Exakte Vertrauensgrenzen
Thomas Neumann Exakte Vertrauensgrenzen Fotografie seit 1994
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Moskau Moscow 1994
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Moskau Moscow 1994
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Moskau Moscow 1994 Reparatur Under construction
Der Projektor
Wer wir gewesen sein werden, War sowenig vorhersehbar wie der Fall, Der plötzlicher eintrat, als jeder dachte (Und an nichts anderes dachten sie) – Bis wir dann wurden, die wir nun sind. 8
Meine Damen und Herren! Der Film Zeigt, wie sich alles auf etwas zu bewegt, Das weit außerhalb liegt. Mancher agiert, Als ob er die Leinwand zerreißen wollte, Und bleibt doch gebunden im Augenblick. Hier und da tut sich ein Fenster auf, In dem die Sommerhimmel von morgen In den Ruinen von gestern erscheinen. Weiß ich, wie viele Sommer wir haben? Ob wir sie wiedererkennen in ihrer Art, Diese Szenen im Freien, in denen wir Still umeinanderglitten wie Schleierfische In diesem besonderen, goldenen Licht? Ich weiß nur, der Tag hält hinter Glas Verborgen, was als nächstes geschieht. Die Dinge entfernen sich, rücken nah Im Filmlicht: Und der Projektor bin ich. Durs Grünbein Zündkerzen. Gedichte. Suhrkamp Verlag Berlin 2017
The Projector Translated by Michael Eskin
What we will have been Was as unpredictable as the event That hit more unexpectedly than everyone thought (And they thought of nothing else) – Until, eventually, we did become what we are now. Ladies and Gentlemen! The film Shows how everything moves toward something That lies far beyond. Some act As if they wanted to tear the screen And, still, remain bound in the moment. Here and there a window opens In which tomorrow’s summer skies Appear in yesterday’s ruins. Do I know how many summers we have? If we’ll recognize them for what they are, These outdoor scenes in which We silently floated around like veiltails In this special, golden light? I only know the day keeps hidden Behind glass what happens next. Things move away, draw closer In the projection beam: And the projector am I. Durs Grünbein
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StraĂ&#x;enhelden Heroes Along the Road 1997 Diptychon Diptych
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Minsk 1995
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Minsk 1995
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Exakte Vertrauensgrenzen Exact Confidence Limits 1998 Triptychon Triptych
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Minsk 1995
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Sotschi Sochi 1995 Kaukasus Caucasus
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Kurgan 1998
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Kurgan 1998
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homo ludens I 1998
homo ludens II 1998 12 teiliges Bild 12 pieces tableau
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Kรถkschetau Kokshetau 1998
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Kasachstan Kazakhstan 1998
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Kasachstan Kazakhstan 1998
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Russland Russia 2001 Klub Club
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Turkmenistan 1998 Route M 37
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Aktau 2001 Aiteke Bi
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homo sovieticus 1998–2002 Farbfotografien und Zeitungsfotos Prawda 1975 Color photographs and newspaper images from Pravda 1975
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Artek Pionierlager Pioneer camp 1999
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Artek Pionierlager Pioneer camp 1999
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Almaty 1998
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Aktau 2000 7. November 1967 รถffnen am open at 7. November 2017 Gewidmet der Generation des Jahres 2017 von den Bezwingern Mangischlaks Dedicated to the generation of 2017 from the conquerors of Mangyshlak
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Aktau 2000
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Ustjurt Plateau Ustyurt Plateau 2000
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Landschaftsbild Kasachstan Landscape Scenery Kazakhstan 2000 Farbfotografie Color photograph
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Turkmenistan 1998
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Karakumkanal Karakum Canal 1998
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Kasachstan Kazakhstan 2000
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Kasachstan Kazakhstan 2000
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Selbst I Self I 2000 165 Karteikarten Farbfotografien 165 index cards Color photographs
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Selbst II Self II 2000 165 Karteikarten Farbfotografien 165 index cards Color photographs
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Russland Russia 2001 Lebensmittel Food
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Russland Russia 2001 Wahrheit Truth
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Atyrau 2001
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Russland Russia 2001 Kino Frieden Cinema Peace
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Kasachstan Kazakhstan 2001
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Karagije Senke Karagiye Depression 2000
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Zeichen an der Wolga Signs at Volga River 2001 Farbfotografien Color photographs
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Jerewan Yerevan 2002 Ararat
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Jerewan Yerevan 2002
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Armenien Armenia 2002
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Jerewan Yerevan 2002
Das Sowjetische Jahrhundert Karl Schlögel
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Hier setzt eine Archäologie an. Sie nimmt das Territorium des einstigen Imperiums als Feld, in dem sie die Spuren sichtet und sichert, die Sonden ansetzt und Ausgrabungen veranstaltet – buchstäblich und im übertragenen Sinne. Archäologen graben nicht aufs Geratewohl, sondern sie haben Anhaltspunkte, an denen sie fündig werden können. Sie haben ihre Navigationsgeräte und Karten und haben vor allem ganze Bibliotheken im Kopf. Worauf sie es abgesehen haben, sind die Hinterlassenschaften vorangegangener Generationen. Sie legen Schicht um Schicht frei, bergen die Funde, katalogisieren die Bruchstücke und treffen alle Vorkehrungen für deren Konservierung und spätere Analyse. Der Fund soll ihnen Aufschluss geben über eine Welt, die nicht mehr ist. Die Bruchstücke, die zu lesen und zu dechiffrieren sie gelernt haben, rekonstruieren ein Abbild, den Text einer vergangenen Epoche. Jedes dieser Fragmente hat seine Geschichte, und die Kunst besteht darin, die Fragmente zum Sprechen zu bringen. Aus den Einzelstücken setzt sich das Mosaik zusammen, und aus den Geschichten, die die toten Objekte preisgeben, bündelt sich das, was „die“ Geschichte genannt wird. Zuweilen stoßen Archäologen wider Erwarten und unvermutet auf Schichten und Funde, die sie zwingen, mit überlieferten Deutungen, Periodisierungen, Kontexten zu brechen. Das sind dann die Sternstunden der Ausgräber. Die Objekte freilegen, sie bergen, sie zum Sprechen bringen – das ist der Weg der Archäologie, der hier vorgeschlagen wird. Mit ihr kommt auch ein viel weiter gefasster Begriff des Dokuments, der ‚Quelle‘ ins Spiel. Als Quelle für die Vergegenwärtigung einer vergangenen Epoche kommen jetzt nicht nur das schriftliche Dokument, der Bericht, das Zeugnis, der Aktenbestand in Betracht, sondern – im Grunde – alle Objektovationen, Vergegenständlichungen menschlicher Tätigkeit (wenn man hier einmal von den Ablagerungen der Naturgeschichte absieht). Die Welt wird betrachtet und lesbar durch die Geschichte der Dinge, durch die Analyse von Zeichen und Verkehrsformen, Orten und Routinen; das Ganze erwächst aus dem Detail, und die Hauptfrage bei einem Projekt „Sowjetische Zivilisationsgeschichte“ ist dann: wo anfangen, wo aufhören, wenn alles in Betracht kommt: die Großbauten des Kommunismus ebenso wie die Nippes-Porzellanfiguren der
1930er Jahre, die Stimme des Sprechers von Radio Moskau ebenso wie die Parade der Sportler, der Gorki-Park ebenso wie die Lager an der Kolyma, der Bau des Mausoleums ebenso wie die Strände der Roten Riviera. Diese Aufzählung ist kein Plädoyer für „anything goes“ und kein Spiel auf der Suche nach dem Ungewöhnlich-Exotischen, sondern der Hinweis auf die unendliche Komplexheit einer Gesellschaft, erst recht wenn diese in eine Sequenz aus Krieg, Bürgerkrieg und eine Revolution hineingezogen wurde und wenn Leben über weite Strecken eine Form von Kampf ums Überleben war. Zivilisationsgeschichte geht aufs Ganze, sie ist nicht eine Geschichte der Politik oder das Alltags, des Terrors oder begeisterter Zustimmung, der Kultur oder der Barbarei, sondern beides und noch viel mehr – oft zur gleichen Zeit und am gleichen Ort. Aber es geht nicht primär um die technischen Möglichkeiten des Navigierens in einem grenzenlosen Raum, sondern um das viel Schwierigere, nämlich sich noch einmal „das Ganze“ zu vergegenwärtigen, noch einmal zeitlich und räumlich zusammenzubringen, was für die Zeitgenossen zusammengehört hat: die Totalität einer Lebenswelt, noch bevor sie von den Experten in einzelne Felder und Disziplinen zerlegt worden ist. Dort herrscht meist jene Übersicht und Klarheit, die den Zeitgenossen, die sich im „Dunkel des gelebten Augenblicks“ bewegen (Ernst Bloch), nicht vergönnt war, wohl aber den Nachgeborenen, die wissen, wie die Geschichte ausgegangen ist. Das Sowjetische Jahrhundert, Verlag C. H. Beck oHG, München 2017
The Soviet Century Karl Schlögel
This is where archaeology sets in – literally and figuratively speaking. Archaeology uses the territory of the former empire as a field in which traces are discovered and secured, where probes are positioned and excavations conducted. Archaeologists don’t choose excavation sites at random; they chose them by evaluating promising clues. They use their navigation systems and maps and, above all, they have memorized entire libraries. They aim at finding remnants of previous generations. They reveal layer by layer, recover the excavations, they catalog fragments and they prepare their conservation and subsequent analysis. What they find is supposed to provide information about a world long gone. They apply their knowledge of reading and deciphering the fragments and create an image, the story of a past era. Each fragment has its own story. And the challenge is to get the fragments to tell that story. The mosaic consists of single pieces and the stories revealed by the lifeless objects – taken together - form what is called “the” history. At times, archaeologists unexpectedly discover layers and objects which force them to reconsider traditional interpretations, periodizations and contexts: magical moments for excavators. Revealing objects, recovering them, making them tell their story – this is the proposed course of archaeology. And with this, another far more extensive term for the document comes into play: “the origin“. So in order to identify the origin of the visualization of a past era not only written documents, reports, testimonies and files can be considered, but basically all objectivations of human activity (apart from natural history’s sediments). The world is being viewed and becomes readable through the history of things, the analysis of signs and forms, locations and routines. Everything originates in a detail and the main question with the project “Soviet history of civilization“ therefore is: Where to begin and where to stop when everything must be considered: The large communist buildings as well as small porcelain figures from the 1930s, the voice of the Radio Moscow host and the parade of the athletes, Gorky Park as well as the Kolyma Gulag. The construction of the mausoleum as well as the beaches of the Red Riviera. This list is neither a plea for “anything goes“, nor a game looking for the unusually exotic, but a reference to a society’s unlimited
complexity, especially when it was drawn into a sequence of war, civil war and a revolution and when life became more of a fight for survival. It’s all or nothing in the history of civilization. It’s not a story about politics or everyday life, about terror or enthusiastic approval. It’s not a story about politics or everyday life, about terror or enthusiastic approval and not a story about culture or barbarism. But it is not primarily about the technical options of navigating in an endless space, but about a much more difficult thing. It is about the act of envisioning “the whole“, about reconnecting what used to belong together for contemporaries in terms of time and space: The totality of a living environment before experts divided it into single fields and disciplines. There, the vision and clarity exist, which were not granted to contemporaries moving “in the darkness of the moment“ (Ernst Bloch), but to the future generations aware of the course of history. Translation by Kathrin Wiggins and Sherrie Blackman-Linse
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Pictures from Utopia 2003–2005 Pigmentdrucke Pigment prints
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Ausstellung Exhibition Aktivist, EisenhĂźttenstadt 2005
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Kaliningrad 2004 Busbahnhof Bus station
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Kaliningrad 2004
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Ukraine 2001
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Vilnius 2005
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Die Litauische Rakete The Lithuanian Rocket 2005 Holzrakete, Fotografien, Interviews Wooden rocket, photographs, interviews
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Komsomolsk Amur 2008 Ruhm fĂźr die Stadt der Jugend Glory for the Town of Youth
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Komsomolsk Amur 2008
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Bratsk 2008
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Bratsk 2008
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Tynda 2008
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Bratsk 2008
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Polygon 2010 Konstruktion, Fotografien, Licht Construction, photographs, light
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Zeitkapseln Für die Pioniere im Jahr 2022 Für die Komsomolzen des Jahres 2018 Mit einem Brief an die Bürger Rostow Dons zu öffnen am 7. November 2017 anlässlich des 100sten Jahrestages der Revolution
Rostow Don 2008
Time capsules For the pioneers of year 2022 For the komsomol member of year 2018 With a letter to the Rostov Don citizens to open at November 7 th 2017 at the 100 years anniversary of the Revolution
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Tynda 2008 Tynda forever
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Komsomolsk Amur 2008 Wir lieben unsere Stadt We love our city
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Togliatti Tolyatti 2008
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Akademgorodok Nowosibirsk Novosibirsk 2008
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Toljatti Tolyatti 2008
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Kolyma 2017 Wasserkraftwerk Hydroelectric power station Ust-Srednekansk
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Jakutsk Yakutsk 2012
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Kolyma Serie Kolyma Series 2012–2019 S/W Fotografien b/w photographs
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Kolyma 2017
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Simnik auf Fluss Lena at Lena River 2017
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Anadyr 2019
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Bilibino 2019
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100 Jahre GroĂ&#x;e Sozialistische Oktoberrevolution 100 Years Great October Socialist Revolution 2017 Magadan Video
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Chaussee der Enthusiasten Avenue of Enthusiasts 2020 Installation mit sowjetischen Ansichtskarten Installation with Soviet picture postcards
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Eingekapselte Zukunft – vertraute Bilder Eva Pluhařová-Grigienė
Encapsulated Future – Familiar Images Translation by Kathrin Wiggins and Sherrie Blackman-Linse
100 Jahre Revolution, 2017, Magadan, Video → S. 110 Uns zugewandt steht eine Menschenmenge in dunkler Winterkleidung zum Gruppenfoto auf einem vereisten Platz versammelt. Über ihr wehen rote Fahnen. Tauben fliegen auf. Es ist kein Meer roter Fahnen, auch passt die Gruppe übersichtlich ins Bild. Sie ist hinterfangen von Plattenbauten, die ihr goldenes Zeitalter schon hinter sich haben. Das Ziel der Versammlung wächst über ihren Köpfen hervor: Es ist Lenin, immer noch entschlossen über die Masse hinwegblickend. Nur der liegengebliebene Schnee auf Schultern, Kragen und Armen verleiht dem schattenhaften Riesen etwas Greifbares. Das Ensemble von Kollektiv, Führer, Fahnen und gebauter Umgebung ruft vertraute Bilder aus einem visuellen Repertoire ab, das über Jahrzehnte etabliert wurde. Aber etwas stimmt nicht. 2017, zum 100. Jahrestag der Oktoberevolution aufgenommen, fehlt der Optimismus: der blaue Himmel, die Fröhlichkeit, die Zukunft. Lenin scheint zurückzublicken. Zu seinen Füßen keine Visionäre, sondern Nostalgiker?
100 Years of Revolution, 2017, Magadan, Video → p. 110 A crowd of people is facing us. They are wearing dark winter clothing gathering for a group photo on an icy square. Red flags are waving above their heads. Startled doves are flying off. It’s not exactly an ocean of red flags and the group is small enough to fit in the photo. In the background there are prefabricated buildings, their golden times long gone. The reason for the gathering shows above the peoples’ heads: Lenin, still overlooking the crowd with a determined face. The snow covering the statue’s shoulders, collar and arms is the only thing that makes the shadowy giant appear tangible. The combination of collective, leader, flags and built surroundings creates familiar images of a visual repertoire established through the decades. But something is off. There is no optimism in the photo taken in 2017 on the occasion of the 100th anniversary of the October Revolution. No blue sky, no happiness, no future. Lenin seems to be looking back, at his feet no visionaries, but a group of nostalgics?
Gabriele Muschter/Uwe Warnke Herr Neumann, Sie haben 2008
Gabriele Muschter/Uwe Warnke Mr. Neumann, over a period of
nach über zehn Jahren, in denen Sie einige Länder der ehemaligen Sowjetunion bereist haben und dort Inspiration für eine künstlerische Auseinandersetzung gefunden haben, eine vorerst letzte große Reise durch Russland gemacht. Damals sagten Sie: „Okay, das war es jetzt mit diesem Thema.“ Knapp zehn Jahre später sind Sie dann doch noch einmal losgefahren und haben neue Eindrücke gemacht. Können Sie davon erzählen? Thomas Neumann 2008 hatte ich eine große Tour von Japan aus durch den Fernen Osten und Sibirien bis nach Deutschland gemacht. Dabei habe ich mir verschiedene „Neue Städte“ angeschaut, zum Beispiel Komsomolsk am Amur, Tynda, Bratsk mit dem großen Aluminiumwerk und der Staumauer, Krasnojarsk und andere mehr. Vor Ort habe ich mich mit Leuten von der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ getroffen, die sich mit der Aufarbeitung der sowjetischen Gewaltherrschaft befasst und die mir dort die Stätten der Arbeitslager zeigten und diese elende Geschichte noch einmal vor Augen führten. Bis in die heutige Zeit herrscht teilweise ein harscher Umgang innerhalb der Familien mit diesem Erbe. Ich habe von so vielen Biographien erfahren, in denen Großeltern oder Eltern verschwunden und verschleppt worden sind, die Familien auseinandergerissen wurden. Alles in diesem riesengroßen Land. Das hatte mich auf dieser Reise berührt
more than 10 years you visited a number of countries of the former Soviet Union and found inspiration for an artistic examination. In 2008, you undertook what you thought would be your last big journey through Russia. At the time, you thought you were done with this topic. Roughly 10 years later, you travelled again in order to gather new impressions. Please tell us about it. Thomas Neumann In 2008 I started my big tour in Japan taking me through the Far East and Siberia back to Germany. I visited a couple of “New Cities“ like Komsomolsk-on-Amur, Tynda, Bratsk with its large aluminum factories and the dam, Krasnoyarsk and many others. I met with members of the human rights organization “Memorial“, who are concerned with the historical reappraisal of Soviet despotism. They took me to the respective labor camps and reminded me of those terrible chapters in history. To this day, families sometimes still struggle with this legacy. So many biographies reveal stories about disappeared or displaced grandparents or parents, about families that have been torn apart. All of this happened in this huge country. This had deeply touched me on this journey, and it stuck with me. Back then I realized that my artistic examination of this chapter had been completed.
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und beschäftigt. Auf künstlerischem Gebiet hatte ich damals bemerkt, dass für mich dieses Kapitel abgeschlossen war. Dann kam das Jahr 2017 und damit der 100. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution. Dieses Ereignis hat während meiner Kindheit immer ein Fernziel dargestellt. So gab es so genannte Zeitkapseln, deren Enddatum dieses Jubiläumsjahr war. Sowohl in der DDR als auch in anderen sozialistischen Ländern wurden diese Kapseln in Neubauten oder in Denkmäler eingebaut, zum Beispiel 1967 zum 50. Jahrestag der Revolution. Es gab dann Plaketten, auf denen geschrieben stand, dass die jeweilige Zeitkapsel im Jahr 2017 von der zukünftigen Generation der Erbauer des Kommunismus zu öffnen sei. Mit dem Näherrücken dieses Datums reifte in mir der Plan, doch noch einmal nach Russland zu reisen. Wäre die Sowjetunion samt Kommunismus nicht zerfallen, wäre dieses Jubiläum in höchstem Maße gefeiert worden. Ich wollte mir anschauen, was in Russland von dieser Geschichte noch übrig ist. Thomas Neumann, 1975 in Cottbus geboren, begann noch als Schüler in den 1990er Jahren die Länder der ehemaligen Sowjetunion zu bereisen und dort zu fotografieren. Zurückgekehrt boten ihm die gemachten Erfahrungen, Begegnungen und Bilder eine Grundlage zur künstlerischen Auseinandersetzung. Seine Fahrten, die er über die folgenden Jahre während des Studiums an der Düsseldorfer Kunstakademie und danach fortsetzte, führten ihn dabei ins Baltikum, nach Belarus, in die Ukraine und nach Zentralrussland, aber auch nach Sibirien und Zentralasien bis in den russischen Fernen Osten. Nach der Wende war Neumann bei Weitem nicht der einzige Fotograf mit einem Interesse für diese zuvor aus dem Ausland nur schwer zu erreichenden Gebiete. Sein Interesse am ehemals sowjetischen Territorium richtete sich jedoch weder auf eine ästhetisch neu zu würdigende Ost-Moderne, noch ging es ihm darum, die Transformation post-sozialistischer Landschaften oder Persönlichkeiten zu dokumentieren. Vielmehr verfolgte er die Spuren der Bild- und Sinnwelten des sowjetischen Sozialismus vor Ort, nachdem sich deren Versprechen von Fortschritt und einer strahlenden Zukunft erledigt hatten. Der Anthropologe Alexei Yurchak hat das Lebensgefühl der letzten sowjetischen Generation, die das abrupte Ende des auf die Ewigkeit hin angelegten Systems miterlebte treffend mit „everything was forever until it was no more“ umschrieben. 2017 reiste er nach einer Pause von fast zehn Jahren nach Sibirien, um sich vor Ort davon ein Bild zu machen, was 30 Jahre
Then 2017 came along and with it the 100th anniversary of the Socialist October Revolution. Throughout my childhood this event had been a long-term objective. There used to be so-called time capsules, which showed the date they were to be opened – the date of the 100th anniversary. In the GDR as well as in other socialist countries, these time capsules used to be integrated into new buildings or memorials like in 1967 on the occasion of the 50th anniversary of the revolution. There were plaques stating that the respective time capsule was to be opened by the future communist generation in 2017. With this date approaching, I started making plans to return to Russia once more. Had the Soviet Union along with Communism not collapsed, this anniversary would have been celebrated excessively. I wanted to find out what was left of this aspect of Russia’s history. Born in Cottbus in 1975, Thomas Neumann, too, looks back at works of art created within the past 25 years: It was during his high school days in the 1990s, that Neumann started to visit and to photograph the former Soviet Union. Upon his return, his experiences, encounters and photographs provided the basis for his artistic examination. His continuing journeys would take him to the Baltic States, Belarus, the Ukraine and to Central Russia as well as Siberia, Central Asia and the Russian Far East. After the German reunification, the countries and places which previously were so hard to get to sparked Neumann’s and numerous other photographers’ interest. Yet his interest in the former Soviet territory was neither focused on an esthetically re-valued East-modernity nor did he want to document the transformation of post-socialistic landscapes or biographies. Instead, he tracked the traces of the Soviet socialism’s pictorial worlds and system codes after it had failed to keep its promises of progress and a bright future. “Everything was forever until it was no more“. It was this accurate description the anthropologist Alexei Yurchak provided to describe the attitude towards life of the last Soviet generation that witnessed the abrupt end of the system that was meant to last forever. After almost 10 years, he returned to Siberia in 2017 in order to see for himself what was left of the former Soviet Union and its objective and mental system codes 30 years after its break-up. Pursuing the method of “Archeology of a Lost World“ followed by the cultural historian Karl Schlögel in his collection of essays “The Soviet Century“ (2017) he visits places far away
nach der Auflösung der Sowjetunion von deren gegenständlicher wie mentaler Sinnwelt noch übriggeblieben war. Anverwandt der Methode der „Archäologie einer untergegangenen Welt“, die der Kulturwissenschaftler Karl Schlögel in seiner Essaysammlung „Das sowjetische Jahrhundert“ (2017) praktiziert, aber im Unterschied zu diesem künstlerisch forschend, besucht er Orte, die fernab der Zentren des ehemaligen Imperiums liegen. Wie Schlögel interessiert sich auch Neumann für die Spuren der „sowjetischen Zivilisation“, die sich nicht nur auf das politische System, das 1991 endete, beschränken lässt, sondern die damalige Lebenswelt umfasst und als alltagsweltliche Prägungen durch gestaltete Umwelt, Werte, Praktiken oder Routinen bis heute nachwirkt. Der Begriff der „Archäologie“ verweist dabei auf die Methode eines Freilegens von Vergangenem, das sich gewissermaßen in Schichten an einem Ort abgelagert hat und dessen Spuren an der Oberfläche teils noch sichtbar sind, größtenteils aber darunter verborgen. Neumann gräbt nicht, er richtet den Blick auf Räume, die konstitutiv für diese Sinnwelten waren - kommunale Gebäude wie Kulturzentren, Monumente, moderne Trabantenstädte, aber auch Landschaften, die aufgrund ihrer Bodenschätze und als Stätten von Arbeitslagern eine zentrale Stellung im sowjetischen Heldennarrativ einnahmen. Von diesen fertigt er Bilder an. Thomas Neumann Bei der Überlegung, welchen Ort ich besuchen sollte,
kam ich auf das Gebiet um den Fluss Kolyma und der Stadt Magadan als den Hauptsitz der ehemaligen Verwaltung der regionalen Straf- und Arbeitslager des Gulag. Das ist eine kleinere Stadt im Fernen Osten Russlands am Ochotskischen Meer. Unter Stalin erlangte es seit den 1930er Jahren Bedeutung, weil von dort aus die neuen Sträflinge auf die Arbeitslager des Gulag an der Kolyma verteilt wurden. Von Magadan aus wurde die ganze Region unter härtesten Bedingungen und großen Opfern erschlossen. Es wurden Gold und Silber gefördert und damit der Aufbau der Wirtschaft der jungen Sowjetunion bezahlt. Später wurden auch Uran und andere seltene Metalle gefördert. Am „Kältepol“ der Kolyma (Karl Schlögel) wurde die gesamte dafür notwendige Infrastruktur, Siedlungen, Straßen, von den Gulag-Sträflingen auf den Permafrostboden gebaut. Im kurzen Sommer gibt es Hitze, Sumpf und Mücken, im langen Winter dagegen Frost von bis zu 50 Grad minus, Sturm und Schnee. Die Sterblichkeitsrate unter den mit Behausung, Kleidung und Nahrung unterversorgten Arbeitern war dementsprechend hoch. Diesen
from the former Imperium’s centers – in contrast to Schlögel, however, he examines things artistically. Just like Schlögel, Neumann is interested in the traces left behind by the “Soviet civilization“ which can’t be limited to the political system that ended in 1991, but encompasses the former living environment and continues to have an effect even today in the form of daily conditioning through the environment, values, practices and routines. The term “archeology“ refers to the method of excavating the past, which in a way formed sedimented layers and traces of which are partly visible on the surface, but largely hidden underneath. Neumann does not dig, but instead focuses not only on the system codes of constitutive spaces like municipal buildings, cultural centers, monuments and modern satellite towns, but also on landscapes providing natural resources and locations of labor camps representing a central pillar of the Soviet heroic saga. This is what he takes pictures of. Thomas Neumann When thinking about which place I was going to
visit, I stumbled across the area around the Kolyma River and the city Magadan, which used to be the headquarters of the former administration of the Gulag’s regional prison and labor camps. The small city is located in Russia’s Far East at the Sea of Okhotsk. The area had gained importance under Stalin after 1930 because from there, new prisoners were distributed to the Gulag’s labor camps along the Kolyma. From Magadan the whole region was developed under the harshest conditions and at the price of great sacrifices. Gold and silver were mined, which paid for the development of the economy of the young Soviet Union. Later, also uranium and other rare metals were mined. At Kolyma’s “pole of cold“ (Karl Schlögel) Gulag prisoners built all necessary infrastructure, settlements and roads on permafrost soil. The short summer was characterized by heat, swamps and mosquitoes, the long winter instead by frost with temperatures as low as -50 degrees, storms and snow. This coincided with a high death rate among the prisoners who were deprived of housing, clothing and food. On the occasion of the100th anniversary of the revolution, I wanted to visit this dark yet central place. I arrived there in November of 2017 and accompanied the demonstration of the Russian communist party in Magadan. It consisted of roughly 100 protestors walking on the sidewalk holding red flags and megaphones. The road had not even been
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schlimmen und doch zentralen Ort wollte ich mir zum hundertjährigen Jubiläum der Revolution anschauen. Ich bin dann im November 2017 eingetroffen und habe in Magadan den Demonstrationszug der kommunistischen Partei Russlands begleitet. Er bestand aus etwa einhundert Menschen, die auf dem Gehweg ihre Demonstration mit roten Fahnen und Lautsprechern abhielten. Nicht einmal die Straße war abgesperrt. Es waren vorwiegend ältere Leute, nur ein paar Jüngere, die sozialdemokratisch engagiert waren und Forderungen zu Sozialleistungen und Renten machten. Dann ist der ganze Demonstrationszug zum Lenin Denkmal gezogen, das heute, nachdem es in den 1990ern einer orthodoxen Kathedrale hatte weichen müssen, an einem neuen Ort steht. Dort gab es eine Versammlung, die ich gefilmt und fotografiert habe. Im weiteren Verlauf habe ich Interviews mit Veteranen gemacht.
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Kolyma Serie, 2012–2019, S/W Fotografien → S. 103 Eine Winterlandschaft, vernebelt der junge Waldrand auf der Horizontlinie. Davor ein schneebedecktes Feld wie es scheint. Nichts los hier. Und doch ist etwas geschehen vor dem letzten Schneefall. Da sind kreisförmige Spuren von Reifen in der Mitte der Lichtung zu erkennen, quer durchschnitten von einem Trampelpfad, im Vordergrund sieht man Fährten von Tieren. Hier wie an anderer Stelle wählte Neumann die Totale und einen leicht erhöhten Standpunkt. Dieses distanzierte, scheinbar objektive Hinblicken lässt die von ihm ins Bild gesetzten Orte als Schauplätze oder Bühnen erscheinen. Diese Winterlandschaft jedoch zeigt nichts. Gleichwohl lädt sie zum Schauen ein sowie dazu, die Oberfläche zu hinterfragen. Bei dem vermeintlichen Feld handelt es sich um den zugefrorenen Fluss Indigirka, in dem früher auch Gold geschürft wurde. Die dunkle Tonalität verleiht der Aufnahme etwas Bedrohliches und konterkariert die Möglichkeit, hier eine Winteridylle zu betrachten. Die Bearbeitung lässt zudem an alte Fotografien denken, wie sie vielleicht während der 1930er Jahre die wirtschaftliche Erschließung dieses Geländes begleitet haben. Thomas Neumann Von Magadan aus bin ich danach zweitausend Kilometer durch das Kolyma-Gebiet bis nach Jakutsk gereist. Man nennt die Strecke auch „Straße der Knochen“, weil sie von Sträflingen erbaut wurde, die dort Tausendfach gestorben sind und
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cordoned off. There were mostly elderly people and only a few younger ones who demonstrated for social democratic values and demanded social benefits and pensions. The protestors then marched to the Lenin monument, which today is located in a different place after an orthodox church was built in its original location in the 1990s. I photographed and filmed that gathering and later on conducted interviews with veterans.
Kolyma Series, 2012–2019, b/w photographs → p. 103 A winter landscape, on the horizon line, fog covers the small trees at the edge of the forest. The space before the trees looks like a snow-covered field. Nothing is happening here. And yet something happened before the last snowfall. There are circular tire tracks visible in the middle of the clearing, cross-cut by a path, in the foreground there are animal tracks. Like in other locations, too, Neumann chose the long shot and a slightly elevated position. This distanced and slightly objective view makes his motives appear like settings or stages. This winter landscape, however, shows nothing. Yet it makes you take a closer look, makes you examine the surface. What looks like a snow-covered field is actually the frozen Indigirka River where gold used to be mined. The dark tonality makes the photograph appear menacing and counteracts the assumption of looking at an idyllic winter landscape. The editing furthermore is reminiscent of old photographs like the ones taken in the 1930s when this region developed economically. Thomas Neumann Starting in Magadan, my journey took me
2.000 kilometers through the Kolyma area to Yakutsk. The route is also called the “Road of Bones“ because it was built by prisoners dying by the thousands. In winter, their bodies were simply left behind on the frozen ground. Constructions today during the summertime frequently reveal human bones and skulls. Almost nothing is left of the former camp’s barracks and watchtowers. I was interested in the winter landscape in the sense of a historical landscape. In November, everything is white and frozen. A seemingly untouched winter wonderland, which makes you shiver considering all the misery and the human tragedies that unfolded there. Along with people from the Soviet Union, German, Polish and Japanese prisoners of war were also subjected to forced labor there. Prisoners from all corners of the world were taken to this
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im Winter auf dem hartgefrorenen Boden einfach liegen gelassen wurden. Heute findet man im Sommer bei Bauarbeiten immer wieder menschliche Knochen und Schädel. Von den Baracken und Wachtürmen der ehemaligen Lager und Baracken ist fast nichts mehr übrig. Mich interessierte die Winterlandschaft als historische Landschaft. Im November ist dort alles weiß und gefroren. Eine scheinbar unberührte Winter-Wunder-Welt, die einen angesichts des Leids, das sich dort zugetragen und der menschlichen Schicksale, die sich abgespielt haben, gruseln lässt. Neben Menschen aus der Sowjetunion haben dort auch deutsche, polnische und japanische Kriegsgefangene Zwangsarbeit geleistet. Aus allen Himmelsrichtungen kamen die Sträflinge in diese entfernte Region. Auch deutsche Kommunisten und Juden, die vor den Nazis geflohen waren und dann direkt in den Gulag kamen. Für mich spiegelt sich dort die ganze Bandbreite der Gewalt der Moderne im 20. Jahrhundert wieder: Repression, Lager, megalomane Infrastrukturprojekte, Besiedlungspläne, neue Städte. Mit diesem Bewusstsein habe ich diese Landschaften fotografiert. 2019 habe ich das Thema nochmals aufgegriffen. Ich wollte in Chukotka ein Kernkraftwerk fotografieren. Es ist das kleinste der noch zu Sowjetzeiten in der entlegensten und unwirtlichsten Region des Landes gebauten Kernkraftwerke. Aber es war und ist unentbehrlich für die Goldförderung, die bis heute ein wichtiger Wirtschaftszweig Russlands ist. In Düsseldorf am Schreibtisch habe ich dann angefangen, alle Fotografien und Projekte seit 1994 durchzuschauen und ein gesamtes Übersichtsprojekt zusammenzustellen.
Atyrau, 2001, Farbfotografie → S. 58 Wir stehen in der Mittagssonne auf einer symmetrischen Platzanlage in einiger Entfernung vor einem spätsowjetischen Gebäude. Durch seine große Freitreppe lädt es uns ein, näher zu kommen und sich von der mehrstöckigen Glasfassade des Flachbaus verschlucken zu lassen. Die guten Absichten dieser öffentlichen Architektur (handelt es um einen Kulturpalast, ein Haus der Räte?) werden von zwei, links und rechts in den staubigen Boden gesteckten Lampen vermittelt, die an überdimensionierte Pusteblumen oder bunt explodierendes Feuerwerk erinnern. Die ostentative Festivität der postsowjetisch ergänzten Elemente des neuen Kasachstans steht im Kontrast zur der
remote region. German communists and Jews, too, who had escaped the Nazi regime were taken directly to the Gulag. To me this region represents the whole range of violence of the modern 20th century: repression, camps, megalomaniac infrastructure projects, settlement plans, new cities. That was what I had in mind photographing those landscapes. In 2019, I revisited the topic. I wanted to photograph a nuclear power plant in Chukotka. Built in Soviet times, it is the smallest plant in the most remote and least profitable region of the country. But it was and still is essential for gold mining, an important Russian industry to this day. Sitting at my desk in Duesseldorf, I started to look through all photographs and projects dating back as far as 1994 and I put together a complete project.
Atyrau, 2001, Color photograph → p. 58 We are standing on a symmetrical square, at some distance in the background there is a building from the late Soviet era. The midday sun is shining. The low-rise building’s large outside staircase invites us to come closer and to be swallowed by its multilevel glass facade. The architecture’s good intention (is this a palace of culture, a House of Soviets?) is conveyed by two lamps stuck in the dusty ground to the left and right. They look like oversized dandelions or colorfully exploding fireworks. The ostentatiously festive display of post-Soviet elements in the new Kazakhstan are a marked contrast to the otherwise sparsely planted parc, containing only a few scattered bushes and hedges. Motive and tonality resemble the cityscapes on postcards and in popular photobooks that were commonly used in the Soviet Union at least up to the 1970s: Modern buildings and squares were usually photographed using epic landscape formats. The sun would be shining profusely, in color photographs there would be an azure blue sky occasionally covered in white cumulus clouds. The architectural element would often be framed by grassy areas with red and white flowers. People wearing preferably red or yellow clothing would often be in the picture functioning as staffage and measurement. Neumann’s square, however, does without pedestrians, the flower beds are sparsely planted. It is this difference that manifests the archeological interest of Neumann’s photographs. It does not only refer to concrete physical spaces, but also to the Soviet pictorial world and
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ansonsten spärlich mit einzelnen Büschen und Sträuchern in Beeten gestalteten Anlage. Motiv und Tonalität lassen an die mindestens bis in die 1970er Jahre hinein in der Sowjetunion üblichen Stadtansichten auf Postkarten und in populären Bildbänden denken: Dort fotografierte man moderne Gebäude und Plätze in der Regel im epischen Querformat, kräftig von der Sonne beleuchtet, bei Farbaufnahmen mit einem azurblauen Himmel, der gegebenenfalls von weißen Cumuluswölkchen gestützt wurde. Im Vordergrund rahmten häufig Grünflächen mit roten und weißen Blüten die architektonische Ansicht. Auch wurden zusätzlich gerne Personen, möglichst rot oder gelb gekleidet, als Staffage und Maßstab mit aufgenommen. Auf Neumanns Platz jedoch gibt es keine Passanten und die Blumenrabatte sind nur dürftig bepflanzt. In dieser Differenz manifestiert sich das „archäologische“ Interesse von Neumanns Bildern, das sich nicht nur auf die konkreten physischen Räume, sondern auch auf die sowjetische Bildwelt und deren Transformation bezieht. Mit dieser Bildwelt ist Neumann, der visuell in der DDR sozialisiert wurde, durch fotografische Illustrationen in Magazinen und Bildbänden, vor allem aber durch Postkarten, die er auch selbst sammelt, eng vertraut. Die dort versammelten Bilder hatten ihrer Zeit die Aufgabe, das riesige und vielgestaltige Territorium der UdSSR und ihrer Satellitenstaaten nach Außen als einen einheitlichen sozialistischen Raum zu vermitteln und nach Innen der modernen „sowjetischen Zivilisation“ im Sinne Schlögels eine Heimat zu geben. Mit den vor Ort entstandenen Bildern konfrontiert Neumann diesen imaginären Raum, der selbst nie frei von Widersprüchen war, mit dem eigenen Blick. Die Widersprüche der sowjetischen visuellen Kultur waren seit den 1970er Jahren auch ein zentrales Thema von offiziell nicht anerkannten Künstlern in Russland. Zu diesen gehörte der Maler Eric Bulatov (geb. 1933). Seine Gemälde treiben ein ironisches Spiel mit dem Stil und der Ikonographie des sozialistischen Realismus sowie der damals im öffentlichen Raum allgegenwärtigen appellierenden Schriftzüge. Seit der Wende setzt er diese Strategie fort und weist auf die Ungereimtheiten der imaginären Welten im Post-Sozialismus hin, wo alles neu erscheint, Wesentliches jedoch beim Alten geblieben ist [Abb. 1+6]. Auf „A Souvenir Photograph“ (1994-95) wird deutlich, dass die Vorstellung der idyllischen Landschaft immer nur Projektion von Sehnsüchten ist, in deren Licht die ehedem unwiderruflich rot gefärbten Identitäten aufscheinen. Auf die
1 Erik Bulatov Ein Erinnerungsfoto A Souvenir Photograph 1994–1995
2 Kurt Buchwald Georg, aus: Berliner Traum from series Berlin dream 1987
besondere Rolle der Fotografie beim Erschaffen der modernen Sehnsuchtswelten verweist dabei der Titel des Gemäldes. Aus Bulatovs Werk bezog Neumann Anregungen für seine eigene Auseinandersetzung mit der Vorstellungswelt der Sowjetunion und der post-sozialistischen Realität im Medium der Fotografie. Gabriele Muschter/Uwe Warnke Gab es einen Punkt, an dem Sie sich
bewusst für das Medium Fotografie entschieden haben und warum? Thomas Neumann Ich hatte als Kind oder Jugendlicher nicht viel mit Kunst zu tun. Das Interesse daran wurde erst durch einen Kunstlehrer auf dem Gymnasium geweckt, der mich mit Marcel Duchamp und seinem Werk bekannt gemacht hat. Als Jugendlicher fand ich dessen radikale Haltung, dass alles ein Kunstwerk sein kann, sehr interessant. In Cottbus, wo ich aufgewachsen bin, wurden damals im Museum, das eine Fotografie-Ausrichtung hat, auch Workshops angeboten. Da habe ich bei Kurt Buchwald und Max Baumann Workshops besucht, die mir das Medium Fotografie bzw. ihre jeweiligen Sichtweisen nähergebracht haben. Daraufhin habe ich Vieles ausprobiert. […] Später bin ich auf die Kunstakademie Düsseldorf gekommen, zu Bernd Becher, der zu dieser Zeit noch da war. Das war eine ganz andere Sichtweise auf Fotografie. Kurt Buchwald (geb. 1953) beschäftigt sich seit 1979 mit künstlerischer Fotografie. Die kritische Auseinandersetzung mit der medialen Wahrnehmung gehört zu seinen thematischen Leitlinien. In seinen noch zu DDR-Zeiten angefertigten Bildern wirkte dieses zurschaustellende Hinterfragen von Sicht- und Sichtbarkeit angesichts der ideologischen Indienstnahme gerade der Fotografie als vermeintlich objektives Bildmedium provokant und subversiv [Abb. 2+4]. Gabriele Muschter/Uwe Warnke „Fotografie ist für mich immer ein
Medium, dem ich kritisch gegenüberstehe, zu oft wurde es instrumentalisiert“, sagen Sie. Ist das eins Ihrer künstlerischen Grundprinzipien? Thomas Neumann Ich denke schon. Ich hatte den Workshop mit Kurt Buchwald angesprochen. Er ist ein Künstler, der kritisch und ironisch mit dem Medium Fotografie umgeht. Das hat mich ohne Zweifel geprägt. Aber generell habe ich ein kritisches und zweiflerisches Wesen. Außerdem ist es allgemein bekannt, dass eine Fotografie ein viereckiger Ausschnitt von einer großen Welt ist, der ganz bewusst gewählt wird: zunächst in dem Moment, wenn
its transformation. Neumann, visually socialized in the GDR through photographic illustrations in magazines and picture books, but mainly through postcards he used to collect, has a tight connection to this pictorial world. The collected photographs were to both externally represent the enormous and diverse territory of the USSR and its satellite states as a homogeneously socialist space as well as to internally be a home to a modern “soviet civilization“, according to Schlögel. Neumann uses those photographs in order to confront this imaginary space never free of contradictions with a new view. Since the 1970s, Russian artists not officially recognized have been addressing the contradictions in the Soviet visual culture. Among them was the painter Eric Bulatov (born in 1933). His paintings ironically play with the style and the iconography of socialist realism as well as with the lettering omnipresent in public areas back then. Since the collapse of the Soviet Union, he has been continuing this strategy, pointing out irregularities of the imaginary worlds in post-socialism where everything pretends to be new, yet essentials remain unchanged [images 1+6]. “A Souvenir Photograph“ (1994-95) shows that the image of an idyllic landscape is never more than a projection of longings in whose light the originally irrevocably red identity is perceived. The painting’s title is a reference to the special role that photography plays in creating modern worlds of longing. Bulatov’s work provided Neumann with impulses for his very own examination of the Soviet imaginative world and the post-socialist reality of photography as a medium. Gabriele Muschter/Uwe Warnke Was there a point where you
consciously chose photography to become your medium and if so why? Thomas Neumann As a child and teenager I wasn’t concerned with arts at all. It was an arts teacher in high school who got me interested by introducing me to the works of Marcel Duchamp. His radical approach stating that everything can be a piece of art was very appealing to me as a teenager. I grew up in Cottbus and back then the local museum, which also focused on photography, offered workshops. I took part in workshops by Kurt Buchwald and Max Baumann and I became acquainted with photography and its respective perspectives. I started trying different things. […] Later I attended the Kunstakademie Düsseldorf and met Bernd Becher, who taught there back then. He introduced me to an entirely different perspective at photography.
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ein Fotograf ein Foto macht, und dann, wenn es zur Publikation ausgewählt wird. Ein Foto durchläuft verschiedene Selektionsprozesse bevor wir es vor Augen haben. Heute in der digitalen Internetwelt ist der Selektionsprozess vielleicht ein anderer als früher. Warum bekomme ich in einer Zeitung dieses und jenes Foto zu sehen? Das hat ganz bestimmte Gründe und ist kein Zufall. Dies kann man vielleicht nicht auf den künstlerischen Bereich übertragen, aber das Medium der Fotografie an sich ist ein bildgebendes Medium. Jedoch ist es nicht Eins zu Eins mit der Realität verknüpft. Es gibt immer eine Botschaft. Deshalb finde ich Fotografie in zweierlei Hinsicht interessant: Einerseits bin ich mir, wenn ich selbst Fotos mache, natürlich dieser Prozesse bewusst und kann dieses Wissen thematisieren; andererseits stellen sich mir diese Fragen, wenn ich ein Foto betrachte: Warum ist das Foto hier, wer hat das gemacht und warum ist es in diesem Kontext und so weiter?
Pictures from Utopia, 2003–2005, Pigmentdrucke → S. 72 Ähnliche Fragen wirft auch die über mehrere Jahre verfolgte Serie „Zeitungsfotos“ von Thomas Ruff auf, der nach dem Ausscheiden von Bernd Becher ebenfalls Lehrer von Neumann an der Düsseldorfer Akademie war. Ruff sammelte von 1981 bis 1991 um die 2500 Fotos aus deutschsprachigen Zeitungen. 1990 begann er schließlich einige Hundert Bilder daraus auszuwählen, um sie bar ihres Publikationskontextes, d.h. ohne Bildunterschriften und begleitende Texte, in Ausstellungen und Publikationen erneut zu veröffentlichen. Die von ihm mit Farbfilm abfotografierten Schwarzweißbilder behalten dabei mögliche Unschärfen, die durch Bewegung, einen falschen Fokus oder die Rasterung entstanden sind. Auch weiß man bei den meisten Aufnahmen nicht, was eigentlich dargestellt ist. Ohne Angaben von Ort, Zeit und den Entstehungsumständen der Fotografie, betrachten wir das Festgehaltene allein mit der Vermutung, dass es Bedeutung gehabt haben muss [Abb. 3+5]. Jedoch wird das ursprüngliche aufklärerische Anliegen eingehegt durch die nochmalige Veröffentlichung in einem völlig anderen Rahmen - dem der Kunstwelt. Die Bilder verlieren ihren Evidenzcharakter und werden auf ihre formalen Aspekte reduziert. Fototheoretisch verweist die Serie auf die Auffassung, dass es ohne Kontextwissen keine intrinsische Bildbedeutung gibt. Die Fotografien erscheinen uns formal vertraut, bleiben aber letztendlich unlesbar.
Kurt Buchwald (born in 1953) has engaged in artistic photography since 1979. One of his major themes has always been the critical examination of media perception. Considering that photography was an allegedly objective visual medium, used for ideological purposes, his photographs taken in the GDR-era were provocatively and subversively questioning view and visibility [images 2+4]. Gabriele Muschter/Uwe Warnke You claim you always have a critical
view of photography as a medium as it has been instrumentalized too often. Is that one of your basic artistic principles? Thomas Neumann I think so. I’ve mentioned Kurt Buchwald’s work shop earlier. As an artist he deals with photography in a critical and ironic manner. Undoubtedly, that has shaped my view. But I am a rather critical and skeptical person per se. Furthermore, it’s clear that a photograph is a deliberately chosen square section of a much larger world: First, at the exact moment when the photo is taken by the photographer and later, when being chosen for publication. A photo has already undergone a number of selection processes when we lay eyes on it. Today, using the digital world of the internet, the selection process may have changed. Why does a newspaper show this or that specific photo? They are chosen for a reason and not at random. This process may not be applicable to the artistic area, but photography itself is an imaging medium. Even if it is a complete reflection of reality. There is always a message. To me, photography involves two interesting aspects: On the one hand, when taking photographs, I am very aware of these processes and I can make that knowledge a subject of discussion. On the other hand, when looking at a photograph I ask myself: Why is this photograph here, who took it? Why is it shown in this context and so on.
Pictures from Utopia, 2003-2005, Pigment prints → p. 72 Thomas Ruff who also taught at the Kunstakademie Düsseldorf after Bernd Becher’s departure, raises similar questions in his series “Zeitungsfotos“, “newspaper photographs“, which he worked on over a period of several years. Between 1981 and 1991, Ruff collected roughly 2.500 photographs published in German-language newspapers. In 1990, he chose a couple of hundred of those photographs in order to re-exhibit them in exhibitions and publications without their publication texts,
4 Kurt Buchwald Aktion Fotografieren verboten! Performance No photography allowed! Moskau Moscow, Roter Platz Red Square 1988
i.e. without image captions or accompanying texts. The photographs he took of black-and-white photographs using a color film, keep displaying the possibly existing blur that was caused by movement, a wrong focal point or raster. Furthermore, for most photographs it is hard to determine what they actually show. Without a place, date and the circumstances under which the photograph was taken we are inclined to assume that it must have been of importance in order to be photographed in the first place [images 3+5]. But the repeated publishing thus limits the original educational aim to an entirely new environment – the artistic world. The photographs lose their character of obviousness and are being limited to their formal aspects. Theoretically the series claims that without contextual knowledge there is no intrinsic pictorial meaning. The photographs appear formally familiar but remain unreadable in the end. Neumann’s picture series “Pictures from Utopia“, which he put together between 2003 and 2005 deals with the familiar formal language of documentary photography in the early GDR. He used digitally edited photos from picture books about Eisenhüttenstadt. The basic material consisted of faulty color images in which the 4 print colors cyan, magenta, yellow and black have not been printed quite congruently. Neumann used this error in his series “Pictures from Utopia“: He repeatedly edited the four colors in the respective photographs until it resulted in another perspective of the original. Thus, the artist does not add external information to the image but merely shifts the existing image contents.
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Gabriele Muschter/Uwe Warnke For you, Eisenhüttenstadt was a
3 Thomas Ruff Zeitungsfoto 147 Newspaper Photograph 147 1990
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crystallization point in German history. You started working on “Pictures from Utopia“ in 2003. Why were you so fascinated and what does the term “utopia“ mean to you in this context? Thomas Neumann Eisenhüttenstadt was the first socialist town in Germany built according to 16 principles of urban development, which had been adapted from the Soviet Union. This post-war establishment was based on the economic approach of an Eisenhüttenstadt-collective with further steel works. I first visited in winter in the early 2000s. The trees were bare so you could perfectly see the streets, and everything looked like it was taken from a picture book. I started acquiring a range of picture books on Eisenhüttenstadt mainly from the 1950s and 1960s, the time the town was built.
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Die vertraute formale Sprache der Dokumentarfotografie aus der frühen DDR-Zeit thematisiert Neumann in seiner Bildserie „Pictures from Utopia“, die zwischen 2003 und 2005 entstand. Hierfür verwendete er Aufnahmen aus Bildbänden zu Eisenhüttenstadt, die er digital überarbeitete. Sein Ausgangspunkt waren fehlerhaft gedruckte Farbabbildungen, bei denen die vier Druckfarben Cyan, Magenta, Yellow und Schwarz nicht exakt deckungsgleich gedruckt wurden. Dieses Fehlerverfahren erweiterte Neumann bei der Serie „Pictures from Utopia“: er bearbeitete die vier Farbebenen der jeweiligen Bilder solange bis eine weitere Perspektive auf das Ursprungsbild entstand. Somit fügte der Künstler dem Bild keine externen Informationen hinzu, sondern verschiebt lediglich die vorhandenen Bildinhalte. 124
5 Thomas Ruff Zeitungsfoto 247 Newspaper Photograph 247 1991
Gabriele Muschter/Uwe Warnke Eisenhüttenstadt war für Sie ein
Kristallisationspunkt deutscher Geschichte. An der Serie „Pictures from Utopia“ arbeiteten Sie 2003. Was war für Sie die Faszination und was bedeutet in diesem Zusammenhang der Begriff „Utopia“? Thomas Neumann Eisenhüttenstadt war die erste sozialistische Stadt Deutschlands, die nach 16, aus der Sowjetunion importierten Grundsätzen des Städtebaus errichtet wurde. Diese Nachkriegsneugründung basierte auf dem wirtschaftlichen Gedanken des Aufbaus eines Eisenhüttenkombinats und späteren Stahlwerkes. Das erste Mal war ich Anfang der 2000er Jahre im Winter dort. Die Bäume waren kahl und so konnte man die Straßenzüge hervorragend sehen und alles wirkte wie aus dem Bilderbuch geschnitten. Daraufhin habe ich mir alle möglichen Bildbände zu Eisenhüttenstadt besorgt, vorwiegend aus den 1950er und 1960er Jahren, als die Stadt erbaut wurde. Mich haben vor allem die dort veröffentlichten stets positiven und heroischen Bilder interessiert, die im Wesentlichen davon handeln wie dieses Aufbauwerk vonstatten ging und wie angenehm die Menschen dort leben können. Ich habe mich nicht so sehr mit der heutigen Stadt, sondern mit ihrer damaligen fotografischen Repräsentation beschäftigt. Einige Bilder habe ich zunächst eingescannt und die Informationen, die sich in diesem viereckigen Ausschnitt, dem zweidimensionalen Endprodukt eines bewussten Auswahlprozesses steckten, untersucht. Über die digitale Bearbeitung habe ich dann versucht, diese Fotografien neu zu interpretieren und weitere Bedeutungsebenen zu eröffnen. Als Titel habe ich „Pictures from Utopia“ gewählt, weil ich mich mit den Bildern einer Utopie befasse und nicht mit der Utopie
6 Erik Bulatov Gefährlich Danger 1972–73
selbst. „Utopie“ ist ein sehr großes Wort und ich habe mich lange damit beschäftigt. In der DDR und auch in der Sowjetunion wurde der Begriff nicht gerne verwendet, weil der real existierende Sozialismus nichts Utopisches an sich haben sollte, sondern gewissermaßen eine bereits verwirklichte Zukunft darstellte. Dieses vorwärts gewandte Denken an eine paradiesische Zukunft, für deren Verwirklichung der Mensch oder das Kollektiv auch Entbehrungen in der Gegenwart in Kauf nimmt, ist für mich etwas, das in dem Begriff „Utopie“ ebenfalls enthalten ist. Deshalb bin ich froh, dass wir derzeit in einer Utopie-losen Zeit leben, weil der Individualismus das Kollektiv in Millionen von verschiedenen Gedanken oder Kleingruppierungen aufgesplittert hat.
Exakte Vertrauensgrenzen, 1998 S/W Fotografien, Triptychon → S. 14 Trotz der scheinbar distanzierten Position von der aus Neumann Schauplätze der sozialistischen Sinnwelt ablichtet, ist er kein unbeteiligter Betrachter. Denn die Herkunft aus Ostdeutschland ließ ihn mit einem bestimmten Wissens- und Erfahrungsschatz reisen, wozu auch die kollektiven Mythen der Sowjetunion und des Kommunismus gehören (darunter der Fortschrittsglaube sowie die Utopie der Planbarkeit von Gesellschaft und Mensch). Die persönliche Auseinandersetzung mit diesen Mythen wird besonders deutlich in den früheren Arbeiten, in denen Neumann selbst Teil des Bildes wird. So in dem Triptychon „Exakte Vertrauensgrenzen“ von 1998, die der vorliegenden Publikation ihren Namen gegeben hat. Neumanns anonymisierter Körper wird dort, visuell eingebunden in Tabellen mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen und überblendet von schwarzen geometrischen Flächen, zum Material und gleichzeitig im übertragenen Sinn zum genormten Produkt von Zahlen und Berechnungen. Hier wie auch in den späteren Arbeiten, in denen die thematische Auseinandersetzung mit den konkret bereisten Orten verbundenist, wird immer auch die persönliche Entwicklung reflektiert. Der Titel „Exakte Vertrauensgrenzen“ drückt dabei die Unsicherheit oder vielleicht auch ein gewisses Misstrauen in die Bewertung der eigenen (kollektiven wie individuellen) Vergangenheiten und Gegenwarten aus. Denn die „exakte Vertrauensgrenze“ der Wahrscheinlichkeitsberechnung ist alles andere als
I was mainly interested in the ever positive and heroic pictures that were portrayed there. They were all about the building process and how good a life people can lead there. I did not really focus on the character of the city today, rather on its photographic representation back then. First, I scanned some photographs and examined the information contained in this square section, this two-dimensional end product resulting from a deliberate selection process. I then used digital editing in order to reinterpret theses photographs and to find new levels of meaning. The title “Pictures from Utopia“ conveys that I am not dealing with the images of a utopia, but with utopia itself. The term “utopia“ is a very big word and I have reflected on it for a long time. The term was not commonly used in the GDR or the Soviet Union as the existing socialism was not meant to be utopian at all but instead was meant to represent an already existing future. To me the term “utopia“ also implies this spirit of forward thinking about a paradisiacal future. The realization that in order to achieve this, people as individuals as well as the collective have to endure hardships in the present. Therefore, I’m glad to be living in a time where there is no utopia as individualism has split the collective into millions of different thoughts and small groups.
Exact Confidence Limits, 1998 b/w photographs, triptych → p. 14
Notwithstanding the seemingly distant position from which Neumann portrays scenes of the socialist system codes, he is not an uninvolved observer. When traveling, Neumann benefits from his extensive wealth of knowledge and experience originating in his upbringing in East Germany, which include the collective myths about the Soviet Union and communism (among others the belief in progress and the utopia of predictability of both society and humans). The personal dealings with these myths become particularly apparent in his early works, in which Neumann himself becomes a part of the picture. For example, in the triptych “Exact Confidence Limits“ from1998, which gave this publication its name. Visually entwined in charts of probability calculations and cross-faded by black geometrical areas, Neumann’s anonymized body becomes both the material and the normed product of figures and calculations. This work as well as later ones, which
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eine exakte Grenze, denn mathematisch möglich ist allein eine Annäherung. Gabriele Muschter/Uwe Warnke Es gibt bei Ihnen den Titel „Exakte
Vertrauensgrenze“. Was ist damit gemeint? Thomas Neumann Der Titel entstammt einer Arbeit von 1998.
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Bevor ich an die Kunstakademie Düsseldorf kam, hatte ich in Leipzig schon ein kleines Schwarzweiß Fotolabor. Damals interessierten mich Zeichensysteme, Diagramme und Tabellenwerke, also Darstellungsformen, in denen bestimmte Themen auf eine abstrakte Art und Weise abgehandelt werden. Ich habe damals viel experimentiert. Die digitalen Verfahren, mit denen man heute sehr leicht Dinge kombinieren kann, gab es noch nicht und so musste ich im Sandwich-Verfahren arbeiten. Ich stieß bei meiner Suche auf ein mathematisches Tafelwerk, in dem es Tabellen mit dem Namen „Exakte Vertrauensgrenzen“ gab. Dieser Begriff aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung hat mich fasziniert, weil er zu versprechen scheint, dass man Vertrauen messen kann. Mithilfe der Zahlen können Prognosen erstellt werden. Aber der Begriff hat mich im poetischen Sinne gereizt. Gibt es Grenzen des Vertrauens und wenn ja, können die exakt sein? Das Tabellenwerk habe ich als Projektionsmuster verwendet und mich selbst in dieses Bild, in diese Projektion hineingebracht und ebenso auch die Kamera. Als ich für das Buch und die Ausstellung, die meine Arbeiten aus 25 Jahre umfasst, nach einem Titel gesucht habe, kam ich wieder auf diesen Begriff zurück, weil er mir im Rückblick in einer neuen Relevanz erscheint. Es bleibt immer noch das starke Wort Vertrauen oder eben auch Grenzen des Vertrauens, sei es in Bezug zum Medium Fotografie, zu Denksystemen, zu Gesellschaften oder zu sich selbst. Das Interview mit Thomas Neumann wurde am 11.09.2019 von Gabriele Muschter und Uwe Warnke in Berlin durchgeführt. Die verwendeten Auszüge daraus wurden zugunsten einer besseren Lesbarkeit sprachlich überarbeitet. Literatur Literature Photo edition berlin (Hg.), Kurt Buchwald: Sichtabsicht. Berlin 2016. Rolf Sachsse, Photographie als Medium der Architekturinterpretation. Studien zur Geschichte der deutschen Architekturphotographie im 20. Jahrhundert. München [u. a.] 1984. Karl Schlögel, Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. München 2017. Matthias Winzen (Hg.), Thomas Ruff, Fotografien 1979 bis heute. Köln 2001. Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2005.
connect the thematic examination with the locations actually visited, always reflect the personal development as well. The title “Exact Confidence Limits“ expresses an insecurity and possibly even a distrust of the evaluation of the own (both collective and individual) past and present. As approximation is the only possible mathematical option, the “exact confidence limit“ in probability calculations turns out to be the everything but an “exact limit“. Gabriele Muschter/Uwe Warnke You use the title “Exact Confidence
Limits“. What exactly does that mean? Thomas Neumann The title is taken from a 1998 project. Before
joining the Kunstakademie Düsseldorf, I had a small black-andwhite laboratory in Leipzig. Then I was interested in drawing systems, diagrams and tables and also forms of presentation that deal with topics in an abstract way. I experimented a lot back then. Digital methods, which make it very easy to combine things today, were not available then, thus I had to follow a sandwich procedure. In my search I found a collection of mathematical tables, some tables with the title “exact confidence limits”. This term, which is usually used in probability calculations, fascinated me as it seems to suggest that confidence is a measurable unit. Forecasts can be made using numbers. But to me the term also had a poetic charm. Are there confidence limits and if so, can they be exact? I used the collection of tables as a projection pattern and inserted both myself and the camera into this picture, this projection. So when I was looking for a title for the book as well as for the exhibition, I remembered this term as it seemed to gain new relevance in hindsight. What remains are the powerful expressions ‘confidence’ as well as ‘confidence limit’, be it in the context of the medium of photography, systems of thought, societies or yourself. The interview with Thomas Neumann was conducted in Berlin on September 11, 2019 by Gabriele Muschter and Uwe Warnke. The excerpts used have been linguistically revised for better readability.
Kasachstan Kazakhstan 2001
Impressum Colophon Konzept Concept Thomas Neumann, Eva Pluhařová-Grigienė Projektmanagement Project management Richard Viktor Hagemann, Hatje Cantz Grafische Gestaltung Graphic design Neil Holt, Köln Schrift Typeface Cicular Pro Reproduktionen Reproductions Kurt Buchwald, Centrallabor Düsseldorf, hsl Fachlabor, Jean-Louis Losi, Thomas Neumann, Recom Art, Thomas Ruff Herstellung Production Thomas Lemaître, Hatje Cantz Druck und Bindung Printing and binding Livonia Print, Riga Papier Paper Arctic Volume © 2020 Hatje Cantz Verlag, Berlin © 2020 für die Werke von Kurt Buchwald, Thomas Neumann und Thomas Ruff: VG Bild-Kunst, Bonn Erschienen im Published by Hatje Cantz Verlag GmbH Mommsenstraße 27, 10629 Berlin www.hatjecantz.de
Umschlag Cover vorn front: Tumen-Erilik Filipp uola Kyrerba, 2017 hinten back: Thomas Neumann, Kolyma Serie, 2017 S. p. 120: A Souvenir Photograph, 1994-1995, 120,5 × 180 cm, © Erik Bulatov, photo by Jean-Louis Losi S. p. 124: Danger, 1972-73, 108,6 x 110 cm, © Erik Bulatov, photo by Jean-Louis Losi S. p. 120: Georg aus: Berliner Traum, Berlin 1987, © Kurt Buchwald S. p. 123: Aktion Fotografieren verboten!, Moskau, Roter Platz 1988, © Kurt Buchwald S. p. 123: Zeitungsfoto 147, 28,3 × 126,8 cm, 1990, © Thomas Ruff S. p. 124: Zeitungsfoto 247, 36,8 x 27,6 cm, 1991, © Thomas Ruff Der Projektor von Durs Grünbein aus: Zündkerzen. Gedichte. © Suhrkamp Verlag Berlin 2017 “The Projector“ by Durs Grünbein: English Translation © 2019 by Michael Eskin. Used by permission of the translator. Karl Schlögel, Das Sowjetische Jahrhundert © Verlag C. H. Beck oHG, München 2017 S. p. 71, 114: Translation by Kathrin Wiggins and Sherrie Blackman-Linse
Dank Thanks to Babette Bangemann, Stefan Becht, Victoria Belger, Familie Denissowa (Atyrau), Carsten Enders, Artur Fedorov, André Fritsche, Fjodor Gejko, Satoshi Hayashi (Gallery Nomart), Jörg Herkt, Thomas Hilliges, HPZ Stiftung, Ben Kaden, Peter K. Koch, Familie Kuhl, Kunststiftung NRW, Vladlen Kugunurov, Marina Kusmina (Memorial), Dr. Hans Lägel, Britta Loschke, Rebekka Manke, Helga Meister, Rumiko Miyashita-Neumann, Monochrom, Agnė Narušytė, Gundis und Wolfgang Neumann, Antje Posern, Josefine Raab, Ralf Röhr, Alexandra Saheb, Dejan Saric, Wolfgang Schäfer, Yvonne Schweidtmann, Jörg Sperling, Juergen Staack, Frauke Tomczak, Pol Le Vaillant (SKOPIA Art contemporain) Besonderer Dank an Special Thanks to Kurt Buchwald, Erik Bulatov, Michael Eskin, Durs Grünbein, Neil Holt, Tumen-Erilik Filipp uola Kyrerba, Gabriel Muschter, Eva PluhařováGrigienė, Thomas Ruff, Karl Schlögel, Uwe Warnke, Kathrin Wiggins Auf meinen Wegen bin ich vielen Menschen begegnet, die mir Anregung gaben und mich auf verschiedenste Weise unterstützt haben. Meinen herzlichen Dank dafür. Throughout my journey I encountered many people who have inspired and supported me in every way possible. Thank you so very much. www.neumannthomas.com
Ein Unternehmen der Ganske Verlagsgruppe A Ganske Publishing Group Company ISBN 978-3-7757-4759-2 Printed in Latvia
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