turi2 edition #5 The Digital Me - Das Ego in Zeiten des Internets

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Michael Jackson mit Tränen in den Augen bei einem Auftritt vor Oxford-Studenten. „Ich bin das Produkt eines Mangels an Kindheit.“ Der Trick der Psyche: Narzissmus immunisiert gegen die Kritik, ein Narzisst zu sein. Als Krankheitsdiagnose „ICD-10“ existiert die „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ erst seit 1980 – seit dem Beginn des ersten Ich-ich-ich-Jahrzehnts, das Jahrhundertnarzissten wie Prince, Madonna, Axl Rose und Michael Jackson hervorbrachte. Psychologen unterscheiden dabei zwischen dem „grandiosen“ – nach Anerkennung und Erfolg strebenden – Narzissten und dem „vulnerablen“, seine Depressionen überdröhnenden Narzissten. Unglücklich sind sie beide. „Karriere ist etwas Herrliches“, hat Marilyn Monroe mal gesagt, „aber man kann sich nicht in einer kalten Nacht an ihr wärmen.“

Der Trick ist die Psyche: Narzissmus immunisiert gegen die Kritik, ein Narzisst zu sein Ein Grund für die Jagd des Narzissten nach Glamour und Aufmerksamkeit – so meint der Berliner Philosophieprofessor Byung-Chul Han – liegt darin, dass Innerlichkeit und Einkehr in der medialen Verwertungskette keinen Resonanzboden fänden. Stattdessen bestimmten Sichtbarkeit und Oberflächlichkeit den Alltag, in dem sich lauter narzisstische Ichs im Leerlauf befänden, die sich selbst fremd sind. So entsteht statt Selbstbewusstsein eine kollektive Selbstbewusstlosigkeit. Komikerin Carolin Kebekus („Pussy Terror TV“) irritiert die sinnleere, apolitische Haltung „all dieser BeautyYouTuberinnen“. „Da geht es um nichts anderes als: Schuhe, Frisurentipps und wie man möglichst wenig isst“, sagte sie der „Welt am Sonntag“. Manche YouTuber hätten Millionen Fans, aber nichts anderes im Kopf als Frisuren. „Das macht einem schon Angst. Ich glaube nicht, dass man das einfach als vorübergehendes Phänomen abtun kann.“

YouTube-Narzissten sind die perfekten Symbolfiguren einer durchökonomisierten Gegenwart, die Gemeinschaft nur simuliert Jede Ära hat die Ikonen, die sie verdient. James Dean brauchte drei Filme und einen Autounfall, um zum Mythos zu werden, weil er, wie Andy Warhol sagte, „der beschädigten, aber wunderbaren Seele unserer Zeit vollendeten Ausdruck verleiht“. Insofern sind die YouTube-Narzissten perfekte Symbolfiguren der durchökonomisierten Gegenwart, die Gemeinschaft nur simuliert. Der ruhmsüchtige Mensch, der aus seinem banalen Leben Kapital schlägt, ist der Phänotyp unserer Zeit. „Little Miss Overshare“ heißt ein Comicbüchlein von Dan Zevin. Ruhm verspricht Distanz zur Masse der Nichtberühmten. Wer berühmt ist, hebt sich ab vom Mittelmaß, steht auf einem unsichtbaren Sockel aus Bewunderung. Tausende jagen diesem diffusen Traum nach. „Ich muss berühmt sein, sonst bin ich niemand“, sagte der US-Musiker James Hetfield von der Hardrockband Metallica. Dabei erleben Millionen im Kleinen den uralten Konflikt der Großen: Entweder man verweigert ihnen die Anerkennung. Dann stampfen die kleinen Prinzessinnen bebend vor Zorn aus dem „DSDS“-Studio und jammern über Inkompetenz und – Ironie! – Selbstüberschätzung der Jury. Oder sie werden zerrissen zwischen Mensch und Image, zwischen Fremd- und Selbstbild. Denn Ruhm ist ja in Wahrheit eine einzige Überforderung. Irgendwann, wenn der Instagram-Account mit dem Leben nichts mehr zu tun hat, wird’s gefährlich. „Ein Image und ein Mensch sind zweierlei“, sagte Elvis Presley. „Ich bin es leid, Elvis zu sein. Wenn dein Kopf zu groß wird, bricht er dir den Hals.“ Dagegen hilft kurzfristig die Erhöhung der Dosis. turi2 edition #5 · Digital Me

„Der Teil meines Verstandes, in dem die Vernunft beheimatet ist, brüllt immer lauter: Robbie, hör’ endlich auf mit dem Popstar-Mist“, sagte Robbie Williams zu Beginn seiner Karriere. „Aber noch antwortet mein Ego genauso laut: Gib mir mehr von dem Wahnsinn!“ Die Erwartungen des Publikums an die Kaste der Prominenz sind hoch. Und das hat Folgen. Eine US-Studie hat ergeben, dass 26 Prozent aller befragten Prominenten irgendwann in ihrem Leben Alkoholprobleme haben. In der „Normalbevölkerung“ sind es 14 Prozent. Die Selbstmordrate bei Berühmtheiten liegt bei 4,4 Prozent gegenüber etwa einem Prozent bei Nichtberühmten. Marilyn Monroe nahm 1962 eine Überdosis Schlaftabletten, Nirvana-Sänger Kurt Cobain erschoss sich 1994 in Los Angeles. Und Romy Schneider bekämpfte die Düsternis in ihrer Seele immer wieder mit Alkohol und Tabletten, bis sie im Mai 1982 starb. „Wenn Reichtum einen höheren Rang einnimmt als Weisheit, wenn Bekanntheit mehr bewundert wird als Würde, wenn Erfolg wichtiger ist als Selbstachtung, überbewertet die Kultur selbst das ,Image‘ und man muss sie als narzisstisch ansehen“, schrieb der US-Psychotherapeut Alexander Lowen. Willkommen im Troubadix-Paradies.

Die Quelle des Übels: Die Neigung des Menschen, unrealistische Selbstkonzepte zuzulassen Die Quelle des Übels liegt in der Neigung des Menschen, unrealistische Selbstkonzepte zuzulassen. Und – paradoxerweise – im Bemühen verunsicherter Eltern, ihren Kindern Selbstbewusstsein einzuimpfen. Alle Eltern kennen die Beispiele von Familien, in denen Kinder selbst bei falschen Mathelösungen enthusiastisch gelobt werden, „damit sie keine Frustrationserlebnisse haben“. Ein verheerender Erziehungsfehler. Die moderne Forschung zeigt, dass die Selbstidealisierung von Kindern ihren Ursprung im überdrehten Lob ihrer Eltern hat. Diese Kinder kennen im Leben kein höheres Ideal als sich selbst. „Kinder glauben ihren Eltern, wenn die ihnen sagen, sie seien besser als andere“, sagt Brad Bushman von der Ohio State University in Columbus. Gut für eine Karriere im Licht der Öffentlichkeit. Schlecht für das Leben. Für Alice Miller („Das Drama des begabten Kindes“) sind Depression und Größenwahn zwei Seiten derselben Medaille. Beides entstehe, wenn Kinder Ventile suchten für Gefühle und Interessen, die sie nie äußern konnten – auch, weil ihre Eltern ihnen das Gefühl mit auf den Weg gaben, die eigene Großartigkeit ständig beweisen zu müssen. Kinder reagieren fast auf dieselbe Art auf chronisch lobende und emotional kalte Eltern: mit einem beständigen Hungern nach Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Das Bemühen der Eltern, ihr Kind zu stärken, erzeugt also genau das Gegenteil. Es ist wie immer im Leben: Die Dosis macht das Gift. „Ist das nicht der Wahnsinn, was mein Donald geschafft hat?“, rühmte Fred Trump seinen Zweitgeborenen 1977. Da hatte er ihn gerade mit einer Million Dollar Startkapital ausgestattet. Donalds älterer Bruder Freddy hörte solche Lobpreisungen nicht. Er starb 1981 mit 43 Jahren an Alkoholmissbrauch.

Imre Grimm ist Autor beim Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) der Madsack Mediengruppe

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