Sailing Journal Ausgabe 37

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Morgens zwischen eins und vier ist es am schlimmsten. Langsam kriecht die Flautenkälte Zentimeter für Zentimeter am Körper empor. Erst werden Füße, Hände und die Nase kalt. Dann Beine, Arme, Hals. Dunkelheit. Stille. Nur hin und wieder plätschert träge ein fremder Rumpf am eigenen Boot vorbei. Ein aufmunterndes Wort auf den Weg. Kaffee? Ist in der Thermoskanne längst erkaltet. Alkohol? Der macht nur noch müder als die Crews ohnehin schon sind. Gespenstisch schweben grüne, rote, weiße Lichter über das Wasser. Wie lange noch?

Aus dem Logbuch der ROCKING GIRL: 14 Uhr: Bekanntmachen mit der Crew am Kopfsteg der Seglergemeinschaft am Müggelsee. Antje Fischer und Mirco Krüger von der SGS Potsdam, Christoph Klärner vom Span-

15 Uhr: Startschuss zur 20-Stunden-Wettfahrt. Nur zwei Yachten hatten einen besseren Start als wir. Darunter Michael Rehberg auf seiner modernen Variante eines 20-

dauer Yachtclub sowie Joachim Rieken und Michael Kramer vom Segler-

Quadratmeter-Jollenkreuzers mit dem schönen Namen

Club Gothia fragen, ob ich Ölzeug dabeihabe. Ich stutze. Hatte der Wet-

VERFOLGUNGSWAHN. Mit an Bord: Die Ex-Vorschoter von

terfrosch nicht etwas von schwachen Winden aus West erzählt?

Jochen Schümann, Ingo Borkowski und Gunnar Bahr.

mmer mehr Segler nutzen die Möglichkeit, in Berlin auf Langstrecke zu gehen. Die gibt es in der Bundeshauptstadt gleich zweimal: Im Südosten der Binnenmetropole läuft die 20-Stunden-Wettfahrt, nach Wikipedia „eine von elf bedeutenden Regatten, die in oder teilweise in Deutschland stattfinden“. Ausrichter ist die Seglergemeinschaft am Müggelsee (SGaM). Das Pendant im Westen heißt Sechzig Seemeilen, veranstaltet vom in Berlin ansässigen Potsdamer Yacht Club (PYC). Beide Langstreckenklassiker haben mittlerweile Kultstatus unter den Aktiven in Berlin und Brandenburg. Viele neue Gesichter zieht es jedes Jahr auf Wannsee, Unterhavel und Müggel. Auch Holger Hensel vom Yacht Club Wendenschloss erfüllte sich einen langgehegten Traum und nahm in diesem Jahr mit seiner GOLD-ELSE, einem 35er-Nationalkreuzer, gleich an beiden Regatten teil. „So viele Möglichkeiten gibt es nicht, auf Binnenrevieren Langstreckenregatten zu segeln“, begründet der 41-jährige Architekt seine Teilnahme. Besonders nachts sei das ein „einmaliges Erlebnis“, wenn man „lautlos dahingleitet“ und „die Posis all der anderen Boote über das Wasser zu schweben scheinen“. Als „eigentümlichschönes Gefühl“ und als eine „ergreifende Situation“ beschreibt Hensel den Fakt, nachts Wind, Wasser und die Natur rund um Spreeathens Seen erleben zu können.

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So wie Hensel denken viele. Sie suchen die Herausforderung, den Kick, wollen Neuland betreten, ihre Grenzen auslosten. In einer großen Familie Gleichgesonnener. Dabei liegt der Ursprung der Nacht-Binnen­wettfahrten in einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte begründet. 1939 erklären England und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg. Vorausgegangen war dessen Überfall auf Polen. Schon am nächsten Tag werden die deutschen Küsten- und küs­tennahen Gewässer für deutsche Segler gesperrt. Die Organisation von Ersatz-Langstreckenregatten auf Unterelbe und Stettiner Haff ab dem Sommer 1940 steckte auch die Langstreckenfans im damaligen Gau Berlin-Brandenburg des DSV an. Als Ausrichter wurde der Potsdamer Yacht-Club (PYC) in Betracht gezogen. „Immerhin zählte er Mitglieder in seinen Reihen, die mit Langstreckenwettfahrten auf einem Binnenrevier schon Erfahrungen gesammelt hatten“, sagt Kurt Wernicke, mehrfacher Teilnehmer an der 20-Stunden-Wettfahrt und wandelndes Berliner WassersportgeschichteLexikon. Seit 1933 haben PYC-Mitglieder mehrmals am „Cercle de la Voile de Paris“ teilgenommen, einer 24Stunden-Wettfahrt auf der Seine, sagt Wernicke. Mit den dort gesammelten Erfahrungen richtet der Club an der Königsallee schließlich am 15. und 16. Juni 1940


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