im Frankfurter Stadtteil Bonames treffen der CDU-Sozialpolitiker Heiner Geißler und der Bankier und Mäzen Friedrich von Metzler zu einer Unterhaltung zusammen. Was als Gespräch im Haus Metzler über den abwesenden Herrn von Goethe beginnt, weitet sich schnell zu einem Diskurs über Mut und Risiko, Verantwortung und Tradition, die Zivilgesellschaft und die Herausforderungen der globalisierten Wirtschaft.
Ein wunderbares Haus haben Sie hier. Wenn ich nach Frankfurt komme, muss ich immer an Goethe denken, und ich glaube, hier hätte es ihm gefallen. F r i e d r i c h v o n M e t z l e r : Goethe bewundere ich sehr. Ich habe bei weitem nicht alles von ihm gelesen, aber ich finde bei ihm sehr viel Menschenkenntnis und Rat, wie der Mensch sich verhalten soll. Und Besinnung auf das Wesentliche, wie bei den Worten aus Willkommen und Abschied: „Und doch, welch Glück, geliebt zu werden! / Und lieben, Götter, welch ein Glück!“ Eine harmonische Ehe zu führen ist ja nicht selbstverständlich. Wie groß mein Glück ist, habe ich erst durch Goethe richtig verstanden. G e i ß l e r : Goethe ist sicherlich einer der ganz Großen, aber gerade bei Willkommen und Abschied habe ich meine Zweifel: „Ganz war mein Herz an deiner Seite … Ein rosenfarbenes Frühlingswetter / Umgab das liebliche Gesicht, / Und Zärtlichkeit für mich – ihr Götter! / Ich hofft’ es, ich verdient’ es nicht!“ v o n M e t z l e r : Das ist große Selbsterkenntnis! G e i ß l e r : Große Selbsterkenntnis, gewiss. Aber dann hat er sie trotzdem sitzenlassen. v o n M e t z l e r : Er hat mehrere Frauen sitzenlassen. G e i ß l e r : Aber in Faust II hat er den modernen Unternehmer geschildert, und das ist ganz großartig. Faust will das Meer bändigen durch einen Kanal, und alles an dere hat er vernichtet. Er ist blind, und er hört das Klirren der Spaten und denkt: „Jetzt geht es voran mit der Technik.“ Und Mephisto lacht nur, weil die Spaten Fausts Grab ausheben. „Und auf Vernichtung läuft’s hinaus“, sagt Mephisto: Das war die weise Voraussicht auf den Kapitalismus von heute – auf diesen Mach barkeitswahn. Deswegen ist Goethe ein ganz großer Geist. Er hat erkannt, was da auf uns zukommt. v o n M e t z l e r : Wenn es um Wirtschaft ging, lag er aber nicht immer richtig. Ein Vorfahr von mir – er hieß auch Friedrich – wollte 1792 eine Notenbank in Frankfurt errichten. Man sprach damals von „Zettelbanken“, die nach dem Vorbild der Bank of England den Geldverkehr erleichtern sollten. Damals hatten wir doch das Münzunwesen: Zur Frankfurter Messe mussten die Händler mit großen Säcken verschiedener Münzen anreisen. Auf seiner Reise nach Italien durchquerte Goethe zwölf verschiedene Währungszonen. Wie leicht ist das Reisen dagegen heute mit dem Euro als Zahlungsmittel in vielen Ländern! Heiner Geißler:
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Heiner Geißler
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Jedenfalls hatte Friedrich Metzler 1814 Goethe bei sich in Offenbach zu Gast. Mit dem ehemaligen Finanzminister am Hof zu Weimar wird er auch über das Projekt seines Lebens, die Zettel- und Wechselbank, gesprochen haben. Anschließend hat Goethe den Faust II geschrieben, wo er die Idee Zettelbank kritisch durchspielt: Der Kaiser ist pleite, ein deutliches Bild für ein häufiges Problem in einem Staat. Dann wird mit Mephistos Hilfe das Papiergeld kreiert, und für Goethe ist klar: Das kann eigentlich nur schiefgehen. In der Logik des Goethe’schen Dramas ist dieses Scheitern auch schlüssig dargestellt. Die von der Zauberkraft des Papiergeldes entfachte, zunächst blühende Wirtschaft kippt ins Zügellose. Das muss aber nicht grundsätzlich so geschehen. Das Projekt der Gründung einer Zettel- und Wechselbank, das mein Vorfahr gemeinsam mit anderen Frankfurter Bankiers verfolgte, basierte auf einem umfassenden Plan, der Risiken berücksichtigte und Sicherheitsleistungen sowie eine umfassende Kontrolle der Bankgeschäfte vorsah. Die Frankfurter Bankiers wussten schon damals, welche Fehler eine Bank nicht machen darf. Aufgrund der napoleonischen Wirren wurde die Notenbank-Idee meines Vorfahren erst im Jahr 1864 durch die Gründung der Frankfurter Bank realisiert. Hätte man das 40 Jahre früher gemacht, hätte Frankfurt eine enorme Bedeutung als Finanzplatz gewonnen! G e i ß l e r : „Der Handelnde ist immer gewissenlos“ – auch das ist von Goethe. Ich denke, das lässt sich auf den Widerspruch beziehen, dem wir zwischen Wirtschaft und Ethik so oft begegnen. Der mir aber überwindbar scheint, schließlich gibt es die soziale Marktwirtschaft – ein ethisches Bündnis zwischen dem Ordoliberalismus und der katholischen Soziallehre beziehungsweise der evangelischen Sozialethik. Erinnern wir uns: Ludwig Erhards wichtigstes Buch trägt den Titel Wohlstand für alle. Das deutsche Wirtschaftswunder besteht eigentlich darin, dass die alte soziale Frage – die Menschen sind arm, weil sie Arbeiter sind – gelöst worden ist durch die soziale Marktwirtschaft. Darum kann ich mich nicht daran gewöhnen, dass es zehn Millionen Menschen im sogenannten Prekariat gibt, die weniger als die Hälfte dessen haben, was an durchschnittlichen Löhnen bezahlt wird. v o n M e t z l e r : Mein Ideal ist eine sinnvolle und wirksame Synthese von Wirtschaft und Ethik. Und gerade weil die Wirklichkeit dieses Ideal oft aus den Augen verliert, muss man immer wieder daran erinnern. Ich freue mich, dass das alte Bild des ehrbaren Kaufmanns wieder modern wird. Für unsere Bank jedenfalls gilt:
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Heiner Geißler
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Wir wollen langfristig erfolgreich sein, und deshalb ist unsere Maxime, nach ethischen Grundsätzen zu handeln. Dass unser Haus seit mehr als drei Jahrhunderten existiert, das verdanken wir den vielen Metzlers, die in Krisenzeiten die richtigen Entscheidungen getroffen haben. In den dreißiger Jahren, als infolge der Weltwirtschaftskrise viele Banken um ihr Überleben kämpfen mussten, haben unsere Vorgänger die Bank ohne staatliche Hilfe durchgebracht. Mein Vater hat mir zwar die Bank vererbt, aber auch das Bewusstsein, dass ein solches Erbe mit einer hohen Verantwortung verbunden ist – den Kern dieser Aufgabe trifft wieder ein Goethe-Zitat: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen.“ G e i ß l e r : Ja, aber diese Haltung ist heute eher selten. Hilmar Kopper, lange Jahre Sprecher der Deutschen Bank, sagte vor einiger Zeit in einem Interview: „Heute wird die Welt regiert durch die drei großen Gs: Geld, Geiz, Gier.“ Das hat er kritisch gemeint. Es geht nur darum, dass man mit Geld Geld verdient. Und das ist natürlich das Gegenteil von moralischer Verantwortung. Dieser Vorwurf richtet sich vor allem gegen die Finanzindustrie. Ich meine nicht die Stadtsparkassen, die Kreissparkassen und die Genossenschaftsbanken. Ich meine auch nicht Ihre Bank, sonst wäre ich nämlich gar nicht hierhergekommen. Aber ich meine die großen Banken, die Investmentbanken, die ja die letzte Finanzkrise mit ausgelöst haben mit ihren Asset Backed Securities und Collateralized Debt Obligations und diesen ganzen fehlerhaften Derivaten – und die jetzt so weitermachen, als wäre nichts passiert. Demgegenüber hat die soziale Marktwirtschaft ein ethisches Fundament, das sich nicht am Geld orientiert, sondern am Menschen. Dieser Kerngedanke ist in der Praxis mittelständischer Unternehmen, wie ich sie
Heiner Geißler steckt noch immer voller Überraschungen. Zwölf Jahre lang (1977 bis 1989) war Heiner Geißler Generalsekretär der CDU, seit 2007 ist er Mitglied der globalisierungskritischen Organisation Attac. Er war von 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit und vermittelt seit Mitte der neunziger Jahre regelmäßig in Tarifkonflikten – und wirkte 2010 und 2011 als Schlichter im Konflikt um das Bahnhofsbauprojekt Stuttgart 21. Und vor nicht allzu langer Zeit sprach sich der gelernte Jurist dafür aus, dem NSA-Whistleblower Edward Snowden in Deutschland Asyl zu gewähren. Geißler, 1930 in Oberndorf am Neckar geboren, trat nach dem Abitur als Novize dem Jesuitenorden bei, verließ ihn jedoch nach vier Jahren vor dem Ablegen des Ordensgelübdes. Gleichwohl hat er der Erziehung durch die Jesui ten nach eigenen Worten viel zu verdanken: „Ich habe ein gesundes Selbstbewusstsein gelernt, bin zu Zivilcourage und Weltoffenheit erzogen worden. Das hat mir im Beruf und in der Politik sehr geholfen. Außerdem war soziale Verantwortung neben der Gottesliebe ein ganz wichtiges Ziel der Ausbildung.“ Heiner Geißler ist ein passionierter Bergsteiger und Drachenflieger. 221
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Heiner Geißler
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Historische Kulisse: Im Haus Metzler, einem im Frankfurter Stadtteil Bonames gelegenen ehemaligen Landhaus seiner Familie, traf sich Friedrich von Metzler mit Heiner Geißler. Moderiert wurde die Begegnung von Caspar von Blomberg, Egon Zehnder München, und Ulrike Krause, „Connecting Leaders“.
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etwa aus Baden-Württemberg kenne, nach wie vor realisiert. Aber diese Unternehmen sind in Gefahr – eine zweite Finanzkrise dieses Kalibers werden sie nicht überstehen. Und darum müssen wir meiner Meinung nach das jetzige Wirtschaftssystem überwinden. v o n M e t z l e r : Dem möchte ich widersprechen. Ich glaube, dass wir durchaus in einer sozialen Marktwirtschaft leben – ein System, das allen anderen Wirtschaftssystemen überlegen ist, wie die Geschichte wiederholt gezeigt hat. Die Medien mögen es manchmal anders darstellen, aber gerade in Deutschland besteht ein reger Dialog zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ich erkenne daraus den grundsätzlichen Wunsch nach Konsenslösungen, und die sind ein Schlüssel für den Erfolg deutscher Unternehmer. Auch das hat dazu beigetragen, dass Deutschland besser durch die Krise gekommen ist als andere Länder. Und ich bezweifle, dass sich mit noch so ausgefeilten rechtlichen Rahmenbedingungen Krisen vermeiden lassen. Krisen wird es immer wieder geben. Darauf muss man sein Geschäft einstellen. Der Mittelstand weiß um diese Herausforderung. Wir als Bank wissen, dass Krisen kommen werden; wir wissen nur nicht, wann und in welcher Stärke. Deswegen schütten wir nur eine geringe Dividende aus und halten hohe stille Reserven. Wir gehen mit unserem Geschäft keine nicht vertretbaren Risiken ein. Aber es wird immer Menschen geben, die unverhältnismäßige Risiken eingehen. Darum wird es auch immer wieder Spekulationen geben, und ich fürchte, keine Regulierung wird das verhindern. Politiker möchten dem gern entgegensteuern – getragen von dem Wunsch, die Bürger zu schützen. Man darf aber nicht der Illusion verfallen, mit der Regulierung der Banken, wie jetzt auf europäischer Ebene, ließen sich künftige Krisen vermeiden. G e i ß l e r : Brauchen wir aber nicht doch eine Reform der internationalen Finanzstrukturen? Für jede Windel und jede Kaffeemaschine müssen Sie Umsatzsteuer bezahlen, aber die Geldgeschäfte werden mit keinem einzigen Cent zur Finanzierung der großen Aufgaben herangezogen. Jeden Tag werden an den Börsen zwei Billionen Dollar umgesetzt, ist es da zu viel verlangt, dass sich die Devisenhändler und Spekulanten wenigstens mit einem minimalen Prozentsatz beteiligen sollen –
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„ Mein Ideal ist eine sinnvolle und wirksame Synthese von Wirtschaft und Ethik.“ 224
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was weiß ich, zwei Stellen nach dem Komma? Die G 20-Staaten haben bereits vor fünf Jahren in Edinburgh beschlossen, Finanzprodukte zu standardisieren. Ich glaube schon, dass wir eine internationale sozialökologische Marktwirtschaft brauchen. Deswegen bin ich auch Mitglied von Attac geworden – nicht um den Markt abzuschaffen. Das kann man nicht, das darf man auch gar nicht. Aber es muss ein geordneter Markt sein. Also – die Einführung einer internationalen Transaktionssteuer halte ich für richtig. v o n M e t z l e r : Sie verwenden zu Recht das Wort „international“ – und daran wird das Vorhaben scheitern. Mit derartigen Fehlsteuerungen treiben wir nur unser Geschäft ins Ausland. Seit den fünfziger Jahren geben wir Finanzarbeitsplätze von Deutschland an Luxemburg, London und andere ausländische Standorte ab. Das hat nichts mit steuerlichen Gründen zu tun, sondern dabei handelt es sich um völlig reguläre Arbeitsplätze; und wir haben sie nicht verloren, weil die Regulierung im Ausland lockerer gewesen wäre, sondern unsere war einfach unvernünftig. Wir würden Arbeitsplätze in der Finanzwirtschaft verlieren, die Steuer würde in einer globalisierten Welt umgangen – und man hätte nichts erreicht. Deswegen glaube ich nicht, dass die Finanztransaktionssteuer Chancen hat. Wenn wir etwas durchsetzen, um unseren Mitbürgern zu zeigen: Wir haben gehandelt, dann müssen wir wissen, dass dieses Handeln Arbeitsplätze aus Deutschland ins Ausland verlagert. G e i ß l e r : Also gut, Sie sind der Fachmann, doch … v o n M e t z l e r : Danke, dass Sie mir Recht geben. G e i ß l e r : Das können Sie erst sagen, wenn ich mit meinem Satz fertig bin. Sie sind der Fachmann, und ich weiß, dass es Einwände und Bedenken gibt. Aber es gibt auch genügend Vorschläge, wie so eine Steuer aussehen könnte – auch von der EU-Kommission. José Manuel Barroso ist Professor der Betriebswirtschaftslehre und wohl kaum verdächtig, Sozialist zu sein. Inzwischen hat ja auch die CDU diese Steuer in ihre Programmatik aufgenommen. v o n M e t z l e r : Mir scheint, das unternehmerische Interesse an einer langfristigen Per spektive bewirkt weit mehr als rechtliche Regularien. Wir haben eine große Stabilität unter unserer Kundschaft. Der Kunde muss zufrieden sein, damit er bei uns bleibt. Obwohl die Banken heute keinen guten Ruf haben, kommen Kunden zu uns, die wir gar nicht akquirieren mussten. Ihnen wurde unser Haus empfohlen – darüber freuen wir uns natürlich sehr. Ein solches Vertrauen erwirbt man nur, wenn die Kunden ihr Vermögen auch langfristig gut betreut wissen. Dabei spielen auch ethische Überlegungen eine Rolle. 225
Heiner Geißler
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Friedrich von Metzler repräsentiert die elfte Generation der Frankfurter Bankiersfamilie Metzler. Als er 1971 persönlich haftender Gesellschafter der Privatbank B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA wurde, war das Haus fast 300 Jahre alt. Heute konzen triert sich die Bank auf die Vermögensverwaltung und das Kapitalmarkt geschäft. Friedrich von Metzler ist mitverantwortlich für die Geschäfts- und Risikostrategie sowie die Kundenbetreuung. Zudem wirkt er als Mäzen und Stifter. Über die Albert und Barbara von Metzler-Stiftung werden zahlreiche kulturelle und soziale Anliegen finanziert, unter anderem Sprachkurse für ausländische Fachkräfte. 227
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Aber in der Bevölkerung ist dieses Vertrauen weitgehend geschwunden. Als Generalsekretär der CDU habe ich 1979 eine Umfrage beim Allensbacher Institut in Auftrag gegeben. Damals stimmten über 80 Prozent der Leute der Aussage zu: „Wenn es der Wirtschaft gut geht, dann geht es auch mir gut.“ Heute sagen das noch 17 Prozent. Das heißt, 63 Prozent der Menschen haben das Vertrauen in das ökonomische System verloren. Und dieses Misstrauen haben sie auf die Politik übertragen, weil sie nämlich völlig zu Recht sagen, dass die Politik in Zukunft durch die Global Players gesteuert wird. Sie sind eine vorbildliche Bank, gar keine Frage. Aber die Politik ist für alle verantwortlich, für jeden Busfahrer, jede Verkäuferin und jede Arzthelferin. Das sind Millionen von Menschen. Die werden wahrscheinlich nicht Kunde Ihrer Bank sein, aber in der Politik sind sie da. Und sie sind unverzichtbar. Die Politik muss dafür sorgen, dass die Wirtschaft auch einen humanen Auftrag hat. Sie darf nicht über Leichen gehen. Es haben ja Millionen von Menschen ihre Vermögen verloren, vor allem in Amerika mit den Pensionskassen, die mit riskanten Aktien spekuliert haben. Millionen von Menschen haben ihr Leben lang gearbeitet und stehen am Ende ihres Arbeitslebens praktisch vor dem Nichts, weil eben die ethische Grundlage nicht mehr da ist, nämlich das Menschenbild, sondern sich die reinen Kapitalinteressen durchsetzen. v o n M e t z l e r : Diese Fälle werden immer wieder als Beispiel für die angeblich risikoreichen Aktien genannt. Das geht aber am Kernproblem vorbei. Ich halte es für viel riskanter, keine Aktien zu haben. Eine kluge Geldanlage beruht auf einer breiten Streuung, und dazu gehört unbedingt die Aktie, die langfristig die erfolgreichste Anlageklasse ist. Sehen Sie sich die Schweizer Pensionskassen an, die halten einen Aktienanteil von rund 30 Prozent und erwirtschaften für ihre Klientel sehr gute Renditen. In Deutschland verhindert die zunehmende Regulierung oftmals einen solchen Aktienanteil – zum Schaden der Anleger, die damit auf lange Sicht besser für ihr Alter vorsorgen könnten. Risiken sind notwendig und auch unvermeidbar – das gilt nicht nur für den Umgang mit Geld. Aber es sollten möglichst kalkulierbare oder einschätzbare Risiken sein. In der Geschichte unserer Bank haben wir so viele verschiedene Zeiten erlebt, dass wir keine unabschätzbaren Risiken eingehen. Wir denken in Generationen. G e i ß l e r : Was Risiken angeht, stimme ich Ihnen zu. Ich komme vom Bergsteigen her. Auch da gibt es beherrschbare und nicht beherrschbare Risiken, objektive und subjektive Gefahren. Die objektiven Gefahren lassen sich bestenfalls minimieren – Steinschlag, Lawinen, Wetterumschwung. Aber die subjektiven Risiken können Sie beseitigen, indem Sie einfach mental und physisch so gut auf der Höhe sind, dass Sie ein bestimmtes Risiko, das auftritt, beherrschen. Geißler:
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Heiner Geißler
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Heiner Geißler
„ Die Zivilgesellschaft muss stärker an demokratischen Prozessen beteiligt werden.“ In der Politik geht es um das Schicksal von Millionen von Menschen und um die Grundrisiken des menschlichen Lebens – Alter, Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit. Wie wir damit umgehen, ist eine politische Frage. Für diese Risiken brauchen wir die solidarische Absicherung. Man kann nicht ein Volk mit 82 Millionen Menschen zur Absicherung dieser Grundrisiken auf den Kapitalmarkt verfrachten. Wohin das führt, sieht man am Beispiel der Pensionsfonds in den Vereinigten Staaten. Das heißt, wir brauchen als Grundsicherung wirklich eine Volks versicherung. Und dann muss darauf eine private Versicherungspflicht aufsetzen, so wie in der Schweizer Rentenversicherung. Deswegen trifft das, was ich über die Minimierung der objektiven Risiken gesagt habe, auch auf die Politik zu. Aber die subjektiven Risiken können Sie in der Politik nicht ausschließen. Gegen Krankheit kann man etwas tun, aber von 100 Leuten sterben 100, da ist nichts zu machen. v o n M e t z l e r : Auch eine Volksversicherung muss investieren. Hier gilt wieder die De vise einer breiten Kapitalstreuung. Um den Vermögensstock zu erhalten und zu vermehren, müssen auch Substanzwerte berücksichtigt werden, also reale Unternehmenswerte in Form von Aktien. Meiner Meinung nach lässt sich langfristig nur so eine adäquate Altersvorsorge aufbauen. Was mich aber aktuell noch mehr beschäftigt, ist die Situation der jungen Menschen, vor allem die hohe Arbeits losigkeit in vielen südeuropäischen Ländern. Das ist schlimm für die Betroffenen, für die Wirtschaft dieser Länder, für das Gemeinwesen. Hier gibt es schon viele Initiativen, aber ich wünsche mir, dass noch viel mehr geschieht. G e i ß l e r : Ihr Unternehmen und viele mittelständische Betriebe sind letztlich davon abhängig, dass wir in unserer Gesellschaft die richtige Ordnung erreichen. Und das ist es, was die Politik leisten muss. In den vergangenen 60 Jahren ist Deutschland eine Erfolgsstory gewesen – und zwar durch ein vernünftiges Zusammen gehen von Politik und Wirtschaft. Statt Klassenkampf haben wir Partnerschaft, statt Kapitalismus oder Sozialismus haben wir die soziale Marktwirtschaft, auch die ökologisch orientierte Marktwirtschaft. Das macht ja auch die Ausnahmestellung von Deutschland aus. Es gibt genügend Länder, die das nachmachen wollen, selbst die Chinesen. Als ich das letzte Mal in China war, bin ich nach un serer Sozialpolitik gefragt worden. Dort hat man inzwischen deutlich gemerkt, dass es so nicht weitergeht. Und die sind auch immer mehr gegen Korruption, zumindest sagen sie das. In Peking beklagte sich ein Generalstaatsanwalt bei mir über die Korruption im Lande. Ich sagte, dagegen gebe es ein ganz einfaches Mittel. „Ja“, sagte er, „die Todesstrafe.“ „Nein“, sagte ich, „die Pressefreiheit!“ 229
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Friedrich von Metzler
„ Krisen wird es immer wieder geben. Darauf muss man sein Geschäft einstellen.“ 230
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Heiner Geißler
Ja, es gibt in Deutschland und Europa fast keinen Korruptionsfall, der durch Polizisten oder Staatsanwälte aufgedeckt worden wäre. Die meisten Fälle hat die unabhängige, freie Presse aufgedeckt, erst dann hat sich die Justiz ein geschaltet. In China und anderswo gedeiht die Korruption auch deshalb so gut, weil eine unabhängige Presse fehlt! G e i ß l e r : Wobei eine freie Presse nur da entstehen und vor allem wirken kann, wo eine Gesellschaft besteht, die sich als Gesellschaft begreift und auch bereit ist, sich für ihre Interessen zu engagieren. Aber das muss ich Ihnen nicht erzählen – als Mäzen tragen Sie ja selbst dazu bei, die Entwicklung der Bürgergesellschaft zu fördern. v o n M e t z l e r : Wir sehen uns nicht als Mäzene, sondern wollen gestalten. Ich erzähle Ihnen ein Beispiel: Kurz vor dem Jubiläum unseres 325-jährigen Bestehens bat uns ein Frankfurter Museumsleiter um Unterstützung beim Ankauf eines japanischen Holzschnitts. Da sagten wir: „Wir sind dabei, wenn Ihre Mitarbeiter mitsammeln.“ Darauf er: „Das wird schwierig – das sind Wissenschaftler, für die ist es irgendwie unangenehm, Geld zu sammeln.“ Da haben wir uns entschlossen, die bad boys zu sein und haben eine Million Mark an die Museen in Frankfurt ausgelobt – und wenn die Museen ihrerseits noch eine Million Mark sammelten, dann würden wir eine weitere Million hinzugeben. Das ist unser 1 + 1 = 3 - Projekt. Und da waren die Bedenken auf einmal gar kein Thema mehr. Die Mitarbeiter sind alle losgelaufen, und schließlich waren es zehn Museen, die nicht eine, sondern fünf Millionen sammelten. Das war das schönste Geschenk zu unserem Jubi läum! Und so sehen wir unsere Aufgabe: Wir wollen gestalten, wo es notwendig ist. Der Staat kann nicht alles selbst regeln. Er braucht die freie Bürgerinitiative. G e i ß l e r : Was Sie da sagen, ist im Grunde genommen ja eine Selbstinszenierung der Zivilgesellschaft. Es gibt immer mehr Menschen, die sich für einen bestimmten Zweck zusammenschließen, zum Beispiel um Musik zu fördern; meine Söhne sind Preisträger von Jugend musiziert. Oder für den Naturschutz mit dem BUND und Greenpeace. Oder denken Sie an Attac, Amnesty International oder den Deutschen Alpenverein. Diese Zivilgesellschaft ist sehr lebendig. Ich bin aber der Meinung, dass sie stärker an demokratischen Prozessen beteiligt werden muss.
F r i e d r i c h v o n M e t z l e r
von Metzler:
Heiner Geißler
„ Ich habe mir in meinem politischen Leben abgewöhnt, Angst vor Menschen zu haben.“ 232
Wir brauchen eine Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch eine unmittelbare Bürgerbeteiligung, vor allem bei Großprojekten. Wenn es darum geht, einen Bahnhof, eine Stadtbahn oder die Trassen der Energieversorgung zu bauen, dann muss man die Bürger mitnehmen. Wir müssen in Deutschland auch in der Zukunft industrielle Großprojekte schaffen können, und wenn die Menschen nicht beteiligt werden, dann läuft alles auf, so wie es bei Stuttgart 21 der Fall gewesen ist. v o n M e t z l e r : Ich bin immer wieder überrascht von der Bereitschaft der Menschen, etwas für die Allgemeinheit zu tun. Aber oft brauchen sie einen Anstoß von außen und manchmal auch passende Ideen. Man muss die Leute ansprechen. G e i ß l e r : Und man muss sich klar machen, dass wir nicht allein sind. Der Mensch ist ein Sozialwesen. Das meiste Unglück auf der Welt kommt ja durch den Egoismus, durch den Mangel an Bereitschaft, für andere da zu sein. Ich habe das erst bei den Jesuiten gelernt. Eigentlich war ich sehr egozentrisch und wollte mich überall durchsetzen. Die Erziehung bei den Jesuiten hat mich vollkommen verändert. v o n M e t z l e r : Das klingt ja fast ein wenig nach Demut. G e i ß l e r : Ach, Demut ist eigentlich nichts anderes als Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst: sich so einschätzen, wie man wirklich ist, und sich entsprechend verhalten. Ich glaube, das ist Demut. Ich muss nicht vor anderen Menschen kriechen. Ich habe mir in meinem politischen Leben abgewöhnt, Angst vor Menschen zu haben. Das würde ich auch jedermann empfehlen – obwohl das natürlich leichter gesagt als getan ist, wenn man zum Beispiel als Verkäuferin im Supermarkt arbeitet. Dazu brauchen Sie eben solidarische Unterstützung, und wir brauchen Gewerkschaften für eine positive unternehmerische Entwicklung. v o n M e t z l e r : Ihre Definition der Demut gefällt mir sehr. Wir haben im Unternehmen darüber diskutiert, was eigentlich unsere Werte sind. Wir einigten uns auf Unabhängigkeit, Unternehmertum und Menschlichkeit. Ich habe auch das Wort Wahrhaftigkeit in die Runde geworfen, aber das fanden alle ein bisschen zu groß. G e i ß l e r : Ja, aber das ist ein wichtiges Prinzip. v o n M e t z l e r : Unbedingt. Ich finde es sehr schön, dass Sie das sagen. G e i ß l e r : Man darf allerdings auch keinen Wahrheitsfanatismus pflegen. Als Privatmensch müssen Sie eine Frage nur wahrheitsgemäß beantworten, wenn der Fragende ein Recht hat, sie zu stellen. v o n M e t z l e r : Dieser Wahrheitsfanatismus richtet großen Schaden an. Wenn man dem anderen seine Privatsphäre nicht lässt, dann kann man sehr viel kaputtmachen. G e i ß l e r : In der Politik gilt diese Einschränkung natürlich nicht, das Volk hat immer Anspruch auf die Wahrheit – und Menschen, die sich lieben.
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Herausgeber D r. M i c h a e l E n s s e r Chefredakteurin D r. U l r i k e K r a u s e Projektmanager Markus Schuler Redaktionsanschrift Egon Zehnder Corporate Communications Rheinallee 97 40545 Düsseldorf Gestaltung und Produktion A n z i n g e r | W ü s c h n e r | R a s p , M ü n c h e n Fotos Fritz Beck (Seite 36 – 57, 82 – 99) Robert Fischer (Seite 172 – 193) J ü r g e n F r a n k ( S e i t e 1 0 2 – 123 , 15 0 – 169 ) M a t t h i a s Z i e g l e r ( S e i t e 1 0 – 33 , 6 0 – 79 , 126 – 14 7 , 19 6 – 235 ) S o l a r I m p u l s e | R e v i l l a r d | R e z o ( S e i t e 3 0 ) Druck Longo AG, Bozen
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