SOFA

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99 noch zwei wochen, dann bin ich den zyklus durch und beginne von vorne. sie wissen ja, bloss ein euro pro geschichte. und zwei sessionen am tag. die erste version zu mittag, sie entspricht ungefähr der letztversion des vorjahres, die neudichtung folgt am abend. wer an beiden sessionen teilnimmt, kann die eintrittsquittung vom vormittag bei der prinzessin am abend als 50% rabattcoupon verwenden. lateinamerika wird heute übersprungen und sie erfahren daher auch nichts vom wundersamen leben eines bigamisten, der von den frauen mit nassen lappen und besenstielen durch ein dorf am amazonas getrieben wurde. wir kommen stattdessen zu meiner letzten station in amerika und begeben uns in die unüberschaubare und nach allen seiten hin ausgefranste hauptstadt von mexiko. dort, an einer gut 40 kilometer langen, schnurgeraden straße, liegt das hotel, in dem ich zuletzt als portier ge­arbeitet habe. es ist ein kleines, aber komfortables hotel, in dem jedes zimmer von einem anderen künstler gestaltet worden ist. die gäste sind meist europäer. ich unterhielt mich gerne mit ihnen, aber ich habe dabei solche sehnsucht nach europa bekommen, dass ich eines morgens genau so spontan beschloss zurückzukehren, wie ich einst beschlossen hatte zu verschwinden. ich war auf keiner fahndungsliste, doch ich konnte mich nicht überall blicken lassen, schon gar nicht in leipzig. dort galt ich als tot. das hoffte ich jedenfalls. weil ich gehört hatte, dass die daten der flugpassagiere nunmehr von den amerikanern kontrolliert würden, wagte ich es nicht, einen flug zu buchen. stattdessen heuerte ich in acapulco auf einem frachtschiff an, das mit seinen aufbauten aus rohren und türmen dem anblick einer erdölraffinerie ähnlich kam. in wirklichkeit war es eine gigantische transport- und trocknungsanlage für tabakpflanzen. ich war als laborgehilfe beschäftigt. jede halbe stunde öffnete ich in meinem plexiglashäuschen ein breites, doch sehr niedriges fenster und zupfte aus den vorbeiziehenden hängekörben aus eisengitter ein paar tabakblätter heraus, die ich in einem speziellen blender zu einer grünlich braunen paste zerschredderte. meine aufgabe bestand darin, jede halbe stunde den feuchtigkeitsgrad dieser paste zu bestimmen und die daten mit der jeweiligen nummer des hängekorbes, aus dem ich die probe entnommen hatte, in eine liste einzutragen. das war auf diesem schiff mein job. die ladung war ständig in bewegung und durchlief während der überfahrt unterschiedlich temperierte trockenräume, die etagenweise in das schiff eingebaut waren. zwischen diesen geheizten hallen,

die bis zum maschinenraum hinabreichten, gab es belüfte­te zwischendecks. in einem mit zwei meter fünfzig höhe, und über der wasserlinie, wohnte die mannschaft. dass es noch mindestens ein weiteres bewohntes zwischendeck gab, hat mir niemand gesagt und es war auch auf keinem schiffsplan eingezeichnet. ich kam auch nicht aus eigenem klugsinn dahinter, sondern die entdeckung widerfuhr mir, weil ich offenbar zu zweifeln anlass bot. mein vorgesetzter matrose, ein in marseille aufgewachsener algerier, der aussah, als wäre er schon bei der jagd nach mobby dick an bord dabei gewesen, hielt es für besser, mich während der durchfahrt durch den panamá-kanal zu verstecken. nicht dass er mir das vor antritt der reise angekündigt hätte. nach fünf tagen fahrt kam er mit forschem schritt auf mich zu. ich sah ihn schon von weitem. er riss die plexiglastüre auf und befahl mir mitzukommen. während er mich durch die gänge und eisernen stiegenhäuser schubste, brüllte er den anderen befehle zu. es ging darum, wer sich um was kümmern sollte, und dabei führte er mich, für alle anderen sichtbar, regelrecht ab. er brachte mich in einen lagerraum für schmiermittel. er sperrte die tür ab, klappte den am boden liegenden lattenrost hoch und öffnete einen mit versengten flügelmuttern verschraubten deckel. scheiß dich nicht an, sagte er in seinem besten französisch, ne chie pas dans ton froc, es gibt zwei ausgänge, die man von innen öffnen kann. dann schaute er mich auf eine weise an, als wäre er nicht nur ein verfechter, sondern auch ein kunstsinniger vollstrecker der todesstrafe. aber diese ausgänge werden nur benutzt, fügte er hinzu, wenn auch mir hier draußen schon so der arsch brennt, dass ich nicht mehr jeden einzelnen von euch persönlich erschlagen kann! er deutete mit einer einladenden geste, dass ich nun mit dem abstieg beginnen dürfe. sein ton wechselte in ein freundliches, fast väterliches bedauern: es ist etwas niedrig da unten, aber ihr habt alles, was ihr braucht. ihr, hatte er gesagt. ich konnte mich auf gesellschaft gefasst machen. mit dem fuß tastete ich mich zur ersten sprosse hinab, dann zur nächsten. mein vorgesetzter matrose blickte mich von oben an, plötzlich beugte er sich nieder, grinste mir ins gesicht und angelte aus meiner brusttasche die zigarettenpackung heraus. er hob sie hoch. meine blaue mexikanische zigarettenpackung und sein strafender zeigefinger. ich war mit meinem abstieg auf der dritten stufe angelangt. von der hüfte abwärts befand ich mich in der unteren etage. meine zigarettenpackung und sein zeigefinger schwangen hin und her, dabei verkündete mein

der geschichtenerzähler Josef Haslinger


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