Vestits de Ceba

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DER WINTER WIRD KOMMEN UND ZWIEBELKLEIDER TRAGEN

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nd wenn es so wäre, dass eine einzige Musik alles in der Welt beendet und vervollständigt? Was kann uns schließlich daran hindern, uns wie ein großes Gehör in der Erwartung auf das Ganze hin zu entwickeln? Eine Zwiebel kann der Beginn der Welt sein: Sie bewegt sich zentripetal, Schicht auf Schicht, und definiert den nie geklärten Raum, der das physische Leben einschließt. Dürre Kleider, die doch leben und dem Maß eines Gedichtes entsprechen. Die von ihnen ausgehende Leichtigkeit, hervorgerufen durch die Aktion des Entkleidens, haftet an einer besetzten Realität, die sich vor der Gewalt zurückzieht und, wenn auch namenlos, doch höchst absichtsvoll die Pflanze hervortreten lässt. Wie kommt es, dass ihr mich in ein strahlendes Gewand gekleidet habt, das mit dem Glanz der Unsterblichkeit leuchtet und all meine Glieder erhellt?, fragt in einer Hymne Simeon der neue Theologe, ein byzantinischer Mystiker und Prediger der Liebe. Drei Qualitäten der Poesie -Schlichtheit, Gefühl und Aufrichtigkeit- sind auch in der bloßen und delikaten Darstellung der Zwiebeln von Toni Vidal zu finden. Diese Bilder vermögen es gleichermaßen, die Grenze zwischen Erlesenheit und Armut, zwischen Einfachheit und Eleganz, zwischen Natur und Kunst aufzuheben. Aber das „gefällige Schauen“, das uns sein Auge anbietet, verfolgt nicht nur die angenehme Rhetorik des Schönen, sondern besteht darauf, den Glanz von dem zu zeigen, was der Erde nahe ist. Winter: Das Eis des Lebens ohne Güte lähmt uns, mit verbundenen Augen und aus der Entfernung schreiten wir voran. Aber etwas aus dem Nirgendwo hält uns an, und dann gelingt es uns, Interesse für das Profil eines Bildes aufzubringen: die ungewisse Leichtigkeit eines Kleides, das im Fest des Universums raschelt. Es sind die Finger, die Hände eines Fotografen, der vor leuchtenden und nuancierten Hintergründen alte Reste aus den verschiedenen Lebensetappen einer Knolle arrangiert. Was für niemanden sichtbar war, verwandelt sich hier in Puls oder Ausdruck eines Verlangens, eines Willens, gehört zu werden, und die Zwiebelkleider werden Blumen, Tanz oder Atem für den, der sie zu verstehen sucht. In einer Notiz der Tagebücher von Paul Valéry sagt der Dichter, dass seine Ethik auf zwei Prinzipien gründet: das Maß an Leiden des Menschen nicht zu erhöhen und etwas mit dem Menschen zu machen. Diese Ethik verpflichtet implizit die Ästhetik eines jeden Schöpfers: nichts Böses hinzufügen, aber Bewusstsein schaffen. Die Prinzipien der Poesie gelten ebenso für die Prinzipien der Fotografie. Die geflügelte Zerbrechlichkeit einer Spezies, die wie die Zwiebel der

Erde entstammt und praktisch bis in das Immaterielle emporsteigt, eröffnet dem endlichen Menschenwesen ein Gebiet für die Hoffnung. So ist es, dass die knochenblanken oder kupferglühenden Kleider sich unberührt darbieten, als ob ihre statische Bewegung eine Kraft freisetze und gleichzeitig einer Musik gehorche, die das Auge nur im Schauen erfassen kann. Die kugelförmigen Dolden der Zwiebelknolle –gebildet im Halblicht des Vergessens in regensprühenden Gärten–stimmen jetzt in schönen Gewändern der Hoffnung, der Poesie oder der Überraschung ein neues Lied an. Cebes de servar, Winterzwiebeln, sind es, denen der Künstler dieses zusätzliche und dauerhafte Leben gewährt, wie Jorge Manrique es ausdrückte: ein drittes Leben, das nicht das eigene ist, aber viele andere Dinge in sich trägt. Die milchige Faust des Gemüses haspelt sich wie ein unendlicher Faden von Möglichkeiten und Codas ab, während die Schalen, die Häute oder die Kleider sich in Gedanken verwandeln, die der Künstler ausdrücken will. Als einziger Führer dient hier das stille Wort. Aus einer Pflanze wird plötzlich ein Cellophan, auf dessen Seite ein erschütterndes Wort steht: alles ist nichts. Und das immer wieder aufs neue. Eine Peripherie wächst im Ungehorsam gegen einen Mittelpunkt und die Zwiebelkleider umarmen die Ecken des Bildes, ohne auf die Richtung ihrer Haltung zu achten. Schaut an die Verbindungen, die Zwischenräume, das Zusammenfließen, die Falten, welche Figuren von Reitern auf Nilpferden erfinden oder sich in ruhige Orchideen und ausgetrocknete Staubfäden verwandeln; dies alles in einem Fries subtiler Hervorhebungen, die das Wasser erinnern und tägliche Wegweiser für die Orientierung des Geistes aufstellen. Es sind die zivilen oder die mystischen Zwiebeln, die moralischen oder die poetischen Zwiebeln, lanzettförmig, hyperbolisch, kapriziös, Produkt tief eindringender Hacken, gekeimt für das gleiche Sternbild, Andromeda der Bescheidenheit, kosmisches Zwiebelfeld gepflanzt von einem einzigen Gärtner, der das Licht filtert und belichtet zu mehr Licht. Toni Vidals Aufgabe ist es, aus der weltlichen Materie poetische Materie zu machen; noch genauer, aus der Zwiebel Wurzel des Zeichens zu machen. Die Farbstoffe, die er dafür verwendet, sind Teil der Knolle selbst und werden so durch eine neue Anordnung entschädigt für ihre anonyme Existenz. Ein neuer Atem verbindet und trennt sie und deckt ihre Mängel und Geheimnisse auf. In diesem Spiel bleibt die Hand des Fotografen unsichtbar: Er will, dass wir dem objektiv schwachen und trotzdem überzeugenden Objekt direkt gegenübertreten. Mit eigener Stimme, aber mit dem Willen, von

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der Gemeinschaft gehört zu werden, sitzt Vidal nicht zu Gericht, sondern zeigt anhand seiner geduldigen Arbeit, die Zwiebeln aus dem Vergessen herausreißt, einen Grund zum Schauen. Wie in einem Kinderspiel, in dem die Spieler sich in zwei Gruppen gegenübersitzen und sich festhalten und versuchen, die Zwiebel, die Person der Gegengruppe, loszureißen, schlägt uns der Fotograf das gleiche Spiel vor –und alle Spiele, das wissen wir ja, sind unbestreitbar ernst zu nehmen. In anderen Worten, aus dem Unbedeutenden sollen wir die Kraft des Bedeutenden herausziehen: auf leichte Art, wie im Spiel, wie jemand, der mit der Urunschuld die Realität auswählt, der wir die Hand geben. Was wir auf den folgenden Seiten sehen, wird uns weit hinausführen in der Betrachtung, wird uns ausfüllen mit Schönheit und uns daran erinnern, dass alles, worauf wir achten sollen, der Vereinigung, der versöhnenden Kraft der Kunst entspringt, so treffend illustriert in einem Tanka des Kaisers Meiji, in Bezug auf die physische Welt und die Gedankenwelt. Worte, die passend dem fotografischen Garten vorstehen, den wir jetzt gleich erreichen. In meinem Garten, eine neben der anderen, einheimische Pflanzen und fremde Pflanzen wachsen üppig. Susanna Rafart Barcelona, März 2010 Übersetzung aus dem Katalanischen: Heide Axmacher


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