Schnupper hinein:

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beherzt wandelwärts Inspirationen & Impulse aus 5 Jahren Pioneers of Change Summit Friedensaktivistin Scilla Elworthy, Kulturphilosoph Charles Eisenstein, Mitbegründerin ­ vom Ökodorf Tamera Sabine Lichtenfels, Jungkünstler Simon Marian Hoffmann, Scientistsfor-Future-Mitinitiatorin Maja Göpel, Benediktinermönch David Steindl-Rast u. v. m. www.tau-magazin.net Sonderedition S01, 2022 15 €


Wir machen TAU: Irmgard Stelzer Herausgeberin, Layout & Redaktion

Gudrun Totschnig Herausgeberin & Redaktion

Petra Schwiglhofer Redaktion, Support

Foto: M. Pokorny

Tanja Novellino Illustration

Michael Karjalainen-Dräger Redaktion

Iva Jugović Redaktion

Johanna Vigl Transkription, Redaktion

Christian Lechner Herausgeber

Christa Füchtner Versand,Vertrieb & Leser*innenkontakt

Ulrike Prochazka Lektorat & Abomanagement

Barfußpolitik heißt für mich ... ... behutsam, auf leisen Sohlen, unseren gemeinsamen Boden – unsere Erde! – so zu gestalten, dass er uns allen wohl tut, dann machen wir Barfußpolitik.

... dass ich in Verbindung mit der Natur bleibe, v. a. mit meiner inneren Natur, wenn ich auf gesellschaftliche Verhältnisse schaue.

Irmgard Stelzer TAU Mitherausgeberin & Grafikerin

... dass ich mit jeder Handlung Fußspuren hinterlasse. Mutig Fußspuren zu setzen, die inspirierende Kreise ziehen, ist politisch.

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Michael NuSSbaumer TAU Mitgründer Katya Buchleitner ehem. TAU Redakteurin

Editorial Liebe Leser*innen! Vor genau elf Monaten bin ich – wie heute – in der Mor­ gendämmerung aufgewacht: „Das ist es! Wir machen eine Sonderedition mit den Pioneers of Change!“ Nachdem von Einschlafen keine Spur mehr war, bin ich aufgestanden und habe meine sprudelnden Ideen auf einem Blatt Papier fest­ gehalten. Wer weiß, was sonst von so einem morgendlichen Geistesblitz übrigbleibt! Einige Tage davor hatten Gudrun und ich mit Sylvia Brenzel und Alfred Strigl von plenum ein freundschaftliches Beratungsgespräch zu TAU gehabt. Dabei ist auch das erste Mal das Wort „Sonderedition“ gefallen, eine Idee von Alfred, die fruchtbaren Boden gefunden hat, wenn auch nicht ganz so, wie er sich das vorgestellt hatte. Das TAU Magazin & Pioneers of Change: Wir sind schon von Anfang an gemeinsam unterwegs. Im Jahr 2010 Chris­ tian (TAU Mitgründer) und ich als Teilnehmer*innen des ersten, TAU Mitgründerin Elisabeth als Teilnehmerin des zweiten Pioneers-Lerngangs. Die Pioneers haben in jeder unserer Ausgaben Platz gefunden – einmal war Martin Kirchner sogar Cover Model! Es gibt so viele Schätze in den bisher über 150 Interviews aus 5 Jahren Pioneers of Change Online Summit … Ich hatte mit Martin Kirchner schon ein­ mal über die Idee eines Buches aus den Interviews gespro­ chen … Summit 5 Jahre, TAU 10 Jahre … – 11 Monate später sitz ich nun hier um halb 7 in der Früh, draußen stürmt‘s, die Vögel zwitschern vereinzelt, aus dem Südwest­en scheint der fast noch volle Mond zu mir herein und ich blicke auf einen schönen wilden Ritt zurück. Ivas Stimme aus einer Teambe­ sprechung taucht auf: „Klare Zeitfenster & GENIESSEN!“ Ja, wir haben’s genossen UND es war gar ganz schön schwie­ rig: die Interview-Auswahl, das Verdichten, Weglassen … Heft S01 2 0 2 2


... lassen – lauschen – losgehen: Das war mei­ ne erste Titelidee für die Sonderedition. Dieser Dreischritt spiegelt sich in fast allen Interviews wider: die Bereitschaft etwas sein zu lassen, das nicht lebendig ist oder macht – sich auf das Nichts einzulassen, lauschen und vertrauen, dass irgendwann etwas auftaucht, das mich weiterbringt – und dann auch loszugehen und auf die ganz persönliche Art & Weise aktiv zu werden. Ja, es ist ein wahrer Schatz, den die Pioneers Summits bereithalten! Einen Teil haben wir nun gehoben, damit ihr ihn ganz gemütlich am Sofa, in der Bahn, am Klo oder in der Hängematte genießen könnt. Lasst euch berühren und verwandeln, das wünsch ich uns! Irmgard Stelzer Als mir Irmgard von ihrer Idee erzählte, ist der Begeiste­ rungsfunke sofort zu mir übergesprungen. Am liebsten hätte ich gleich mit der Arbeit begonnen, denn den Summit 2021 habe ich zum ersten Mal ganz intensiv verfolgt und viele In­ terviews gemeinsam mit Wohnprojekt-Mitbewohner*innen in Hasendorf an unseren Summit-Dienstagabenden an­ gehört. Damals war Irmgards Idee noch nicht ausgespro­ chen, doch ich machte mir mit meinen TAU Ohren schon seitenweise Notizen, so sehr eröffneten sie mir Neues und ließen mich staunen: Das Interview mit Charles Eisen­ stein oder ­Vivian Dittmar beispielsweise gab meinem Ver­ständnis für unsere Zeit mehr Fundament, andere Gesprächspartner*innen wie Kate Raworth oder Christian Hiß mit ihren ganz konkreten und schon umgesetzten neuen (Land)Wirtschaftsmodellen stimmten mich zuversichtlich. Bei den jungen Interviewpartner*innen wie Elisabeth Hahn­ ke und Ben Paul staunte ich über deren klare Ausrichtung. Ich bemerkte in Gesprächen mit Freund*innen und Familie wie mein Wortschatz für den Wandel wuchs.

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Als wir dann mit unserem ersten Konzept an Martin Kirch­ ner und Hemma Rüggen von den Pioneers of Change heran­ traten, war die Aufregung groß. Würden sie auch von unserer Begeisterung angesteckt werden? Ihr „Ja, das machen wir!“ ließ uns freudig die ersten Schritte setzen. Wir erweiterten das Team, auch im Vertrauen, dass sich mit dieser Edition der Kreis unserer Abonnent*innen weiten wird; begannen uns wöchentlich über angehörte Interviews auszutauschen und festzulegen, welche unbedingt in die Sonderedition kommen sollten … Bei Cover und Titel schwebten wir lange Zeit im Unklaren, machten eine um die andere Schleife, verzweifelten schon ein wenig an den rund fünfzig Titelideen – von „Am Leben weben“ über „Innehalten – das Neue Gestalten“ bis „Wandl-Madl-Wadl“. Bei Irmgard tauchte dann schließlich „beherzt wandelwärts“ auf. Da war gleich klar: Das ist es! „Finde das, wo dein Herz ins Schwingen kommt“, hörte ich Maja Göpel beim Summit 2021 sagen, und genau so fühlte sich die Arbeit an der Sonderedition an. Manchmal schwang es gar wild und die Nächte wurden kürzer … Aber die Be­ geisterung hat die eine oder andere frühmorgendliche Stun­ de am Computer kompensiert. Wie wird die Sonderedition wohl ankommen? Wir haben uns Josef Zotters Anregung, nicht zuerst den Markt zu fra­ gen, was er braucht, sondern zu tun, was uns begeistert, zu Herzen genommen. Ob der Funke überspringt? Wir hoffen es! Gudrun Totschnig

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z r e beh

ANFANG & ENDE 2 Editorial 75 Impressum

beherzt

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w t z r e h e b b e h e r z t

GT

lassen – lauschen – losgehen

In Wirklichkeit wissen wir nicht, was ganz kleine, mit Liebe gemachte Dinge für Wellen schlagen.

Wir wurden darauf reduziert, Konsumenten zu sein. Nein! Wir sind Herstellende und Schöpfende! Das müssen wir zurückfordern!

Martin Kirchner

Vandana Shiva

Yes, we are! Martin Kirchner 2022

12 Artgerechtes Leben für Menschen Vivian Dittmar Summit 2021 16 Von der alten in die neue Geschichte Charles Eisenstein Summit 2018

27 Das ist nicht mehr unsere Story! Drei Schritte zu einer lebendigen (Land)Wirtschaft

Helmy Abouleish, David Holmgren, Vandana Shiva, Muhammad Yunus, Heini Staudinger, Kate Raworth, Christian Hiß, Maja Göpel, Josef Zotter, Veronika Bennholdt-Thomsen, Charles Eisenstein, Christian Felber, Thomas Hübl, Helena Norberg-Hodge

20 Sand in die Megamaschine streuen Fabian Scheidler Summit 2021 22 Diese Art von Kontakt wird die Welt verändern! Scilla Elworthy Summit 2020

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AH

62 Die junge Generation steht auf den Schultern der Ältesten 74 Das gute Ende: Genügsamkeit, Einfachheit und Dankbarkeit als Weg

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d n a zt w Aktion Defend the Sacred gegen die geplanten Ölbohrungen vor der Küste von Portugal.

innehalten – außen gestalten

Elisabeth Hahnke

44 Die Revolution der Dankbarkeit David Steindl-Rast Summit 2019

Und dazwisch en:

ANGEBOTE langjähriger & neuer KooperationsPartner*innen

48 Letztens, als ein Löwe vor der Tür saß Gerald Hüther Summit 2021 53 Schaut, das wünschen wir uns für die Zukunft! Simon Marian Hoffman Summit 2021

Foto: Candice Seplow / Unsplash

Den Schmerz wahrnehmen, dann aber klar ausgerichtet zu sein – ich weiß, was wir für Transformations­kapazitäten haben!

Foto: Tamera-Archiv

s t r ä w l e wand wandelwär ts

58 Geh raus, nimm deinen Platz ein! Elisabeth Hahnke Summit 2017

68 Sich vom Virus des Vertrauens anstecken lassen Sabine Lichtenfels Summit 2021

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Foto: Lucas Sankey / Unsplash

64 Wir müssen gar nicht wissen, wo es hingeht und wie es wird Silke Hagmaier Summit 2020

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Diese Art von Kontakt wird die Welt verändern! „Viele Menschen fragen sich, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Ich hatte nie wirklich die Wahl. Ich wusste, ich musste mein Möglichstes tun, um Krieg und das Leid, das dadurch entsteht, zu stoppen. Wie es begann? Ich arbeitete in Algerien in einem Waisenhaus, als der Bürgerkrieg dort zu Ende war. Und machte mich dann auf den Weg nach Südafrika ...“ Scilla Elworthy – Summit 2020

Übersetzung des Interviews aus dem Englischen: Alexandra Büdel, Christoph Peterseil

Was hat dich zu der Person gemacht, die du bist? Ich habe gerade gelesen, wie du mit etwa 13 Jahren nach ­Budapest fahren wolltest. Ja, das war 1956. Ich sah im Fernsehen sowjetische Panzer, wie sie in Buda-

Foto: Joanna Vestey

www.scillaelworthy.com

Martin Kirchner: Was ist aktuell ­lebendig in deinem Leben? Scilla Elworthy: Vor zwei Jahren habe ich das Buch „Der Business-Plan für den Frieden“ geschrieben. Es gibt für alles Mögliche einen Business-Plan, doch niemand hat jemals einen für den Frieden geschrieben! Es gibt 25 Initiativen, von denen wir wissen, dass sie an der Verhinderung von Kriegen arbeiten. Ich habe mittels einer 10-jährigen Rahmenstudie festgestellt, dass nur 2 Milliarden Dollar nötig wären, um diese Arbeit zu finanzieren. In Anbetracht dessen, dass wir gerade weltweit 1739 Milliarden Dollar für die Militarisierung ausgeben, ist das absurd. Es gab eine große Resonanz, und nun entwickeln wir die vier Haupt­ initiativen, um sogar auf nationaler Ebene gewährleisten zu können, dass man die Gefahr der Eskalation eines bewaffneten Konfliktes minimieren kann.

Scilla Elworthy Friedensaktivistin. Gründerin der NGO Oxford Research Group, die sich für Dialog zwischen Politiker*innen von Atommächten und ihren Kritiker*innen einsetzt. Beraterin (u. a. Weltzukunftsrat), Lehrende (u. a. Bewusstseinsbildung & Konflikttransformation), Autorin. Drei Mal Nominierung für Friedensnobelpreis, 2003 Niwano-Friedenspreis.

Mehr Infos:

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pest einfuhren. Und ich sah, wie junge Menschen, nicht viel älter als ich, versuchten, sie mit ihren bloßen Händen aufzuhalten und dabei komplett überrollt wurden. Ich war so wütend und entsetzt, dass ich nach oben stürmte und begann meinen Koffer zu packen. Meine Mutter kam und fragte: „Was tust du da?“ Und ich antwortete: „Ich fahre nach Budapest!“ Ich wusste nicht einmal, wo Budapest ist. Und sie sagte: „Wozu?“ Ich sagte: „Dort geschieht gerade etwas Entsetzliches. Ich muss dorthin. Jetzt!“ Und sie sagte: „Sei nicht so dumm!“ Ich brach in Tränen aus! Aber sie verstand das. Sie war eine sehr, sehr kluge Mutter. Sie sagte: „Ok, das beschäftigt dich wirklich. Wir müssen sicherstellen, dass du ausgebildet wirst. Du hast nicht die Fähigkeiten Veränderungen herbeizuführen. Wenn du jetzt deinen Koffer wieder auspackst, kümmere ich mich darum!“ Und das tat sie. Sie schickte mich mit 16 Jahren in ein Feriencamp für Überlebende von Konzentrationslagern. So habe ich den Sommer damit verbracht Kartoffeln zu schälen und den Geschichten von Leuten zuzuhören, die in Auschwitz und anderen Orten waren.

Als du zu Beginn deiner Arbeit nach Algerien und Südafrika kamst und dich mit so viel Leid und Zerstörung konfrontiert sahst – wie bist du mit diesen schwierigen Gefühlen umgegangen? Zu Beginn war es sehr belastend für mich, ich war voller Empathie mit den Waisenkindern. Wo Mitleid und Sympathie sind, entstehen starke Gefühle in unserem Inneren. Solange wir getrieben sind von Bildern des Leids und des Schmerzes, halten wir sie von uns fern und versuchen, sie zum Schweigen zu bringen. Solange werden sie uns verfolgen. Wir müssen uns umdrehen und ihnen entgegenlaufen, wie alle großen Pioniere des Wandels es getan haben – z. B. auch Thich Nhat Hanh inmitten des großen Vietnam-Kriegs. Er ging geradewegs auf das zu, was geschah, und riskierte dabei sein Leben und das seiner Mönche. Sie wandelten ihren Horror in Handeln. Später in deinem Leben wurdest du auf die Gefahr von Atombomben und den Nuklearwaffen-Handel aufmerksam. 1982 wurde ich aufmerksam darauf, was mit Nuklearwaffen in meiner Heft S01 2 0 2 2


Heimat Großbritannien vor sich ging. Dass wir von unserer Regierung übergangen wurden bei der Genehmigung der Entwicklung einer neuen Serie von nuklearen Waffen – ohne eine vorherige Diskussion darüber im Parlament. Ich war entsetzt darüber! So begann ich Mütter zu organisieren. Wir nannten es „A Mothers Walk for Nuclear Disarmament“* in Oxford, wo ich lebte. Das war großartig. Und dann kam 1982/83 Greenham Common: Es sollten Marschflugkörper nach Ostdeutschland abgeschossen werden. Sie waren direkt an der Straße nach Oxford stationiert, auf einem großen Stützpunkt namens Greenham Common. Wir errichteten eine Umzäunung in einem Umkreis von etwa 20 km. Es kamen etwa 5000 Frauen und Kinder. Wir hielten uns an den Händen in einem Kreis um den Stützpunkt und hängten am Zaun Babykleidung auf. Es wurden viele Fotos gemacht. Wir errichteten Lager entlang des Zauns. Ich selbst habe dort nicht gecampt, aber ich ging mit meiner Tochter dorthin, als sie noch sehr jung war. Sie wird dieses Erlebnis nie vergessen, und ich mit Sicherheit auch nicht. Ab diesem Zeitpunkt begann ich, mich über Atomwaffen zu informieren, und wurde mit der Zeit immer ängstlicher, da ich befürchtete, es könnte versehentlich ein Atomkrieg ausbrechen. Heft S01 2 0 2 2

Die Machtverteilung war so ungleich! Im November 1983 erkannte ein sehr wachsamer Programmierer auf seinem Bildschirm in Moskau, dass sich amerikanische Marschflugkörper näherten. Er informierte den Kreml, sie hätten 18 Minuten Zeit, um zu entscheiden, wie man darauf reagiert. Zu der Zeit lautete die allgemeine Anweisung:

Da sagte eine Stimme in ­meinem Kopf: „Du sprichst mit den falschen Leuten. Die UN kann in diesem Fall nichts a ­ usrichten. Du musst herausfinden, wer die ­Entscheidungen über Atomwaffen t­atsächlich trifft!“

„Bei Gefahr abfeuern!“ Das heißt: Sie zerstören ihren Gegner und auch sich selbst. Ich konnte nicht glauben, dass sie so etwas tun! Das ist jenseits des Wahnsinns! Ich beschäftigte mich daraufhin viel damit und begab mich nach New York, zur 2. UN-Sondersitzung über Abrüstung. Sechs Wochen lang debattierten die Mitgliedsstaaten und sie erreichten NICHTS. Ich war

zu Tode betrübt, niedergeschlagen in einer Straßenbahn am Broadway unterwegs, da sagte eine Stimme in meinem Kopf: „Du sprichst mit den falschen Leuten. Die UN kann in diesem Fall nichts ausrichten. Du musst herausfinden, wer die Entscheidungen über Atomwaffen tatsächlich trifft!“ Ich erkannte, dass es die Physiker sein müssten, die die nuklearen Sprengköpfe entwerfen; das Militär, das sie programmiert; die Geheimdienstler, die sagen, dass es notwendig ist; die Menschen, die die Schecks ausstellen und Geld beisteuern; die, die Strategien festlegen; und schließlich die Politiker. Also beendete ich meinen Job in New York, ging zurück nach Oxford und gründete eine Forschungsgruppe an meinem Küchentisch. Nach vier Jahren – ich gab alle meine Ersparnisse dafür aus, um Menschen für die Forschungsarbeit zu bezahlen – veröffentlichten wir 1986 unser erstes Buch mit dem Titel „Wie Entscheidungen über Atomwaffen getroffen werden“. Es enthält Vernetzungspläne über den Prozess der Atomwaffenentscheidungen jedes einzelnen Landes. Niemand hatte das zuvor aufgezeichnet. Dann begann die harte Arbeit, einige dieser Beteiligten davon zu überzeugen, sich mit ihrem Gegenüber von anderen Atommächten zu treffen. Der Mann in Los Alamos zum Beispiel, der Spreng-

* Mütterlauf für atomare Abrüstung

Scilla Elworthy: The Business Plan for Peace: Building a World With­ out War. Peace Direct 2017.

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Illustration: Tanja Novellino

köpfe für die U.S.A. entwickelte, wuss­ te nicht, wer sein Gegenüber in der Sowjetunion war. Wir brachten sie miteinander ins Gespräch, niemand wusste davon, keine Medien. Das hätte die ganze Sache zum Scheitern gebracht. Schließlich konnten wir die Basis schaffen für einige Verträge, die wir aushandelten. Was mich so sehr beeindruckt sind die geheimen Strategien, die du ­verwendet hast, wie etwa die Geschichte mit der Meditation in der Etage darunter. Ich erkannte, dass mir meine eigene Wut und Angst vor diesem ganzen Nuklearproblem im Weg stand. Die Angst kommunizierte eigenständig mit den Menschen, mit denen ich sprechen wollte. Sie konnten sie spüren, auch wenn ich sie nicht erwähnte. So musste ich lernen zu meditieren und meine eigenen Gefühle wirklich zu transformieren. Ich konnte das, was diese Leute taten, hassen und fürchten, aber nicht die Leute an sich. Sie sind Menschen, die tun, was sie für richtig halten. Und als ich das gelernt hatte – es dauerte etwa zwei bis drei Jahre –, fingen sie an, die Einladung anzunehmen und in einem Gutshaus außerhalb von Oxford auf ihre Gegenüber zu treffen. Wir erkannten, dass es auch bei den Treffen gut sein würde, die gleiche Art von Meditation zur Unterstützung zu haben. Ich bat fünf erfahrene Meditierende in der Biblio-

thek zu sitzen, die im Stockwerk unter dem wunderschönen Raum lag, in dem die Treffen stattfanden. Am zweiten Tag kam ein Mann vom Außenministerium zu mir und sagte: „Das ist ein ganz besonderer Raum.“ Ich sagte: „Ja, er wurde 1360 erbaut, er ist sehr besonders.“ Er sagte: „Nein, nein, er ist wirklich besonders.“ Ich antwortete: „Ja, hier wurden schon Yogastunden abgehalten, Treffen und Verhandlungen seit vielen hunderten Jahren.“ Er erwiderte: „Nein, da kommt etwas durch die Bodendielen nach oben.“ Ich sagte: „Ja, Sie haben recht, das tut es. Möchten Sie wissen, was es ist?“ Ich erzählte es ihm und er wurde weiß im Gesicht. Ich bot ihm an: „Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie doch die Menschen, die Ihnen Ihren Lunch servieren. Sie sind diejenigen.“ Er schaute mich an, ging hinunter und kam mit einem kleinen Lächeln auf seinem Gesicht zurück ... Da wussten wir, dass wir, unterstützt durch die Meditierenden, die Umgebung veränderten. Wir nutzten es von da an. Wenn ich eine Veranstaltung mit Amtsträger*innen eröffne, verbringen wir z. B. einige Zeit in Stille, um uns zu erden und uns dem Treffen zu widmen. Wie kann es eine wirkliche politische Veränderung nach deiner Erfahrung mit Bewegungen und Politiker*innen geben? Es funktioniert am ehesten über den persönlichen Kontakt. Das heißt, dass Heft S01 2 0 2 2


die Person, die den Kontakt von der Protestseite aus sucht, eine Menge Persönlichkeitsarbeit leisten muss. Wir müssen Zeit darauf verwenden, unsere innere Weisheit zu fragen. Mit anderen Menschen in einer Gruppe gemeinsam zu meditieren, unseren surrenden Gedanken erlauben, zu verebben, uns erlauben, uns mit einer „Höheren Intelligenz“ zu verbinden. Diese „Höhere Intelligenz“ ist jetzt so verfügbar wie seit Jahrhunderten nicht mehr! Das Herz kann das und der Bauch kann es. Darauf müssen wir uns einschwingen und um Hilfe von dort bitten. Man kann sehr verärgert sein über das, was sie tun, aber nicht über die Person an sich. Sie sind genau wie wir: Sie haben schwierige, pubertierende Kinder, sie empfinden Wut und Sorge, wie jeder andere Mensch auch. Unsere Arbeit besteht darin, ihnen zu helfen, einen anderen Weg zu erkennen. Sie fühlen sich genauso verloren und festgefahren, wie alle anderen auch. Sie wirken sehr mächtig und unglaublich arrogant und selbstgerecht. Doch da müssen wir drüberstehen, praktisch denken und sehr positiv sein in dem, was wir vorschlagen, anstatt uns zu beschweren. Wir hatten z. B. eine Karte der weltweiten Schlüsselpersonen, insgesamt 650 im Atomwaffenbereich. Wir fragten die Leute, ob sie einen von ihnen auswählen möchten, und gaben ihnen dann eine Schulung mit dem Titel „Im Dialog mit Entscheidungsträgern“. Das Heft S01 2 0 2 2

verlief stufenweise. Zunächst musste man recherchieren, was der Entscheidungsträger tut, was sein oder ihr Verantwortungsbereich ist. Wenn man sich dann gut genug auskennt, schreibt man ihm oder ihr einen ersten Brief oder eine E-Mail, die klar macht, dass man wirklich versteht, welche Verantwortung sie tragen. Als nächstes unterbreitet man einen Vorschlag und bittet zum Austausch darüber um ein Treffen. Es muss möglich sein, wenig-

Unsere Arbeit besteht darin, Entscheidungsträger*innen zu helfen, einen anderen Weg zu erkennen. Sie fühlen sich ­genauso verloren und festgefahren, wie alle anderen auch.

stens 100 von denen zu identifizieren, die in der gesamten fossilen Industrie involviert sind. Wenn das breitflächig gemacht wird ... Was wünschst du den Menschen? Zuerst möchte ich meinen Hut ziehen vor Menschen, die auf die Straße gehen und für den Klimaschutz protestieren. In bin sehr froh, dass das nun überall auf der Welt geschieht. Wenn wir die innere Arbeit wachsen lassen,

während wir gleichzeitig das äußere Handeln planen, werden wir zu der Weisheit werden, die die Welt gerade braucht. Ich bin wirklich überzeugt davon, dass, wenn wir ein Individuum finden, das Teil des Entscheidungsfindungsprozesses ist – etwa im Verwaltungsrat eines Unternehmens für fossile Brennstoffe –, wir sie oder ihn um ein Treffen bitten sollten. Diese Art von Kontakt wird die Welt verändern. Viele der Entscheidungsträger*innen über Atomwaffen, die wir erreicht haben, haben uns gesagt, dass es Gespräche mit ihren Kindern waren, die ihre Einstellung verändert haben. Wenn einige dieser Menschen keine Kinder haben, brauchen sie junge Menschen, die sie persönlich treffen. Nicht als Gegner, sondern als Mensch! Das wäre fantastisch, stell dir das vor! Sagen wir, es gibt vielleicht 5000 Leute da draußen, die Finanzmärkte manipulieren, mit Fracking* Geld machen, oder was auch immer. Wenn jeder Einzelne von ihnen von jemandem wie dir oder einer deiner Kolleg*innen Besuch bekäme, das würde die Welt verändern. IS

Scilla Elworthy: The Mighty Heart: How to transform conflict. 2020.

* Fracking: Aus Umweltsicht kritisch gesehenes Verfahren, mit dem Erdgas aus undurchlässigem Gestein gelöst wird. Probleme: Grundwasserbelastung durch Chemikalien, Flächenversiegelung, Wasserverbrauch ...

Tipps zum Umgang mit Angst von Scilla Elworthy siehe S. 42

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