KOMPASS Stadtmagazin Ausgabe 10 | 20

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Zahlen und Fakten, die zugegeben erst mal ernüchternd klingen, dennoch sollte man sich davor hüten, nun gleich das sprichwörtliche Kind mit samt dem Bade auszuschütten, warnt der Zwickauer Suchttherapeut Wolfgang Wetzel. KOMPASS hat den Leiter der Suchtberatungsstelle der Caritas um ein Gespräch zum Thema gebeten.

Um es gleich mal vorwegzunehmen: Mal zu viel Alkohol trinken bedeutet nicht, dass man krank ist, macht Wetzel gleich einleitend klar. Es gehöre vielmehr zu den normalen Lebenserfahrungen in unserem Kulturkreis, dass man auch mal über den Durst trinkt. Und auch er als Suchtberater sei kein Kind von Traurigkeit und verfolge schon gar nicht das Ziel, die Welt vom Alkohol zu befreien. »Rauscherlebnisse gehören zum Leben und diese werden nicht nur durch Substanzen verursacht. Rausch erlebt man auch, Wolfgang Wetzel wenn man sich in seine Lieblingsmusik vertieft, ein Naturerlebnis kann Dipl. Sozialarb./-pädagoge (FH), Sozialtherapeut Sucht, Leiter der rauschhaft sein. Sex muss rauschhaft Beratungsstelle der Caritas Zwickau. sein, sonst ist er nicht gut.« Das Verlangen nach dem Rausch sei in unsere Natur als Menschen eingebaut, ist sich Wetzel sicher, weshalb man sich auch hier nicht auf einem Kreuzzug gegen den Alkohol befände. Rausch bedeute einen temporären, also zeitweisen Verlust der Selbstkontrolle, ansonsten sei es kein Rausch. Aber natürlich sei der Verlust der Selbstkontrolle wiederum auch nicht ungefährlich. Darin liege eben die Kunst »dass ich zurückkehre in die Realität und auch aushalte und weiß, dass Rausch ein besonderes Bonbon ist, was ich haben darf, aber was natürlich nicht oft und schon gar nicht dauernd sein kann. Wenn der Rausch zur Normalität wird, verliert er seinen Reiz.«

Grafik Allianz Gesundheitswelt

Also würde jemand, der sich beispielsweise jeden Abend eine Flasche Bier und ein Schnäpschen gönnt, nicht wirklich über diese Grenze trinken und sicher auch wenig Verständnis dafür zeigen, würde jemand behaupten, dass dieses Ritual problematisch sein könne. »Das eine Bier, selbst wenn er das jeden Tag macht, ist auch nicht das Problem, es geht um die Gewohnheitsbildung. Deshalb ist der etwas platte Satz: ›Wer jeden Tag sein Bier trinkt, ist alkoholkrank.‹ Quatsch. Das stimmt so einerseits fachlich nicht und anderseits darf man Menschen kein Etikett an die Stirn kleben. Aber dieser Mensch ist dann gefährdet, wenn in seinem Leben etwas aus dem Lot gerät. Wenn durch einen Schicksalsschlag, eine Beziehungskrise oder einen Arbeitsplatzverlust auf einmal das Gleichgewicht ins Wanken gerät und er die Wirkung des Alkohols zur Beruhigung oder Trost benötigt. Dann ist durch das tägliche Trinken bereits ein Grundlevel geschaffen. Und weil das abendliche Bier normal ist, werden unmerklich aus einem Bier zwei oder vier oder zehn und im Laufe der Zeit kommt dann noch eine halbe Flasche Schnaps hinzu. Das ist das Problem.«

kein sanitäter in der not

Dank langjähriger Forschungsarbeit und Datenerhebungen könne man heute relativ klar definieren, wann aus einem normalen Konsumverhalten ein Problem, und in weiterer Folge eine Krankheit entsteht. So stellen für einen gesunden Mann 16 bis 40 Gramm reiner Alkohol die absolute Obergrenze pro Tag dar, das entspräche umgerechnet ein bis zwei Bier. »Das an maximal fünf Tagen in der Woche, da man mindestens zwei völlig alkoholfreie Tage einlegen sollte, um die Gewohnheitsbildung zu bremsen. Wenn man ein solches Trinkverhalten beherzigen würde, käme es in aller Regel zu keinen Problemen.« Für Frauen gelte die Hälfte, da die weibliche Leber den Alkohol anders verstoffwechselt und dadurch gefährdeter sei.

Selbstverständlich entstehe Abhängigkeit nicht von heute auf morgen. Gerade auch der Bereich, in welchem Fachleute vom sogenannten Missbrauchstrinken sprechen und der ausdrückt: Es ist zu viel und zu oft, stellt noch keine Suchtkrankheit dar. »In diesen Bereich sind vielleicht ganz viele Menschen selbst schon mal geraten. Als junge Leute bei Liebeskummer oder was weiß ich. Das ist keine Schande, das ist nichts Unnormales, wenn man dabei auch das Empfinden behält: ›Ey, das war zu viel, das darf nicht sein. Das tut mir ja auch nicht gut.‹, dort gibt es keinen Anlass, mit der moralischen Keule loszuschlagen. Stellt sich das allerdings als eine anhaltende Situation über einen längeren Zeitraum dar - sprich: Immer zu viel und zu oft, – dann kann daraus eine Abhängigkeit entstehen.«

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zwischen genuss und missbrauch

Diese Abhängigkeit ist klar definiert. Zur Diagnostik ziehen Fachleute in der Regel einen sechs Kriterien umfassenden Katalog nach ICD-10 heran. Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD = International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist wohl das wichtigste weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin und wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben.

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