Mausefall - eine Kostprobe

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DER MAUSEFALL Niemand geht weiter. Eine wasserlรถsliche Kriminalgeschichte. Michael Nuร baumer

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I

In den Tiefen der Kathedrale

Abblätternde Farbe, trübe Fenster. Das mehrstöckige Haus in der Babelstraße 18 unter­­ scheidet sich kaum von den anderen Gebäuden im heruntergekommenen Viertel d ­ ieses Randbezirks von Wien. Nur der Eingang ist äußerst ungewöhnlich. Er hätte besser zu einer mächtigen mittelalterlichen Kathedrale gepasst. Es gibt keine Klingeln, keine Namensschilder. Das Tor steht offen. Den Anweisungen auf der Visitenkarte folgend steige ich die enge Kellerstiege (Achtung! Rattenköder ausgelegt!) hinunter. Eine schmutzige Glühbirne, die in einem sachten Wind schaukelt, malt Schatten­ horden an die Wände. Die Treppen führen mich immer weiter nach unten. Das Haus scheint tiefer in die Erde zu reichen, als es in den Himmel ragt. Die Luft wird stickiger. Gänge und Stufen, verschlossene Türen ohne Nummern. Ich steige weiter hinab, allmählich wird mir kalt. Mein Unbehagen steigert sich zu Furcht, als ich Veränderungen an mir entdecke. Mit jedem weiteren Schritt nach unten schrumpfe ich. Meine Finger ragen kaum mehr aus den Ärmeln meines Mantels, mein Hut verdeckt mir die Augen, die Schuhe lassen meinen Zehen zu viel Raum. Dafür ringeln sich Locken, wo Kopfhaut glänzte. Ich werde kleiner und jünger, ­während meine Furcht zu Panik anschwillt. Längst wäre ich umgekehrt und zurück ans Tageslicht gelaufen, stünde nicht auf der Rück­ seite der Visitenkarte:


Den Hut lasse ich zurück. Die Hosen festhaltend stolpere ich weiter. Meine Stirn ist glatt, die Bartstoppeln verschwunden, ebenso der Bauchansatz. Hell klingt mein Räuspern, als ich endlich vor der Tür stehe, die ich gesucht habe. Ganzheitliche Detektei M. C. Noment Der Mann, der auf mein Klopfen öffnet, gleicht einer Ratte, und ich meine das nicht ­metaphorisch. Es wäre ebenso richtig zu sagen, die Ratte, die öffnet, gleicht einem Mann. Ich stottere ihm meinen Auftrag entgegen, verheddere mich. „Die Wirklichkeit soll ich wiederfinden? Ja, ist sie denn verloren gegangen?“ „Ich meine, die Stelle, an der sie sich aufgespalten hat, von der an sie aufhörte ein Spiegel zu sein. Zerborsten ist sie, ohne Zusammenhang, Sie verstehen?“ „Genauere Hinweise wären hilfreich.“ „Meine Schatten sind lebendiger als ich“, versuche ich zu erklären. „Ich spreche in Rätseln. Entschuldigen Sie. Mein Leben ist mir ein Rätsel. Mir ist, als wäre ich nicht ganz da. Ein Teil fehlt. Ich möchte ihn zurückhaben. Können Sie das?“ „Wenn Teile sich verstecken, haben sie ihre Gründe. Sind Sie sicher, dass Sie ihn – oder sie, oder es – zurückhaben möchten?“ Ich schlucke und ziehe meine Hose nach oben. „Ja, ich bin sicher. Können Sie das wirklich?“ „Ich folge meinem Spürsinn. Erinnerungen, Gefühle, Worte, Bilder – alles trügerisch. ­ Aber meine große Nase führt mich niemals fehl. Der Preis allerdings ist hoch.“ „Ich besitze nicht viel. Was verlangen Sie?“ „Ich verlange nichts. Aber es wird Sie etwas kosten. Ihre Blindheit.“ An den Rückweg erinnere ich mich nicht. Auch nicht, ob ich die Hand von M. C. Noment gedrückt habe und ob sie sich haarig angefühlt hat. Meine haarlosen Stellen jedenfalls sind wieder da, ebenso die Bartstoppeln und der Bauchansatz. Nur den Hut habe ich verloren. 5



XI

Banca rotta

Das erste, was ich sehe, ist die speckige Hutkrempe; dann ein fast unglaubwürdig blauer­ Himmel. Sofort die innere Suchbewegung – wer bin ich, wo bin ich, was trübt mein ­Empfinden? – Ich kann die Fragen bremsen, verblüffend genug. Bleibe in der Bläue, fühle wohlig Wärme meinen Körper durchdringen; die Wärme von Holz, auf dem dieser Körper ruht. Eine Parkbank. Die Benennung eines Ortes lässt sich nicht länger vermeiden. Tobias 'totistdas' kehrt zu mir zurück und beginnt mich zu bedecken, seine Sorgen zwitschern als Spatzen in den Bäumen und schnattern als Gänse im Teich. Ich füttere sie nicht, da geben sie mir ihren Frieden. Ich suche nichts, ich brauche nichts zu wissen. Wie ein Bettler liege ich auf dieser Bank ­ und fühle mich wie ein König. Ist das nicht zum Lachen? Doch ich lache nicht. Das Wasser kräuselt sich, wen spuckt es aus? Nixe, Schwester oder Leiche? Will die G ­ eschichte mich zwingen, mit ihr weiterzugehen? Eine fette Kröte, die keinen Kuss begehrt, klettert an Land und verschwindet im Gebüsch. Es bleibt dabei: Ich bin frei. Der Kratzer in meinem Gesicht kratzt mich nicht; was fehlt, kann mir gestohlen bleiben. Die Welt hat mich zusammengesetzt zu dieser Gestalt in ­diesem Park an diesem Tag. Ich bin eine leere Form. Halblaut sage ich: „Genug Schlachten geschlagen, genug Drachen getötet, genug Prinzessinnen enttäuscht.“ Ich setze mich auf und genieße die Wärme der Sonne. Ich werde nicht mehr in mein Leben zurückkehren.

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XIV Hinter den Spiegeln Das Geräusch der Schritte ist jetzt vor mir, nicht hinter mir. Es ist mehr ein Trippeln. Im grauen Nebel – ich bin im Nebel, nicht in der Dunkelheit! – entschwindet ein Ratten­ schwanz. ­Ich rapple mich auf und renne hinterher. Mein Körper scheint heil zu sein, nur ein leiser Schmerz meldet sich im Gesicht, mehr wie eine Erinnerung oder eine Ankündigung. „Noment!“, will ich schreien, doch spare ich meinen Atem. Ich wachse mit jedem Schritt. Meine Hose trocknet, meine Beinchen bekommen Haare, mein Strampelanzug platzt und lässt mich unbedeckt durch diesen Nebel rennen. Ich brauche eine Pause, lehne mich an ­einen Gartenzaun – aufgetaucht im rechten Moment aus dem Nebelgrau – und keuche. Eine alte Frau steht auf der anderen Seite des Zauns, ihr Gesicht ist wild bemalt, Streifen in Rot, Blau, Gelb und Grün ziehen sich längs von der Stirn bis zum Kinn. „Hier, mein Alter“, krächzt sie heiser, mit einer Stimme, in der ein Lachen sitzt. Ich nehme den Mantel entgegen; er ist mit Sternen, Monden und Sonnen bemalt. „Fehlt nur noch ein Zauberstab“, denkt es in mir. Sie streicht mir übers Gesicht und sieht mir tief in die Augen. Mit Verwunderung stelle ich fest, dass sie mich sieht, mich. So kann auch ich mich wieder sehen. Ich ziehe den Mantel an, er passt genau. „Keine Angst“, sagt sie. „Keine Angst bleibt ohne Gespenster, die realer scheinen als die Sonne.“ Ich nicke. „Viel zu echt“, erwidere ich. „Kinder so zu erschrecken, das ist unverzeihlich.“ Babaya antwortet nicht. „Ich weiß“, sage ich. „Ich habe keinen Raum. Ich bin der Raum. Es tut so weh, das zu vergessen.“ Durch die ­Zaunlatten hindurch drückt sie meine Hand, das wärmt mein Herz und genügt, mich zu versöhnen. Lang genug hat sich die Alte mir als böse Fratze gezeigt.


„Geh jetzt zum See, es ist an der Zeit. Sie wartet schon sehr auf dich.“ Wieder nicke ich und löse mich von ihr. Ich kenne meinen Weg. Am Gartenzaun sitzen sieben Raben, die mir ihre Verwünschungen entgegenkrächzen. Wie oft habe ich mich im Leben schon verwünscht! Und alles ist wahr geworden und nie wahr gewesen. Ich streiche ihnen über die Köpfe, sie verstummen. Nur der Letzte in der Reihe, der Kleinste von allen, schweigt nicht. Die Sonne bricht durch die Nebel und ein Lachen perlt aus mir heraus. Dieser Rabe hat Turnschuhe an! Er bricht seine Verwünschung ab – 'dass ich niemals gut genug sein kann' – und lacht seinerseits. „So ist es gut“, höre ich, ihn schon hinter mir lassend. „Zeig dein jüngstes Gesicht.“ Ich nehme das als Segen mit auf meinen Weg, der sich klar vor mir abzeichnet. Er führt durch ein Stück Wald und der Wald ist ohne Schrecken.

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