Kokomo

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rigens das ›Second Life‹ seine Hochzeit wohl hinter sich hat und von Plattformen wie ›Facebook‹ abgelöst wurde, scheint auch für diese These zu sprechen. Insofern fällt es mir überhaupt schwer, einen »erdachten Platz« zu nennen, an dem ich mir vorstellen könnte zu leben. Anders gesagt: Ich möchte an keinem dieser Plätze leben – denn das tun wir bereits. Und diese Orte, die wir in Romanen, Filmen, in Games und im Internet geboten bekommen, scheinen mir trotz oder gerade wegen ihrer technischen Virtualität von einer beschämenden Phantasielosigkeit charakterisiert zu sein. Deshalb bleibt für mich der einzig denkbare Ort, die radikalste Utopie, das biblische Paradies. 3. Der bessere Ort kann nur der beste sein. Und das wäre, wie angedeutet, das Paradies. Ich sage das ohne jedes religiöse Fundament, sondern ganz im Gegenteil aus der Notwendigkeit heraus, dass diese Welt nur zu retten ist durch ihre radikale Umgestaltung, durch den »Umbau der Welt zur Heimat«, wie es Ernst Bloch forderte. Dies berührt nun aber die Dialektik von konkreter und negativer Utopie. Dialektisch ist das insofern, weil sich das Bilderverbot aus der immanenten Kritik ergibt: Eine Welt mit Sklaverei und Terror, Erniedrigung und Hunger kann sich jeder als eine Welt ohne Sklaverei und Terror, ohne Erniedrigung und Hunger vorstellen. Im Prinzip waren das ja auch mal die Ziele von Aufklärung und bürgerlicher Emanzipation. Aber gerade nach den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt sich, dass das Elend der Welt nicht arbiträr ist, sondern gleichsam in die Struktur des Systems eingeschrieben: als Gewalt, als Macht, als Herrschaft. Diese Struktur ist abstrakt und wird zudem auch nicht unmittelbar als repressiv erfahren. Aber eben diese fortschreitende Abstraktifizierung der Struktur ist ein entscheidendes Moment der Ideologie, dass die Welt, in der wir leben, vielleicht nicht »perfekt« sei, aber im Prinzip doch auf dem besten Wege dorthin sich befände. Stichwort Ökonomie: Gegenwärtig fabulieren alle offiziellen politischen Lager und Parteien über Umverteilung, soziale Gerechtigkeit, gegebenenfalls Bürgergeld und Grundeinkommen. Der Umgang mit dem Kapitalismus sei das Problem, als könne man sich irgendwie aussuchen, wie mit dem Kapitalismus umgegangen werde, und als läge Unterdrückung letztendlich in der Verantwortung einiger verantwortungsloser Unternehmer oder Politiker. Dass das Geld abgeschafft werden kann, ja abgeschafft werden muss, kommt niemanden in den Sinn; erst recht nicht, den radikalsten Schritt zu reflektieren, nämlich den Tausch, die Ökonomie selbst abzuschaffen, aufzuheben. Wenn man die Verhältnisse im Interesse eines »realen Humanismus« (Marx & Engels) kritisiert, ergibt sich das aber als logische Konsequenz. Ebenso logisch ist dann allerdings, dass bestenfalls von der Utopie konkret gesagt werden kann, dass alles anders wäre; gerade um sich die radikale Phantasie des freien Menschen zu bewahren, unterliegt das Auspinseln einer utopischen Welt dem Bilderverbot. 60


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