The Gap 136

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Im Puls der Nacht, Wienpop, Schnitzelbeat

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Nach mehreren Jahrzehnten, in denen die Wiener Popmusikgeschichte aus gerade einmal ein paar Samplern und Diplomarbeiten bestand, erscheinen 2013 gleich drei Bücher, die sich sehr unterschiedlich mit dem Thema auseinandersetzen und allein deshalb schon unverzichtbar sind.

Im Puls der Nacht

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Den Anfang machte Heinrich Deisl, Chefredakteur des Musikmagazins Skug, mit einem soziologischen und kulturwissenschaftlichen Buch, das auf engstem Raum Fakten und verschüttetes Wissen über Wien verdichtet. Man merkt in jeder Zeile den Einsatz, mit dem hier gearbeitet wurde. Das Thema, die Jahre 1955 bis 1976, kommen zwar erst relativ spät vor, das erweist sich aber ausnahmsweise überhaupt nicht als Nachteil. Deisl klebt Theoreme, Filme, Politik, Songs und Alltag aneinander und liefert damit das anspruchsvollste der drei Bücher ab. Deisl arbeitet dabei nicht streng wissenschaftlich, er filtert und interpretiert, das aber mit so viel Sachkenntnis, dass man ihm bereitwillig auf seine Erkundungsreise folgt.

Wienpop 03

04 persönlich. Im Fernsehen gab es mehr Musikflächen, »Wurlitzer« zum Beispiel, und generell mehr Kulturflächen. Gibt es die »Wiener Blase«? Damit ist gemeint, dass man schnell mal dazu neigt, in Wien zufrieden zu sein, aber nicht ganz den Mut hat, rauszugehen. Auch, dass man Wien in Wien überschätzt. vera kropf: Ja, die Wiener Blase kenne ich nur zu gut. Ja, Panik haben ja gleich Wien ganz den Rücken gekehrt, auch für Clara Luzia war das hart, sich ihr Publikum zu erspielen. Man führt hier Interviews mit fünf oder sechs Medien und glaubt, man hat jetzt einen kleinen Star-Moment, aber in Berlin hat das natürlich niemand mitbekommen. pulsinger: Weltweit Reisen ist heute kein Privileg mehr. Du kannst genauso international sein, aber keinen Fuß aus der Tür setzen. cid rim: Ich habe mir in den letzten Jahren oft gedacht, dass es der logische Schritt wäre, in die nächstgrößere Stadt zu gehen. Aber ich bin zu dem Fazit gekommen, dass es viel angenehmer ist, dreimal in der Woche Mails mit Leuten in London zu schreiben als mir dort jeden Tag 16 Stunden wie alle anderen den Arsch aufzureißen, um etwas zu essen zu haben. Solang ich die richtigen E-Mail-Adressen habe, kann ich mich auch nach Gramatneusiedl setzen.

Patrick Pulsinger 01 ist Popfest-Kurator und seit den frühen 90ern als Musiker, Produzent und Diskutant essenzieller Teil Wiener Popmusik. Stefan Trischler 02 war als 1773 x Trishes für den Amadeus nominiert, beobachtet bei FM4 als Host von Tribe Vibes und auf Supercity vor allem HipHop und Artverwandtes. Cid Rim 03 hat letztes Jahr sein Debüt auf dem schottischen Bass-Music-Label Luckyme (Hudson Mohawke, Baauer, Rustie, etc.) veröffentlicht. Vera Kropf 04 pendelt zwischen Wien und Berlin, singt bei Luise Pop und engagiert sich beim Girls Rock Camp. Einen jährlichen Querschnitt durch Wiener Musik bietet das Popfest, heuer von 25. bis 28. Juli rund um den Wiener Karlsplatz.

Der dickste Ziegel mit unzähligen Interviews, ein paar Millionen Zeichen Transkripte, die thematisch collagiert wurden, wie man das bereits von »Verschwende deine Jugend« über deutschen Punk bzw. »Es muss was geben« über Linzer Punk kennt und schätzt. Der Vorteil: Es werden darin viele unterschiedliche Meinungen und Wahrheiten abgebildet, neigt nicht zu Geschwurbel und ist damit sehr angenehm zu lesen. Der Nachteil: Wie wählt man aus? Wen lässt man überhaupt zu Wort kommen? Kann man Drum’n’Bass in Wien ignorieren, nur weil es in den 90ern wenig Artefakte, also Platten dazu gab? Von allen Büchern taugt es sicher am meisten als Geschenk, kommen doch gefeierte Leute wie André Heller, Marianne Mendt, Wolfgang Ambros, Kruder & Dorfmeister ausgiebig zu Wort. Obendrauf gibt es noch Massen an Plattencovers und unschätzbare Fotos aus Archiven. Verfilmung anyone?

Schnitzelbeat Al Bird Sputnik kommt zu Recht auch in »Wienpop« üppig vor. Im Unterschied zu den anderen hat er mit seinem Buchprojekt über Beatmusik in Österreich einen enzyklopädischen Anspruch auf Vollständigkeit und versteht sich als Fan und Sammler, der die verschüttete Geschichte von Rock in Österreich vor und während Austropop mit Tonnen von Archivmaterial und Jahren der Recherche mit den Trash Rock Archives (Youtube-Kanal bitte abonnieren) wieder zugänglich machen will. Über 100 Zeitzeugen wurden dafür aufgespürt, mehr als 1.000 Covers, Bandbiografien werden mit Essays interpoliert. Das Buch soll im Dezember erscheinen, davor soll ein Sampler (»Trash Rock Archives Volume One – I Love You Baby!«) veröffentlicht werden. »Im Puls der Nacht – Sub- und Populärkultur in Wien 1955–1976« von Heinrich Deisl, 240 Seiten (Turia + Kant) »Wienpop: Fünf Jahrzehnte Musikgeschichte erzählt von 130 Protagonisten« von Walter Gröbchen, Thomas Mießgang, Florian Obkircher, Gerhard Stöger, 400 Seiten (Falter Verlag) »Schnitzelbeat – Handbuch zu Rock-N-Roll, Beat, Folk, Pop und Proto-Punk in Österreich (1956–1976)« von Al Bird Sputnik, presented by Trash Rock Archives, 300 Seiten (Redelsteiner Dahimène Edition) 021

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