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Andrea Éva Gyo˝ri: «VibrationHighWay», 2016 Die Glückseligkeit der wirklichen Liebe Wie die Darstellung von Sexualität dabei hilft, Verunsicherungen aus der Kindheit zu verarbeiten. VON HANS RHYNER

Wenn ich vor der riesigen Wand mit den Zeichnungen von Andrea Éva Gyo˝ri stehe, die die weibliche Sexualität sehr explizit zeigt, wirkt das für mich befreiend. Die Offenheit fasziniert mich, dass man solche Zeichnungen überhaupt machen und ausstellen darf. Vor 50 Jahren wäre das nicht gegangen: dass man offen zeigt, was Liebe bedeuten kann. Das hat mich stark interessiert, ich habe mir dieses Werk über Wochen hinweg mehrere Male angeschaut. Für mich allein. Ich habe meiner Freundin davon erzählt, sie sagte, sie wolle auch einmal mitkommen. Mir gefällt die Stimmung im Löwenbräu sehr. Ich habe dort niemanden schwatzen hören, die anderen Besucher wirken sehr vertieft. Jeder lässt die Werke auf sich wirken. Fast wie in einer Kirche. Ich bin 1954 geboren und kenne die Offenheit von Andrea Éva Gyo˝ris Werk aus meiner Kindheit nicht. Zum ersten Mal war ich verliebt, als ich in der vierten Klasse war, und zwar in meine Lehrerin. Ich habe es meinem Vater erzählt. Der schickte mich daraufhin auf einen landwirtschaftlichen Betrieb, um beim Heuen zu helfen, damit mir solche Gedanken vergehen würden. Das waren seine Worte, das weiss ich noch. Als meine jüngste Schwester zur Welt kam, hat sich meine Mutter zum Stillen jeweils hinter einen Vorhang in einem Zimmer zurückgezogen und schloss die Tür. Ich denke, meine Mutter hätte sich nicht daran gestört, dass wir zuschauten, aber mein Vater wollte es nicht. Wir Kinder haben manchmal heimlich hineingeguckt – im Wissen darum, dass wir das nicht tun dürften. Jahre später fragte ich meine Mutter einmal, ob sie ihre Sexualität in ihrem Leben ausgelebt habe. Sie wurde rot und sagte: «Über solche Dinge möchte ich nicht reden.» Ich kann mir vorstellen, dass das nicht ihre ehrliche Meinung war, sondern von der Gesellschaft jener Zeit so vorgegeben wurde. SURPRISE 381/16

Ich kenne heute noch einige Frauen, die ihren eigenen Körper nicht kennen oder in ihrem ganzen Leben nie richtig kennenlernen durften – aus einem Schamgefühl heraus. Ich finde, wir Menschen sollten Streicheleinheiten geniessen dürfen. Aber sicher nicht auf einseitigen Willen hin, sondern nur, wenn es für beide stimmt, und mit Gefühl und Zärtlichkeit. Es darf dabei nicht nur um den Liebesakt an sich gehen, es ist vielmehr ein Spiel. So entsteht Lust aus den Gefühlen, die ich für meine Partnerin empfinde. Ein Ideal, ein Fantasiegebilde im Kopf, kann nie die Glückseligkeit der wirklichen Liebe erreichen. Deshalb ist die elementare Voraussetzung für die Liebesfähigkeit im Leben die Sensitivität im Augenblick. Sensitivität ist der Schlüssel zum Glück. Wenn ich merke, dass ich nur an die Körperlichkeit denke, heisst das, dass meine Gefühle nicht stimmen. Die Sensitivität löst sich in diesem Moment regelrecht auf und ich stehe mit leeren Händen da. Meiner Partnerin gegenüber, mir selbst gegenüber. Deshalb finde ich es befremdend, wenn Experten Ratschläge geben, wie man einen Orgasmus erlangt. Denn das Klammern an Ratschläge zerstört das Gefühl, das Spüren und Empfinden im Augenblick einer Begegnung. Ich glaube, es ist falsch, mit dem Denken absichtsvoll die Liebe zu suchen. Sie muss einfach passieren. Mir wurde in meiner Kindheit nie erlaubt, einen tiefen Bezug zu Menschen zuzulassen. Wenn ich heute Surprise verkaufe, ist mir deshalb sehr wichtig, die Leute wahrnehmen zu dürfen. Ich geniesse es, dabei herauszuspüren, wem ich wie begegnen kann und darf. ■

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