ECHO Klassik Magazin 2009

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Gnade!

Gnade!

Gnade! Der Rundfunk­ chor Berlin ist eine historische Institution und schafft es noch immer, die Ver­ gangenheit bis in die Gegen­ wart schwingen zu lassen

Der älteste Rundfunkchor Deutschlands verklang 1943. Damals wurden an den Fronten Soldaten gebraucht, auch Sänger wurden in den Tod geschickt. Außerdem fielen Bomben auf Berlin. Seit 1925 hatte der Rundfunkchor Berlin seine Arbeit aufgenommen, mit den größten Dirigenten seiner Zeit zusammengearbeitet, mit Max von Schillings, Hermann Scherchen, Erich Kleiber, Manfred Gurlitt, Eugen Jochum, George Szell und Hans Pfitzner. Kaum ein Tag verging, an dem das Ensemble

nicht im Volksempfänger zu hören war – als Ruhepol in Kriegsjahren, als moralische Kraftanstalt, als subversivhumanistische Institution. Zu der Zeit rang Ernst Pepping gerade mit sich, dem Führer, Gott und der Welt. Der Komponist stand auf der „GottbegnadetenListe“ der NSDAP, weigerte sich aber hartnäckig, der Partei beizutreten, zog sich ins schützende Halbdunkel der Spandauer Kirchenmusikschule zurück und hatte sicherlich bereits seine „Matthäus-Passion“ im Kopf, die 1949 uraufgeführt werden konnte: ein zum

Bersten gespanntes Chorwerk, in dem die Hoffnung auf Vergebung durchschimmert, die Notwendigkeit der Erinnerung, das Grauen vor Verrat. Pepping zog einen Schlussstrich unter Bachs PassionsModell, weil er wusste, dass nicht einer allein die Katastrophe erzählen kann: Wir alle sind beteiligt. So wurde der Evangelist bei ihm vom Kollektiv gesungen, ebenso wie der gemarterte Mensch, der um „Gnade, Gnade, Gnade“ bittet. Der Rundfunkchor Berlin hat seine Arbeit bereits 1945 wieder aufgenommen und ist inzwischen wohl eines der besten Chorensembles mit internati-

onalen Verpflichtungen geworden. Sein Chef Simon Hasley formuliert es so: „Unsere Philosophie ist es, unter den bestmöglichen Bedingungen zu arbeiten: mit den besten Orchestern, mit den besten Dirigenten und mit einem ausgewogenen Repertoire.“ Aber eben auch mit einem Bewusstsein für Geschichte: Die Aufführung von Peppings Passionsbericht war ein internationales Ereignis. Der Rundfunkchor hat gezeigt, welch spannungsgeladene, schizophrene Kraft

der einzelne Mensch im Nationalsozialis­ mus in sich trug – und sie hören lassen. Nicht minder eindrucksvoll war das Konzert von Stravinskys Palmensinfonie unter Leitung von Simon Rattle gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern. Wo immer der Rundfunkchor Berlin zu hören ist, kann man sicher sein, dass es um mehr als um die Musik geht: es geht um die Existenz des Menschen, um die Stimmen der Vielen.

Chorwerkeinspielung: Stefan Parkman, Rundfunkchor Berlin, Pepping, Passionsbericht des Matthäus (Coviello CLASSICS). Chorwerkeinspielung: Rundfunkchor Berlin, Simon Rattle, Stravinsky, Psalmensinfonie u.a. (EMI).

Kammermusik-Einspielung des Jahres Sax Allemande / Frank Schüssler, Arend Hastedt, Markus Maier Mauricio Kagel/Franz Schubert, Ein Kagel-Schubert-Projekt

Solistische Einspielungen des Jahres Ragna Schirmer G. F. Händel, Die Klaviersuiten

FARAO CLASSICS

BERLIN Classics/Edel


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