Schauspielhaus Zürich 2009 – 2019

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gehalten, andere entschuldigen das Benehmen und sind froh, man nimmt den verloren Geglaubten wieder in die Mitte, knuff t ihm die Seite, beäugt ihn misstrauisch, bis man das ganze Theater vergessen hat. Und ein andermal will sie kurz an die frische Luf t, die Post holen oder ihre Mutter besuchen, zum Abendessen sei sie wieder da. Sie reist leicht, packt nichts ein, kein Proviant, keine Wäsche, kein Buch, die Abwesenheit wird kurz und die Rückkehr schnell, zwei Küsse oder gar nichts, kein Händedruck, man wird sich wiedersehen, bevor der Tag zu Ende ist, da erübrigen sich die Formalitäten. Doch als der Abend kommt, bleibt der Flur still, die Glocke schlägt nicht an, der Hund bleibt ruhig. Die erste, unruhige Nacht, ohne Schlaf, die Kissen zerknüllt, noch eine Zigarette auf dem Balkon, aber keine Nachricht, das Telefon bleibt stumm am nächsten Morgen, der Mittag ohne Mahlzeit, der Magen zugeschnürt, die Kehle trocken, es wird für immer still bleiben, keine Umarmung mehr, die Fragen bleiben unbeantwortet. Du füllst die Formulare aus. Die Schuhe sind noch da, der Schal auch, die alte Brille setzt Staub an, es ist der Staub des Todes, der sich über alles legt, nur nicht über die Erinnerung, die sich nach Streifzügen in die sonnigen Tage immer wieder festfrisst am Moment, als sie den Mantel vom Haken nahm und aus der T ür ging. Und hätte es einen letzten Blick gegeben, fragst du dich, wäre darin ein Vorzeichen, eine Ahnung zu erkennen gewesen der kommenden Stunden, Tage, Wochen? Jahre, die ausgefüllt sein werden von einem Abschied, der kein Ende nimmt, weil wir meinen, es hätte eine Gelegenheit geben müssen, ein letztes Wort. Wir fordern das Recht auf Ankündigung. Es wird nicht gestattet. Wir wollen uns vorbereiten. Als könnte man jemals bereit sein dafür. Wir tragen die Ephemeriden ein in die Kolonnen unseres Lebens. Am Weg, den wir gegangen sind, können wir nicht ablesen, durch welches Gelände die Strecke vor uns führt. Kümmern wir uns nicht mehr um die Vergangenheit. Sie hat es nicht verdient. Lassen wir doch das Gerede: Sehen, als wäre es das erste Mal. Es ist das erste Mal! Wozu sich um die alten Griechen scheren: Sie haben sich geirrt. Jedenfalls sind sie tot und keine Hilfe. Sich nicht an den vergangenen Erfolgen messen und die Irrtümer unter den Teppich kehren. Narben nicht mit Verletzungen in Verbindung bringen. Die Wolke am Himmel von heute nicht mit den Wolken von gestern vergleichen. Das Brot, das trockene, kauen und nicht daran denken, wie frisch es gestern war. Die Milch des Tages nicht kochen und für die kommenden Jahre retten. Nicht das

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