TRACKS Magazin 5 12 (September/Oktober 2012)

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Let the Music do the talking Es ist gut, dass es Musikerinnen wie Joss Stone gibt, die sich keinem Diktat unterwerfen und die keine Superstar-Aura spazieren tragen. Wo ihre Kolleginnen gleichen Alters und gesanglichen Kalibers gerne mit entsprechender Kostümierung und fragwürdigem Diventum auffallen, trägt Joss Stone lediglich ein ansteckendes Lächeln und vorzugsweise keine Schuhe auf der Bühne. Das ist klug, denn damit bleibt eine Menge Platz für ihre grossartige Stimme. ip. Mutter Natur hat ein launisches Wesen. Als sie nämlich Giraffen und Schnabeltiere erfand, präsentierte sie ihren Sinn für Humor. Schönheit streute sie über die Südsee, Blumen über Marilyn Monroe. Bei der Verteilung von Talent geht sie jedoch nach einem sehr undurchsichtigen Prinzip vor. Jocelyn Eve Stoker durfte allerdings in hohem Ausmass von der positiven Seite dieses Prinzips profitieren, denn am 11. April 1987 war die Natur in Geberlaune und schüttete gleich eimerweise Talent über das gerade geborene englische Mädchen aus. Das zeigte sich 13 Jahre später, als das Mädchen in der britischen Talentshow „Star for a Night“ bereits in den Castings auffiel und mit dem Donna Summer Hit „On The Radio“ schliesslich den Wettbewerb gewann. In der Folge wurden mit Andy Dean und Ben Wolfe zwei Produzenten aus London auf sie aufmerksam und vermittelten den Teenager mit den Worten: „Wir haben gerade die beste Stimme gehört, die je aus diesem Land kam!“ nach New York an Steve Greenberg, den Besitzer des S-Curve-Labels. Der liess Jocelyn nach New York einfliegen und sich unter anderem Otis Reddings „Sittin' On The Dock Of The Bay“ und Aretha Franklins „(You Make Me Feel Like) A Natural Woman“ von ihr vorsingen und nahm sie sofort unter Vertrag. Kurze Zeit später stand Joss Stone neben gestandenen Soulgrössen wie Betty Wright oder Timmy Thomas und zusammen mit der Band The Roots im Studio, um ihr Debut „The Soul Sessions“ einzuspielen. Das Album enthielt Coverversionen von an sich wenig bekannten Songs des Genres. Die 15-jährige Joss interpretierte diese Songs allerdings mit dermassen viel Seele und Reife, dass man sich nicht nur fragte, woher dieses junge Mädchen so eine erfahrene Stimme hatte, sondern das Album vom Erscheinungsjahr 2003 bis 2005 auch dreifaches Platin verdiente. Von dem Moment an war Joss Stone der neue Stern am Soulhimmel. Ihr Folgealbum „Mind Body & Soul“, das sie als ihr eigentliches Debut bezeichnet, da es praktisch ausschliesslich aus Eigenkompositionen besteht, wurde ihr bislang Erfolgreichstes. Sie konnte an die Erwartungen ihres ersten Releases anknüpfen, gewann mit einer moderneren Note aber auch neue Fans hinzu. Bemerkenswert ist, dass es trotz dieses Erfolges kein einziger Song des Albums unter die Top 100 der Billboard Charts schaffte. Aber diese Tatsache spricht eindeutig dafür, dass es Joss Stone bis heute vor allem auf die Qualität der Musik ankommt, und nicht davon abhängt, ob es eine Single ins Radio schafft. Ihre Musik kommt spontan und aus dem Bauch und nicht selten entscheidet sie ganz kurzfristig erst im Studio, welche Songs letztlich auf einem Album landen. Diese Arbeitsweise führte vor rund drei Jahren dazu, dass sie sich von ihrer Plattenfirma EMI trennte und ihr eigenes Label unter dem Namen Stone'd gründete. Der Grund dafür war ihr Album „Colour Me Free!“, dass sie ohne Wissen der Firma aufgenommen hatte. „Ich wachte eines Morgens auf und wollte ein Album machen“, erklärte sie damals. Also ging sie mit ein paar Musikern in ein Studio, das ihrer Mutter gehörte, und spielte innerhalb einer Woche dieses relativ roh belassene Album ein. Die fertigen Aufnahmen präsentierte sie ihrer Firma, die aber wenig begeistert davon war. „Colour Me Free!“ ging zurück zum traditionellen Soul, hatte kaum moderne Ansätze und Stone verzichtete auf gesangliche Experimente und das Diven-Tralala, in deren Richtung sie die Firma eigentlich hatte schieben wollen. Stone sagte dazu in einem Interview: „Ich verstand das nicht. Da hatte ich ihnen ein tolles,

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günstiges Album gebracht, und sie wollten es nicht.“ Für sie bedeutete das eine so drastische Einschränkung ihrer künstlerischen Freiheit, dass sie sich aus dem Vertrag freikaufte. Die Platte erschien mit mehr als einjähriger Verspätung. Bis der Zwist beseitigt war, betätigte sich Stone aber unter anderem auch als Schauspielerin. Im Film „Eragon“ hatte sie bereits 2006 eine Rolle übernommen und in einigen anderen Filmen mitgewirkt. Als weitere grosse Produktion spielte sie in der TV-Verfilmung „The Tudors“ die Anne of Cleeves und sprach Figuren für die Zeichentrickserie „American Dad“. Aber auch musikalisch blieb sie nicht untätig. Sie trat unter anderem mit Rod Steward auf und performte mit ihm den Song „Hot Legs“, stand mehrere Male mit der Gitarrenlegende Jeff Beck auf der Bühne, um auch eine sensationelle Version der Nummer „I Put A Spell On You“ vorzuführen und ehrte Pete Townsend und Roger Daltrey mit ihrer Version von „My Generation“. Für karitative Zwecke sang sie mit Annie Lennox den Track „Sing“ ein, der für die weltweite AIDS-Kampagne genutzt wurde und beteiligte sich an der Neuauflage von Band Aid. Die Kollaboration, die in der letzten Zeit wohl am meisten Aufsehen erregte, war die Gründung der Supergroup SuperHeavy. Rolling Stone Mick Jagger und Dave Stewart von den Eurythmics versammelten mit Joss Stone, Damian Marley (jüngster Sohn von Bob Marley) und dem indischen Multitalent A.R. Rahman eine bunte Elite an Ausnahmemusikern. Vor einem Jahr erschien das vielgelobte Album gleichen Namens mit zwölf Songs, die man aus über 35 Stunden Material ausgewählt hatte. Mit Dave Stewart verbindet Joss Stone übrigens auch die Arbeit ausserhalb dieses Projektes. Der stille Brite schrieb und produzierte zusammen mit Joss Stone deren Alben „Colour Me Free!“, „LP1“ und „The Best Of Joss Stone“ (beide letztgenannten 2011). Mit „The Soul Session Vol. 2“ kommt nun Joss Stones neues Album heraus und gilt als Weiterführung ihres Debuts „The Soul Session“ aus dem Jahr 2003. Das Prinzip blieb erhalten, denn auch auf dieser Platte finden sich ausschliesslich Coverversionen aus den 60er und 70er Jahren. Allerdings hat sich für Stone einiges geändert, was die Aufnahmen angeht. Das fasste sie für das Blues & Soul Magazin so in Worte: „Damals war ich die kleine Schülerin, neben all diesen grossartigen Künstlern, vor allem im Vergleich zu Betty Wright (Soul-Ikone aus Miami). Heute auch wenn ich nie auslerne- habe ich das Gefühl, dass ich genug darüber weiss, wie ich diese Songs singen und zu meinen machen kann. Deshalb suche ich gerne selbst die Musiker aus, mit denen ich zusammenarbeite. Das ist mir lieber, als wenn jemand anders sie für mich aussucht. Das ist ein riesiger Unterschied im Vergleich zur ersten Soul Session.“ Das Resultat spricht für sich, denn „The Soul Session Vol. 2“ ist ein rundum gelungenes und abwechslungsreiches Album geworden, das vor allem ihre grossartige Stimme ins richtige Licht rückt. Nichts wirkt übertrieben und gekünstelt. Joss Stone hat gelernt, auf ihren Bauch zu hören und setzt ihr Talent zugunsten des Songs ein. Sie lässt sich nichts mehr vorschreiben, schreibt ihre Songs nach Gefühl und präsentiert sie barfüssig und im langen Kleid auf der Bühne. Mit einem Lächeln wie eine Brise im Mai, aber einer Stimme wie ein Orkan. Und vielleicht gibt es als Nächstes von ihr ein Album, das Reggae und Soul vereint. Das sagt sie zumindest, weil sie da Lust drauf hat und ihr das gut gefällt. Joss Stone funktioniert genau so, weil die Natur sie genau deshalb mit Talent überschüttet hat, damit die Musik durch sie spricht.


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