SPHERE n°20 Dezember 2020/Februar 2021

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„Es gibt ein chinesisches Sprichwort, dem ich mich voll anschliesse: wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“

res Uhren-Kompetenzzentrums ausgewählt und stellen dort einige Teile her, die wir ursprünglich im Ausland fertigen liessen. Seit der Übernahme von Wenger 2005 werden bestimmte Messer ebenfalls im Kanton Jura produziert.Welchen Zweck hatte diese Übernahme? z Wenger ist genau wie Victorinox ein Schweizer Unternehmen mit einem grossen historischen Erbe und einer langen Geschichte. Die Reputation beider Unternehmen basiert auf Taschen- und Küchenmessern. Als wir mit der Uhrenherstellung begonnen haben, zog Wenger nach, und als wir Reiseartikel ins Sortiment aufnahmen, taten sie das auch. Wir lagen jahrzehntelang gleichauf, aber Victorinox hatte einen Vorteil: Seine Rücklagen. Es gehörte immer zur Philosophie unseres Unternehmens und unserer Familie, dass wir in Wachstumsphasen Rücklagen bilden, um Krisenzeiten besser zu überstehen. Währenddessen hatte Wenger Schulden. Nach den Ereignissen vom 11. September wurde die Hausbank nervös und verlangte die Rückzahlung, was unmöglich war. Daraufhin übernahm sie die Kontrolle über das Unternehmen und suchte Investoren. Mein Vater und ich erkannten, dass sich die einmalige Gelegenheit bot, zwei legendäre Schweizer Messermarken unter einem Dach zu haben! Wo investieren Sie als Unternehmer Ihr eigenes Vermögen? z Das Wohl des Unternehmens steht für unsere Familie an erster Stelle. Um seinen Fortbestand zu sichern und seine langfristige finanzielle Stabilität, vor allem

im Rahmen einer Nachfolge, zu gewährleisten, haben wir 2020 die VictorinoxStiftung gegründet, in die wir 90% unserer Aktien ohne irgendeine Gegenleistung einbrachten. 2020 steht ganz im Zeichen von COVID-19.Welche Folgen hat diese Krise für Victorinox? z Victorinox war recht schnell betroffen, denn wir haben weltweit Tochterunternehmen, darunter auch in China. Wenn ich mir unsere Verkaufszahlen ansehe, kann ich übrigens sehr genau die Verbreitung des Virus von Asien nach Europa und schliesslich Nord- und Südamerika nachverfolgen. Naturgemäss war unser Geschäftsbereich Reisegepäck am meisten betroffen, während der Umsatz mit Küchenmessern in die Höhe schnellte. Von April bis zu den Sommerferien waren wir dank dieser Aufträge zu ungefähr 50% ausgelastet. Und seit dem 1. September herrscht wieder Vollbetrieb. Erwarten Sie einen digitalen Wandel in Ihrer Branche? z Ich glaube, dass es Grenzen für die Digitalisierung gibt, die wir nicht überschreiten wollen. Die Marke Victorinox hat sich auf funktionale, zuverlässige und zeitlose Produkte spezialisiert, während digitale Produkte meiner Ansicht nach eine sehr kurze Lebensdauer haben. Trotzdem haben wir bestimmte Taschenmessermodelle mit einer Digitaluhr und einem USB-Stick ausgestattet. Ausserdem haben wir es einmal mit einem eingebauten MP3-Player versucht. Auch wenn das Messer vielleicht

Käufer gefunden hat, muss ich ehrlicherweise zugeben, dass dieses Spassobjekt eher ein Flop war. Wie kann sich ein traditionsreiches Familienunternehmen in Abhängigkeit von den Trends immer wieder neu erfinden? z Unsere Familie hat Victorinox von Anfang an geleitet und hat sich im Laufe der Zeit eine Weltanschauung zugelegt, an die meine Schwestern und Brüder - wir sind elf Kinder! - sich auch heute noch halten. Sie basiert auf vier Säulen: unseren Mitarbeitern, unseren Kunden, unseren Produkten und unserer Marke. Wenn wir es schaffen, unsere Mitarbeiter dabei zu unterstützen, sich zusammen mit dem Unternehmen weiterzuentwickeln, bin ich überzeugt, dass sie ihre Aufgaben mit Leidenschaft und voll motiviert erfüllen. Das bedeutet, dass unsere Kunden von unseren Produkten und deren innovativen Funktionen und symbolträchtigem Design begeistert sein werden. Hinzu kommt, dass es die Marke seit über 100 Jahren gibt. Unser Umfeld verändert sich immer schneller, und Unternehmen müssen lernen, sich anzupassen, wenn sie davon profitieren wollen. Es gibt ein chinesisches Sprichwort, dem ich mich voll anschliesse: wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. Ein Familienunternehmen muss ein Gleichgewicht zwischen Traditionen auf der einen und Innovationsfähigkeit auf der anderen Seite finden. Wenn Victorinox diesen Balanceakt meistert, ist das Unternehmen auch für die nächsten 130 Jahre gewappnet! n

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