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Kultur Giovanni segantini in der Fondation Beyeler

die besten

Paradies auf Erden Die Sehnsucht nach der Schönheit der Natur bannte Giovanni Segantini auf die Lein­wand. Die Fondation Beyeler feiert den Divisionisten als Wegbereiter der Moderne.

u In schwere Baumwolle gekleidet, der prallen Mittagssonne ausgesetzt, steht sie da und blickt in die Ferne. Was hat die Schafhirtin erspäht? Den Balzflug zweier Bergdolen? Einen Wanderer, der ihr aus dem Dorf eine kleine Stärkung vorbeibringt? Ein verloren geglaubtes Schaf am Horizont? Die flirrende Sommerhitze in «Mezzogiorno sulle alpi» von Giovanni ­Segantini (1858–1899) ist fast spürbar. Die ungeheure Lichtintensität seiner späten Werke erreicht der grosse Maler der ­Berge durch meist horizontal geschichtete, komplementäre Farb­ streifen, auch ­Divisionismus genannt. Bei dieser spätimpressionistischen Malweise entsteht der vorgesehene farb­ liche Eindruck nur bei Betrachtung des Bildes aus einiger Entfernung. Der in Arco am Gardasee geborene Segantini zieht es im Laufe seines Le­ bens immer weiter in die Höhe. Nach dem frühen Tod der Mutter wohnt er bei einer Halbschwester, bei der er jedoch nicht willkommen ist. Sie sorgt auch da­ für, dass dem siebenjährigen Giovanni die österreichische Staatsbürgerschaft entzogen wird. Zeit seines Lebens bleibt Segantini staatenlos. Während des Studiums an der Mai­ länder Kunstakademie Brera erregt er 1879 mit seinem ersten grösseren Bild, «Chorgestühl von Sant’ Antonio», Aufse­ hen dank der neuartigen Behandlung des Lichts. Ein Jahr später lernt er die künftige Mutter seiner vier Kinder und lebenslange Gefährtin Bice Bugatti ken­ nen. 1886 zieht das Paar, das wegen Segantinis Staatenlosigkeit unverheira­ tet bleiben muss, in die Schweiz. In Sa­ vognin bezieht die junge Familie das Haus Peterelli. Von nun an beherrschen Motive aus dem bäuerlichen Dorfund Alp­leben sein Schaffen. Einige der populärsten Bilder entstehen. Die zweite Fassung von «Ave Maria bei der Über­ fahrt», bei der er erstmals mit der neuen Technik des Divisionismus experimen­ tiert. «Die beiden Mütter», «Strickendes

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schweizer illustrierte

Was gibts zu sehen? Nichts als Berge. Welch Glück. Segantinis «Mittag in den Alpen», 1891. Mädchen» und «Kühe an der Tränke», das auf der Weltausstellung in Paris 1989 mit der Goldmedaille ausgezeichnet wird. 1894 verlassen die Segantinis Savog­ nin und ziehen weiter bergwärts, nach Maloja auf 1796 Meter. Der Künstler, der seine Bilder meist vor Ort malt, arbeitet in den Sommermonaten im Engadin, im Winter in Soglio im Bergell. Hochge­ birgslandschaften entstehen, bekannt ist aus dieser Zeit vor allem das Alpentrip­ tychon «Werden – Sein – Vergehen» von 1896 bis 1899. Die einzigartige Leuchtkraft seiner Bilder macht Segantini zu einem bedeu­ tenden Erneuerer der Landschafts­ malerei und Wegbereiter der Moderne. Nach einer Retrospektive im Kunsthaus Zürich (1990) und einer Präsentation zu seinem 100. Todestag in St. Gallen 1999 will die aktuelle Schau in der Fondation Beyeler nun einen frischen Blick auf den Maler der Bergwelt werfen und seinen wertvollen Beitrag zur Entwick­

lung der modernen Kunst vergegenwär­ tigen. Rund 70 Ölgemälde und Zeichnungen aus allen Schaffensperioden sind zu sehen, darunter selten bis noch nie gezeigte Werke. anina rether Fondation Beyeler Riehen BS Bis 25. 4. Täglich 10–18 Uhr, Mittwoch 10–20 Uhr, Tel. 061 - 645 97 00, www.fondationbeyeler.ch, Publikation CHF 68.–

Der Schönheit der Natur verfallen Giovanni Segantini, hier ein Selbst­por­trät von 1893.


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