Die Ausführungen richten sich an Erzieher, Lehrer und Dozenten in sämtlichen Bereichen des Bildungswesens. Alle, die an der Schnittstelle zwischen Notfallrettung und Erziehungswissenschaft interessiert sind, finden in ihnen wertvolle Anregungen für die eigene pädagogische Praxis.
Notfallpädagogik Konzepte und Ideen ISBN 978-3-938179-64-2 · www.skverlag.de
Notfallpädagogik
In diesem Buch geht es darum, wie einzelne Zielgruppen – Kinder, Erwachsene und Einsatzkräfte – auf unterschiedliche Notfallerfahrungen angemessen vorbereitet werden können. Es beinhaltet eine erste systematische Sammlung von Ideen und Konzepten, aus denen sich das Grundgerüst einer künftigen Notfallpädagogik ableiten lässt.
Das Themenspektrum umfasst u.a. • die Prävention s exuellen Missbrauchs von Kindern, • den Umgang mit dem Tod, • die Brandschutzerziehung und Ersthelferschulung, • die spezielle Ausbildung von Einsatzkräften.
Konzepte und Ideen
Die Konfrontation mit mehr oder weniger schweren Unglücksfällen ist unausweichlich. Die Erkenntnis von Gefährdung und Verletzlichkeit ist ein existenzieller Bestandteil des menschlichen Lebens.
H. Karutz (Hrsg.)
Harald Karutz
Wisse n Handeln
Wollen
Können
Harald Karutz (Hrsg.)
Notfallpädagogik Konzepte und Ideen
Notfallp채dagogik Ideen und Konzepte Harald Karutz (Hrsg.)
Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2011
Anmerkungen des Verlages Die Herausgeber bzw. Autoren und der Verlag haben höchste Sorgfalt hinsichtlich der Angaben von Therapie-Richtlinien, Medikamentenanwendungen und -dosierungen aufgewendet. Für versehentliche falsche Angaben übernehmen sie keine Haftung. Da die gesetzlichen Bestimmungen und wissenschaftlich begründeten Empfehlungen einer ständigen Veränderung unterworfen sind, ist der Benutzer aufgefordert, die aktuell gültigen Richtlinien anhand der Literatur und der Beipackzettel zu überprüfen und sich entsprechend zu verhalten. Die Angaben von Handelsnamen, Warenbezeichnungen etc. ohne die besondere Kennzeichnung ®/™/© bedeuten keinesfalls, dass diese im Sinne des Gesetzgebers als frei anzusehen wären und entsprechend benutzt werden könnten. Der Text und/oder das Literaturverzeichnis enthalten Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat. Deshalb kann er für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seite verantwortlich. Aus Gründen der Lesbarkeit ist in diesem Buch meist die männliche Sprachform gewählt worden. Alle personenbezogenen Aussagen gelten jedoch stets für Frauen und Männer gleichermaßen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright by Verlagsgesellschaft Stumpf + Kossendey mbH, Edewecht 2011 Satz: Bürger Verlag GmbH & Co. KG, Edewecht Umschlagfoto: H. Karutz Druck: M.P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, 33100 Paderborn ISBN 978-3-938179-64-2
Inhaltsverzeichnis
1
Einführung
11
1.2
Über dieses Buch
16
2
Theorie
2.2
Begründungen
2.4
Probleme und Fragestellungen
1.1
2.1 2.3 2.5 3 3.1
Aktuelle Situation
Terminologie
23
26
30
Perspektive: Ein notfallpädagogisches Gesamtkonzept
54
Notfallpädagogik für Kinder und Jugendliche
59
Erziehung für den Notfall
3.1.1 3.1.2
Grundsätzliches Ressourcen zur Bewältigung von Notfallsituationen Pädagogisches Handeln vor einem Notfall Pädagogisches Handeln in einem Notfall Pädagogisches Handeln nach einem Notfall Fazit
Kinder begegnen Tod und Trauer
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6
3.3
23
Zielsetzungen
3.1.3 3.1.4 3.1.5 3.1.6
3.2
11
Grundsätzliches Kinder, Tod und Trauer Methoden und Wege der Begleitung und Beratung Kinder trauern anders Unterstützungsangebote Fazit
Heranführung an die Erste Hilfe
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5
Grundsätzliches Kinder und Erste Hilfe Das Projekt »Ersthelfer von morgen« Umsetzung im Schulunterricht Fazit
32
59 59
62 64 74 79 89 89 89 94
98 101 106 114 119 119 120 125 128 130
5
Inhaltsverzeichnis
3.4
Schulsanitätsdienst 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6
3.5
3.6
Brandschutzerziehung 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4 3.5.5 3.5.6 3.5.7
3.8
Grundsätzliches Ziele von Präventionsmaßnahmen Präventive Arbeit mit Eltern Präventive Arbeit mit Kindern Qualitätskriterien von Präventionsangeboten Fazit
Workshop- und Kursangebote
3.7.1 3.7.2 3.7.3 3.7.4 3.7.5
Grundsätzliches Unterschiedliche Kursmodelle Schwerpunktthemen Aufbau und Gestaltung Fazit
Katastrophenkompetenz
3.8.1 3.8.2 3.8.3 3.8.4 3.8.5
6
Grundsätzliches Zuständigkeit für Brandschutzerziehung Zusammenarbeit mit Eltern Aufsichtspflicht und Versicherungsschutz Brandschutzerziehung im Kindergarten Brandschutzerziehung in der Grundschule Fazit
Prävention sexualisierter Gewalt
3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5 3.6.6
3.7
Grundsätzliches Erste Hilfe in der Schule Ziele von Schulsanitätsdiensten Kompetenzerwerb im Schulsanitätsdienst Anerkennung und Förderung von Schulsanitätsdiensten Fazit
Grundsätzliches Notwendigkeit von Katastrophenkompetenz Ziele von Katastrophenkompetenz Einzelne Elemente von Katastrophenkompetenz Fazit
132 132 133 136 139 141 145
146 146 148 149 150 150 153 157
158 158 160 161 162 163 168 169 169 170 171 173 181 181 181
182 183 186 197
Inhaltsverzeichnis
4
4.1
4.2
4.3
5 5.1
Notfallpädagogik für Erwachsene
199
Grundzüge von notfallbezogenem Unterricht 199 Grundsätzliches 199 Hinweise für die Ausbildungspraxis 199 Fazit 207
4.1.1 4.1.2 4.1.3
Erste-Hilfe-Ausbildung 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5
Grundsätzliches Analyse von Hemmschwellen Ansätze zur Weiterentwicklung Ein neues Erste-Hilfe-Konzept Fazit
Förderung der Selbsthilfekompetenz
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.3.7 4.3.8
Grundsätzliches Private Vorsorge und Subsidiarität Terminologische Bestimmungen Die aktuelle Situation Bedeutung von Selbsthilfekompetenz Selbsthilfekompetenz im Alltag Eine Zukunftsvision Fazit
Notfallpädagogik für professionelle Helfer
Umgang mit Lehraussagen
5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5 5.1.6
Grundsätzliches Kategorien von Lehraussagen Hinweise für Dozenten Hinweise für Auszubildende Argumente gegen »interne« Lehraussagen Fazit
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
Grundsätzliches Gestaltung von Algorithmen Vor- und Nachteile algorithmenbasierten Lernens Fazit
5.3.1
Grundsätzliches
5.2 Algorithmenbasiertes Lernen
5.3 Vermittlung von Standardeinsatzregeln
208 208 208 213 215 229
230 230 230 232 236 238 239 243 251 255
255 255 255 260 262 263 264
265 265 266 272 273 274 274 7
Inhaltsverzeichnis 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.3.6
5.4
Feuerwehrdienstvorschrift und Standardeinsatzregeln Inhalte von Standardeinsatzregeln Grafische Gestaltung von Standardeinsatzregeln Problematische Aspekte Fazit
Lernfeldorientierte Ausbildung
5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6 5.4.7 5.4.8
Grundsätzliches Kompetenzbegriff Einführung in das Lernfeldkonzept Handlungssituationen, Handlungsfelder, Lernfelder und Lernsituationen Hinweise für die Ausbildungspraxis Lernfeldorientierte Prüfungen Implementierung des Lernfeldkonzeptes Fazit
5.5 Kompetenzentwicklung 5.5.1 5.5.2 5.5.3
Grundsätzliches Hinweise für die Ausbildungspraxis Fazit
5.6 Teambildung 5.6.1 5.6.2 5.6.3
5.7
Grundsätzliches Gestaltung eines Ausbildungscamps Fazit
Crew Resource Management 5.7.1 5.7.2 5.7.3 5.7.4 5.7.5
Grundsätzliches Module des Crew Resource Managements CRM-Ausbildung im Rettungsdienst Problematische Aspekte Fazit
5.8 Planspieltraining 5.8.1 5.8.2 5.8.3 5.8.4 5.8.5 5.8.6
8
Grundsätzliches Planspieltraining im Rettungsdienst Hinweise für die Ausbildungspraxis Problematische Aspekte Optimierungsansätze Fazit
275 277 279 283 285 285 285 287 289 293 301 305 306 307 308 308 311 319 320 320 323 331 332 332 334 342 346 348 348 348 349 352 359 362 366
Inhaltsverzeichnis
5.9 Blended Learning
367 367 369 374 377 380 382 384
5.9.1 5.9.2 5.9.3 5.9.4 5.9.5 5.9.6 5.9.7
Grunds채tzliches Medien Methoden Lerntheorien und Didaktik Lernende Lehrende Fazit
5.10.1 5.10.2 5.10.3 5.10.4 5.10.5
Grunds채tzliches 385 Begr체ndung 385 Zielsetzung 386 Ans채tze einer Theorie des Rettungsdienstes 391 Fazit 392
5.10 Fachdidaktik Rettungsdienst
Nachwort Linkliste Literatur Herausgeber und Autoren Abbildungsnachweis Register
385
395 396 398 425 429 430
9
1 ˘ Einführung
1
Einführung
1.1
Aktuelle Situation
Seit vielen Jahren wird immer wieder eine »bessere« Ausbildung von Einsatzkräften und eine intensivere Förderung der Selbsthilfekompetenz von Laien gefordert, Letzteres beispielsweise in der umfangreichen »Problemstudie zu Risiken in Deutschland«, die 2005 vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe veröffentlicht worden ist. Konkrete Vorschläge, wie eine »Verbesserung« der Ausbildung bewirkt werden soll und wie bzw. durch welche Maßnahmen sich die Selbsthilfekompetenz der Bevölkerung tatsächlich steigern lässt, gibt es jedoch kaum. In der bislang verfügbaren Fachliteratur finden sich fast ausschließlich Allgemeinplätze, in denen lediglich ein »Mehr« an Ausbildung gewünscht wird. Viele didaktische, methodische und bildungsorganisatorische Fragen sind bislang nicht nur unbeantwortet geblieben: Sie wurden noch nicht einmal gestellt! Einerseits wurden pädagogische Aspekte dabei von den Akteuren im Rettungswesen außer Acht gelassen. Andererseits war aber auch in der Erziehungswissenschaft offenbar lange Zeit kaum Interesse vorhanden, sich Notfallgeschehen aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive anzunehmen (Garms-Homolova und Schaeffer 1991). Es wird sogar konstatiert, das deutsche Erziehungs- und Bildungswesen habe einen auf Notfälle bezogenen »blinden Fleck« (Karutz 2004b). In der Tat ist die Gesamtsituation unbefriedigend: In Kindergärten und Schulen wird der Umgang mit Notfällen beispielsweise kaum angesprochen. Das Thema »Tod« ist geradezu tabuisiert (siehe Kapitel 3.2), und Erste-HilfeMaßnahmen werden in Deutschland – anders als in vielen anderen Ländern – nach wie vor nicht flächendeckend verbindlich unterrichtet. Einrichtungen wie z. B. die Floriansdörfer in Aachen und Iserlohn gibt es nur an sehr wenigen 11
1 ˘ Einführung
Orten. In der Regel handelt es sich um Initiativen besonders engagierter Einzelpersonen oder Vereine. Zudem sind sie in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Auch das Informationszentrum der Feuerwehr in Hamburg ist in dieser Form bundesweit (leider!) einzigartig (Maass 2007). Deshalb verwundert es nicht, dass offenbar 21 Prozent der Jugendlichen in Deutschland noch nicht einmal die korrekte Notrufnummer kennen, um den Rettungsdienst zu alarmieren. Dabei ist nachweisbar, dass Kinder und Jugendliche in Notfallsituationen sehr wohl effektiv helfen könnten – wenn es ihnen nur angemessen vermittelt worden ist! Nach einer entsprechenden Anleitung waren z. B. 99 Prozent der Siebtklässler, die an einer Reanimationsschulung des Universitätsklinikums in Rostock teilgenommen hatten, dazu in der Lage, die einzelnen Wiederbelebungsmaßnahmen korrekt durchzuführen (Universitätsklinikum Rostock 2009). Weitere eindrucksvolle Berichte über die Fähigkeiten von Kindern in Notfällen schildert Volz (2002). Umso wünschenswerter wäre es also, Kindern und Jugendlichen notfallbezogene Handlungskompetenz nahe zu bringen. Aber nicht nur Kinder und Jugendliche werden unzureichend auf Notfälle vorbereitet. Auch in der Erwachsenenbildung werden Notfälle kaum thematisiert. Die meisten Menschen verlassen sich bei Bedarf auf Hilfeleistungen durch die entsprechenden Institutionen bzw. Organisationen. Dirk Hagebölling, Leiter der Berufsfeuerwehr in Bochum, kritisiert dies heftig: »Viele Menschen haben sich als ›Steuerzahler‹ entspannt zurückgelegt. […] Sie sind weder in der Lage, ein Feuer durch eigenes risikobewusstes Verhalten zu verhindern noch nach einem Brandausbruch richtig zu reagieren« (Hagebölling 2007). Die Rede ist von »selbstschutzspezifischem Analphabetentum«, in einer anderen Veröffentlichung auch von einer »Vollkaskomentalität« der Bevölkerung (Geier 2008). Die Vernachlässigung der persönlichen Notfallvorsorge und ihrer Förderung bezeichnet Goersch (2010) als eine »wesentliche Schwachstelle« des Bevölkerungsschutzes in Deutschland. Im »Grünbuch des Zukunftsforums öffentliche Sicherheit« heißt es dazu: »Die Selbsthilfefähigkeit der 12
1 ˘ Einführung
Bevölkerung ist kaum ausgeprägt« (Reichenbach et al. 2008). Geier (2008) bezeichnet die Bundesrepublik diesbezüglich sogar als ein Entwicklungsland. Durch zahlreiche Studien, die in den vergangenen Jahren durchgeführt worden sind, wird diese Auffassung eindrucksvoll bestätigt: Bei einer Befragung von 1.007 Bundesbürgern gaben z. B. 67 Prozent an, dass sie sich auf Naturkatastrophen, Krisen, Terroranschläge oder Großschadenslagen nicht vorbereitet fühlen. Rund 83 Prozent glauben auch nicht, dass ihre Freunde und Bekannten in solchen Situationen wüssten, was zu tun ist. Etwa 75 Prozent der Befragten wissen nicht, ob es in ihrem Wohnort einen Notfallbzw. Katastrophenplan gibt. In der Bevölkerungsgruppe von 18 bis 30 Jahren ist dieser Anteil mit 83 Prozent sogar noch höher. Handlungsanweisungen für Notfälle haben lediglich 11 Prozent der Befragten zu Hause. Und auch an ihrem Arbeitsplatz fühlen sich gerade einmal 30 Prozent der Befragten ausreichend auf Notfälle vorbereitet (VoTeKK 2011). In einer Untersuchung von Kreutzer (2008) wurde festgestellt, dass 28 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen grundsätzlich nicht wissen, was bei einem Großschadensereignis bzw. einem Katastrophenfall zu tun wäre. Lebensmittel- und Getränkevorräte für den Zeitraum von mehr als einer Woche hat nahezu niemand privat eingelagert, und auch die Vorsorgemaßnahmen für den Fall eines längerfristig anhaltenden Stromausfalls sind völlig unzureichend (Kreutzer 2008). In einer weiteren Studie wurde herausgefunden, dass etwa ein Drittel der Menschen, die in einem hochwassergefährdeten Gebiet leben, sich dieser Gefahr überhaupt nicht bewusst sind (Birkmann 2009). Teusch (2008) spricht in einem ähnlichen Zusammenhang von »Risiko-Blindheit« der deutschen Bevölkerung. Auch der Ausbildungsstand der Bevölkerung in der medizinischen Ersten Hilfe ist unbefriedigend. Nur 28 Prozent der Bevölkerung in Deutschland fühlen sich dazu in der Lage, Erste-Hilfe-Maßnahmen korrekt anzuwenden, während 62 Prozent daran erhebliche Zweifel haben. 10 Prozent 13
1 ˘ Einführung
der Befragten fühlen sich in medizinischen Notfällen sogar völlig ratlos (Schäfer und Pohl-Meuthen 2001, Scholl 2005). An der Ausbildung medizinischer Ersthelfer wird u. a. bemängelt, dass sie sich vorrangig auf die Vermittlung von Fachwissen bezieht. Soziales Lernen findet kaum statt, die Motivation zur Hilfeleistung bleibt weitgehend unbeachtet (Kocmann 2003, Brommenschenkel und Wischerhoff 2005a). Vor einigen Jahren wurde sogar festgestellt, dass Teilnehmer von Ersthelferschulungen »mehr Angst vor der Durchführung von Hilfsmaßnahmen haben und nicht zuletzt eine geringere Hilfsbereitschaft zeigen als der Personenkreis, der noch nie an einer entsprechenden Ausbildungsmaßnahme teilgenommen hat« (Hockauf und Karutz 2000). Ein solches Studienergebnis ist natürlich verheerend und stellt die aktuell stattfindende Ersthelferschulung grundsätzlich infrage. Bei Burghofer et al. (2008) heißt es entsprechend, dass sich die »derzeit bestehenden Ausbildungskonzepte weiterhin als unzureichend erwiesen« haben. Würde Erste-Hilfe-Ausbildung effektiver verlaufen, könnten nach seriösen Schätzungen immerhin 10 Prozent der lebensbedrohlich verletzten Unfallopfer mehr überleben. Bei Herzinfarktpatienten, die einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleiden, könnte die Überlebensprognose sogar »um mindestens das Doppelte« verbessert werden (Kühner 1988, Callies 2000). Dass vor diesem Hintergrund bislang nicht deutlich mehr geschieht, um die Selbsthilfekompetenz der Bevölkerung zu erhöhen, ist schlichtweg bedauerlich. Schließlich verläuft auch die Ausbildung von Einsatzkräften nicht immer optimal. Instruktives Lernen steht im Vordergrund, reflexives Lernen ist offenbar eher die Ausnahme. Dies ist insofern umso problematischer, weil »der Umgang mit Notfallsituationen und Grenzerfahrungen in der ständig wiederkehrenden Konfrontation mit Krankheit, Leid und Tod eben nicht nur technische Fähigkeiten und Fertigkeiten (wie z. B. die Durchführung der Defibrillation, das Legen eines venösen Zugangs […] und das Anlegen von Verbänden), sondern in besonderem Maße auch eine persönliche
14
1 ˘ Einführung
Haltung, ethisches Problembewusstsein und soziale Kompetenz erfordert« (May und Mann 2005). Drill – der sinnvoll und notwendig ist, um einzelne Abläufe automatisiert durchführen zu können und dadurch kognitive Ressourcen freizusetzen – wird teilweise eingesetzt, um eigenständiges Denken zu unterbinden. Innovative Konzepte wie z. B. die Lernfeldorientierung (Kuhnke und Enke 2010, siehe auch Kapitel 5.4) setzen sich nur langsam und mühsam durch. Assessments, mit denen die persönliche Eignung als Einsatzkraft vor Ausbildungsbeginn systematisch überprüft werden könnte, werden – insbesondere bei den Hilfsorganisationen – kaum angewendet. Eine rettungsdienstliche Fachdidaktik existiert noch nicht (siehe Kapitel 5.10). Insbesondere die Struktur der Rettungsassistentenausbildung wurde und wird immer wieder heftig kritisiert (siehe z. B. Nadler 2004b und 2009, Gliwitzky 2007). Bei all dieser Kritik gibt es insgesamt nur wenige Lösungsansätze. Hier bietet sich eine interessante Analogie zur Entwicklung der Notfallpsychologie an: So wurde vor einigen Jahren zunehmend gefordert, dass Notfallbetroffene »psychologisch betreut« oder »psychologische Aspekte der Hilfeleistung verstärkt beachtet« werden sollen. Die Frage danach, wie dies tatsächlich zu leisten ist, wurde jedoch erst einige Zeit später beantwortet, als von Lasogga und Gasch (1997) erste empirische Untersuchungen zur psychischen Ersten Hilfe für Unfallopfer veröffentlicht worden sind. Vor diesem Hintergrund wird vorgeschlagen, neben der Notfallpsychologie und der Notfallmedizin auch eine spezielle Notfallpädagogik zu begründen, deren Ziel es sein soll, Menschen erziehungswissenschaftlich begründet auf die Bewältigung von Notfallsituationen vorzubereiten und einen insgesamt pädagogisch angemessenen Umgang mit Notfällen zu gewährleisten. Eine erste Arbeitsdefinition des Begriffs »Notfallpädagogik« wurde von Karutz (2004b) vorgeschlagen:
15
1 ˘ Einführung
»Notfallpädagogik ist die Wissenschaft von Erziehung und Bildung, die auf Notfälle bezogen ist. Sie entwickelt Theorien, Konzepte und Methoden für eine notfallbezogene Erziehung sowie Aus-, Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen mit dem Ziel notfallbezogener Mündigkeit. Synonym kann auch von notfallbezogener Erziehungswissenschaft gesprochen werden.«
Aktuell gibt es erste Forschungsarbeiten, die sich explizit mit Notfallpädagogik bzw. pädagogischen Aspekten der Notfallvor- und -nachsorge befassen (z. B. Palm 2010). Vereinzelt wird der Terminus »Notfallpädagogik« auch bereits in Titeln verschiedener Fachvorträge auf Symposien und Kongressen verwendet. Zurzeit geschieht dies allerdings ausgesprochen heterogen und in den unterschiedlichsten Zusammenhängen, zumal sich offenbar noch kein einheitlicher Sprachgebrauch durchgesetzt hat (siehe Kapitel 2.1). Nicht unerwähnt bleiben soll das vielversprechende, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsprojekt »VoTeKK«. Darin wird untersucht, wie Laien, aber auch Einsatzkräfte, besser auf Terrorakte, Krisen und Katastrophen vorbereitet werden könnten. Eine Internetplattform (www.votekk.de), auf der zukünftig Informationen über Gefahren und Verhaltensweisen in speziellen Notfallsituationen bereitgestellt werden sollen, befindet sich derzeit jedoch erst im Aufbau.
1.2
Über dieses Buch
Das vorliegende Buch ist der erste Versuch einer systematischen Bestandsaufnahme von Ideen, Ansätzen und Konzepten für notfallpädagogisches Denken und Handeln. Vom Begriffsverständnis her wird einer Definition von Lasogga und Gasch (2008) gefolgt. Demnach handelt es sich bei Notfällen um »Ereignisse, die aufgrund ihrer subjektiv erlebten Intensität physisch und/oder psychisch als so beeinträchtigend erlebt werden, dass sie zu negativen Folgen in der phy16
1 ˘ Einführung
sischen und/oder psychischen Gesundheit führen können«. Sehr schematisch lassen sich unterschiedliche Notfallarten voneinander abgrenzen: ˘ medizinische Notfälle, beispielsweise ein Schlag-
anfall, ein Herzinfarkt oder eine akute Unterzuckerung, ˘ Notfälle im Zusammenhang mit Technik, so z. B. ein Unfall in einem Kernkraftwerk, ein Brandausbruch durch einen Kurzschluss oder ein Zugunglück durch einen Materialfehler usw., ˘ Naturereignisse, etwa eine Überschwemmung, ein Erdbeben, ein Sturm oder ein Vulkanausbruch, sowie ˘ zwischenmenschliche Notfälle, hierzu zählen beispielsweise Konfliktsituationen, Raubüberfälle, Vergewaltigungen, Körperverletzungen, Mord, Terroranschläge und andere kriminelle Akte (ausführlich siehe Lasogga und Gasch 2008). Diese Einteilung ist zwar nicht unumstritten. So gibt es Ereignisse, die sich in mehreren Kategorien einordnen lassen oder deren Einordnung insgesamt schwierig ist. Bei einigen Notfällen, die meist als »Naturereignis« dargestellt werden, gibt es zumindest eine Mitverursachung durch menschliches Handeln usw. (Felgentreff und Glade 2008, Kreutzer 2008). Für die vorliegende Veröffentlichung ist die genannte Kategorisierung dennoch hilfreich. Sie verweist zunächst auf das extrem breite Themenspektrum, das in der notfallpädagogischen Theorie und Praxis zu betrachten ist. So werden Präventionsprogramme zur Verhinderung sexuellen Missbrauchs von Kindern in diesem Buch ebenso thematisiert wie Überlegungen zur Brandschutzerziehung, zur Schulung von Ersthelfern sowie zu speziellen Aspekten der Ausbildung von Einsatzkräften. Die beispielhafte Auflistung einzelner Notfallvarianten macht zugleich aber auch deutlich, was dieses einführende Buch sicherlich (noch) nicht sein kann, nämlich eine 17
1 ˘ Einführung
abschließende, vollständige Übersicht aller eigentlich wünschenswerten notfallpädagogischen Konzepte. Zu mehreren Notfallsituationen liegen schlichtweg noch keinerlei pädagogische Überlegungen vor. Und von den Konzepten, die bereits vorhanden sind, sind nur die wenigsten empirisch legitimiert bzw. bereits evaluiert. Mit diesem Buch ist zunächst damit begonnen worden, eine Gesamtdarstellung aus vielen einzelnen Puzzleteilen zusammenzusetzen (Abb. 1), es handelt sich um »Work in progress«. Die folgenden Ausführungen bieten einen groben Überblick über eine denkbare und durchaus mögliche Notfallpädagogik. Darüber hinaus soll die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf Probleme und Fragestellungen gelenkt werden, die mit notfallpädagogischem Denken und Handeln verbunden sind. Weiterer Forschungsbedarf wird aufgezeigt. Und nicht zuletzt soll das Buch natürlich dazu anregen und ermutigen, sich mit den vorliegenden Ausführungen kritisch auseinanderzusetzen, über sie zu diskutieren und – als Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter, Ausbilder oder Dozent – möglichst selbst »notfallpädagogisch« aktiv zu werden. Der Untertitel des vorliegenden Buches spiegelt diese Zielsetzung wider: Einerseits wird auf längst verfügbare, relativ ausgereifte und auch etablierte Konzepte hingewie-
Kinder
Erwachsene
Einsatzkräfte
Abb. 1 ˘ Notfallpädagogik als »Work in progress«: Zahlreiche Puzzleteile fehlen derzeit noch. 18
1 ˘ Einführung
sen. Mit ihnen soll beispielhaft aufgezeigt werden, wie notfallpädagogische Praxis gestaltet werden kann: Sie sind ausdrücklich zur weiteren Verbreitung empfohlen! Andererseits wird an vielen Stellen auf bloße Theorie- und Handlungsansätze oder auch auf vorläufige Empfehlungen hingewiesen, an denen erst noch weitergearbeitet werden muss, die einer weiteren Präzisierung bedürfen und bislang keineswegs »zu Ende gedacht« sind. Gegliedert ist das Buch in fünf Teile: ˘ Nach einer kurzen allgemeinen Einführung werden
im zweiten Teil einige theoretische Grundlagen der Notfallpädagogik dargestellt, Fragen und Probleme aus diesem Handlungsfeld benannt. ˘ Im dritten Abschnitt geht es um ausgewählte notfallpädagogische Überlegungen, die sich insbesondere auf Kinder und Jugendliche beziehen. Zunächst wird dargestellt, wie eine notfallbezogene Erziehung prinzipiell aussehen könnte. Ines Schäferjohann reflektiert über die Begegnung von Kindern mit Tod und Trauer. Lars Menzel stellt ein Schulungsmodell vor, mit dem Kinder an die Durchführung von Erste-Hilfe-Maßnahmen herangeführt werden können. Ein Beitrag von Tobias Immenroth führt dies thematisch fort und stellt die Einrichtung von Schulsanitätsdiensten vor. Martina Grochow beschreibt die pädagogischen und organisatorischen Grundsätze der Brandschutzerziehung. Angela May informiert über Strategien zur Prävention sexuellen Missbrauchs von Kindern. In einem abschließenden Kapitel stellt Astrid Kaiser ihre Überlegungen zu einer »Katastrophenkompetenz als Bildungsaufgabe« vor. ˘ Im vierten Teil des Buches wird die Frage aufgegriffen, wie notfallpädagogische Maßnahmen für Erwachsene grundsätzlich zu gestalten sind. Ralf Sick stellt dazu ein innovatives Konzept für die ErsteHilfe-Ausbildung vor. Weitere Ansätze zur Steigerung der Selbsthilfekompetenz – auch über die me19
1 ˘ Einführung
dizinische Erste Hilfe hinaus – werden von Tobias Immenroth dargestellt. ˘ Im fünften Abschnitt werden einige ausgewählte Aspekte der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Einsatzkräften thematisiert. Ein grundsätzliches Problem besteht beispielsweise darin, wie Handlungskompetenz auch und gerade angesichts der hohen Varianz (noch dazu eher selten auftretender) Notfallsituationen vermittelbar ist. Vor diesem Hintergrund schildert ein Beitrag den pädagogisch angemessenen Umgang mit sogenannten »Lehraussagen«. Klaus Runggaldier und Frank Scheinichen schreiben über algorithmenbasiertes Lernen, und Michael Lülf stellt die Vermittlung von Standardeinsatzregeln bei Feuerwehren vor. Ein weiterer innovativer Ansatz ist das Konzept der Lernfeldorientierung, vorgestellt von Kersten Enke. Einsatzkräfte müssen aber nicht nur in sehr unterschiedlichen Situationen Höchstleistungen erbringen, sondern in der Regel auch mit Kollegen oder Kameraden extrem effektiv zusammenarbeiten. Ein erlebnispädagogisches Modell zur Teambildung, das sich bereits in der Grundausbildung von Einsatzkräften umsetzen lässt, wird in diesem Zusammenhang von Michael Lülf beschrieben. Auf das »Crew Resource Management« (CRM), das ursprünglich in der Luft- und Raumfahrt entwickelt worden ist, seit einigen Jahren jedoch immer häufiger auch auf andere Handlungsfelder übertragen wird, geht Ulf Wagner in seinem Beitrag ein. Im CRM geht es allerdings nicht nur um eine möglichst effektive Zusammenarbeit im Rettungsteam, sondern u. a. auch um eine verbesserte »situative Aufmerksamkeit« sowie um die Entwicklung geeigneter Strategien zur Entscheidungsfindung. Eine weitere Möglichkeit, Entscheidungsprozesse in hoch komplexen (Notfall-)Situationen zu trainieren, ist das Planspieltraining. Es wird ausführlich von Achim Hackstein beschrieben. 20
1 ˘ Einführung
Rico Kuhnke gibt mit seinem Beitrag einen Überblick über das »Blended Learning«. Gerade in der Aus-, Fort und Weiterbildung von Einsatzkräften dürfte dieses Konzept noch erheblich an Bedeutung gewinnen. Einerseits werden Schulungsinhalte immer umfangreicher, andererseits steht für »klassischen« Unterricht immer weniger Zeit zur Verfügung. Hier bietet Blended Learning eine Chance, Lehr- und Lernprozesse zu flexibilisieren und den individuellen Bedürfnissen der Auszubildenden bzw. Teilnehmer in Fort- und Weiterbildungen anzupassen. Möglicherweise wird der interessierte Leser Ausführungen zu allgemeineren Aspekten der Unterrichtsgestaltung vermissen. Aus Platzgründen und um Redundanzen zu vermeiden, wurden sie jedoch bewusst ausgeblendet, zumal sie bereits in zahlreichen anderen Veröffentlichungen enthalten sind (siehe z. B. Dobler 2010, Hündorf und Lipp 2003).
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Die Ausführungen richten sich an Erzieher, Lehrer und Dozenten in sämtlichen Bereichen des Bildungswesens. Alle, die an der Schnittstelle zwischen Notfallrettung und Erziehungswissenschaft interessiert sind, finden in ihnen wertvolle Anregungen für die eigene pädagogische Praxis.
Notfallpädagogik Konzepte und Ideen ISBN 978-3-938179-64-2 · www.skverlag.de
Notfallpädagogik
In diesem Buch geht es darum, wie einzelne Zielgruppen – Kinder, Erwachsene und Einsatzkräfte – auf unterschiedliche Notfallerfahrungen angemessen vorbereitet werden können. Es beinhaltet eine erste systematische Sammlung von Ideen und Konzepten, aus denen sich das Grundgerüst einer künftigen Notfallpädagogik ableiten lässt.
Das Themenspektrum umfasst u.a. • die Prävention s exuellen Missbrauchs von Kindern, • den Umgang mit dem Tod, • die Brandschutzerziehung und Ersthelferschulung, • die spezielle Ausbildung von Einsatzkräften.
Konzepte und Ideen
Die Konfrontation mit mehr oder weniger schweren Unglücksfällen ist unausweichlich. Die Erkenntnis von Gefährdung und Verletzlichkeit ist ein existenzieller Bestandteil des menschlichen Lebens.
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Harald Karutz
Wisse n Handeln
Wollen
Können
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