Das Wetter - Ausgabe #01

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r e p o rtag e

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Âť Es kann nur besser werdenÂŤ

Dagobert


editorial

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Die beteiligten

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editorial

die beteiligten Ohne folgende Menschen wäre dieses Heft nie zustande gekommen. Wir verbeugen uns vor:

Hi Kids, Schön, dass ihr da seid. In den Händen haltet ihr die erste Ausgabe eines Herzens-Projekts. Denn dies ist »Das Wetter« in erster Linie und für alle Beteiligten. Nur so konnten wir überhaupt, in einer Zeit, so schnelllebig wie die unsere, auf die Idee kommen, zu glauben, dass es Menschen gibt, die dafür Geld ausgeben wollen, auf knapp  Seiten das zu lesen, was wir zu sagen haben. Im Endeffekt hatten wir allerdings auch gar keine andere Wahl. Denn: Wir brauchten eine Plattform. Wir, das ist eine (hoffentlich mit jeder Ausgabe weiter wachsende) Gruppe junger Menschen, die Bock aufs Schreiben haben. Jeder der Autoren von »Das Wetter« nutzt dazu auch andere Kanäle. Einige machen Musik, manche malen und andere schreiben für die etablierten Zeitschriften, denen wir hiermit übrigens keineswegs den Markt abgraben wollen. Viel mehr ist das Ziel von »Das Wetter« die Etablierung einer Plattform für jenen Teil unserer Texte zu schaffen, für denen es in anderen Magazinen schlicht keinen Platz gibt. So steht in dieser ersten Ausgabe das Portrait eines Musik-begeisterten Rentners namens Bernd Höhne gleichberechtigt neben einem großen Bericht über einen Spaziergang mit dem großartigen Schlagersänger Dagobert. Uns geht es nicht darum, all

den neuen, heißen Scheiß in unserer Zeitschrift abzubilden. Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber wir wollen gute Geschichten erzählen, spannende Gespräche führen und dabei Grenzen ausloten. Im Mittelpunkt steht dabei stets die Musik, die wir in ihren unterschiedlichsten Formen und Gestalten lieben. Natürlich ist diese Ausgabe dank Interviews mit Alfred Hilsberg und den Goldenen Zitronen, sowie Geschichten über Bands wie Trümmer und No Age, recht Diskurs-Punk-lastig geworden. In unserem Selbstverständnis besitzt jedoch ein Haftbefehl-Album die selbe Relevanz wie neue Musik der famosen Post Punk-Gruppe Messer, deren neue Texte wir exklusiv und vor der Veröffentlichung ihres zweiten Albums »Die Unsichtbaren« abdrucken. Wir wollen, vor allem mit unseren nächsten Ausgaben (»Das Wetter No. « wird im Januar  erscheinen), zeigen, dass es Quatsch ist, zwischen intellektuellem und intuitivem Pop zu unterscheiden. Straßenrap wollen wir mit der selben Ernsthaftigkeit und Begeisterung betrachten wie Gitarren-Musik. Zu guter letzt möchten wir auch die innere Abgrenzung zwischen dem (sogenannten) Mainstream und der Subkultur überwinden. Wichtig ist nicht, in welchem Kontext Bis bald Sascha Ehlert

die Kunst, die wir zum Gegenstand machen, entsteht, sondern ihr Inhalt. Ganz folgerichtig blickt uns von unserem ersten Cover Casper entgegen, der mit »Hinterland«, Teenie-Fans hin, Gekreische her, eine der musikalisch und inhaltlich spannendsten Platten des Herbstes aufgenommen hat. Neben der besonderen Freude über die Chance Benjamin Griffey für unser Cover von Hendrik Otremba malen lassen zu können (eine Herzensangelegenheit), macht es uns glücklich, wie viel Gegenliebe uns von Seiten der nun beteiligten Künstler und Musiker entgegen gebracht wurde. Egal, ob Oskar Wald von Chuckamuck einen Artikel über seine Band selbst illustrierte, oder Musikjournalisten-Lichtgestalt Alfred Hilsberg uns eines seiner seltenen Interviews gab, wir stießen mit unseren verrückten Ideen immer auf Vertrauen und das finden wir (natürlich) großartig! Vor all diesen idealistischen, begeisterungsfähigen Menschen, aber vor allem, vor jedem, der sich in Text und/ oder Bild an der Entstehung dieses Magazins beteiligt hat, verbeuge ich mich in Hochachtung. Danke! Und nun, genug der Emotionen. Viel Spaß beim Lesen der ersten Ausgabe von »Das Wetter«, ihr kleinen Strolche!

Jan Dr ees

Hendrik Otremba

Jan Weh n

Jan arbeitet hauptberuflich als Literaturkritiker für

Als Sänger der Gruppe Messer bohrt er in den Un-

Jan ist einer der besten, jungen Musikjournalisten, die

Live und hat bereits mehrere Bücher (letzte Veröf-

tiefen der deutschen Sprache nach einem Fünkchen

wir kennen. Er schreibt insbesondere für die Magazine

fentlichung: die Erzählung »Teneriffa«, erschienen bei

Wahrheit. In seinen weiteren Leben ist Hendrik Ot-

 und , aber auch für Medien wie den Freitag.

Sukultur) geschrieben. Für Das Wetter kommentierte

remba Musikjournalist, arbeitet in einer Universität

Uns stellte er eine unveröffentlichte Kurzgeschichte

er die Texte der neuen Messer-Platte.

und betätigt sich als Maler. Für diese Ausgabe gab er

aus dem Jahr  zur Verfügung.

Felix Eule

Diskussion frei, traf sich mit den Goldenen Zitronen

seine neuen, noch unveröffentlichten Song-Texte zur und malte unseren Cover-Künstler Casper.

O s k a r Wa l d

Wir wissen es nicht, sein Text wurde uns über Dritte

Der gebürtige Berliner ist Sänger der Rock'n'Roll-

zugespielt. In dem geht es um: Bier.

Gruppe Chuckamuck. Zudem gestaltet er, von dem

Max Lessmann

P au l P ö t s c h

Plakat bis zum T-Shirt, sämtlichen Merch der Band

Der Trümmer-Frontmann singt von den großen Fra-

und zeichnet leidenschaftlich gerne Comics. Uns hat er

gen unserer Zeit in allgemeinverständlicher Sprache

ein gezeichnetes Selbstportrait seiner Band, sowie den Comic » Panels« zur Verfügung gestellt.

Max ist Sänger der Band Vierkanttretlager, famoser

und ist auch privat ständig auf der Suche nach Ant-

Geschichtenerzähler, wandelndes Deutschrap-Lexikon

worten. Für »Das Wetter« stellte er sich die Frage, ob

und talentierter Schreiber. Für diese Ausgabe wan-

die Gegenwart das Ende der Geschichte sein könnte

derte er mit Dagobert durch Berlin und verteidigte

und legte im selben Atemzug dar, was ihn als Texter

deutschen Straßenrap gegen seine (natürlichen) Feinde.

und Musiker umtreibt.

Philipp Wulf Philipp ist der Drummer der Gruppe Messer. Als einziges Band-Mitglied wohnt er nicht mehr in Münster.

ta m m o k a s p e r & henning mues

K ristof Sch reuf

Anstatt dessen studiert er mittlerweile in Hamburg. Bevor es Messer gab, spielte er in der Hardcore-Band

Als Sänger der Band Kolossale Jugend (und später

Ritual. Für Das Wetter portraitierte er die Band No

solo als: »Bourgeois with Guitar«) erzielte Kristof

Age und interviewte gemeinsam mit Hendrik Otrem-

cords, um das alte Vorzeige-Indie bei seinem Neustart

Schreuf zwar keine riesigen Breiten-Erfolge, prägte

ba die Goldenen Zitronen.

zu unterstützen. Mittlerweile führen sie ein eigenes

aber dennoch zahllose Musiker. Aktuellstes Beispiel

Label: Euphorie. Tammo spielt zudem bei Trümmer.

ist die Gruppe Messer, deren neue Texte Schreuf für

Für das Wetter unterhielten sich Henning und Tammo

uns kommentierte.

Henning und Tammo waren mal bei Zick Zack Re-

ausführlich mit ihrem Quasi-Mentor, dem Musikjournalisten und Labelbetreiber Alfred Hilsberg.

Zucker Zucker, das sind Pola Lia Schulten und Christin

A n n a Va e h a e o j a

Elmar Schalko. Sie machen Pop-Musik. Für Das Wetter kommentierte Pola die Song-Texte von Hendrik

Hanna Osen & Anne Stiefel

Anna lebt und arbeitet als freie Illustratorin in Ham-

Otremba. Außerdem stellten sie und Christin uns drei

burg. Für diese Ausgabe portraitierte sie »Trümmer«.

Din A-Bögen zur Verfügung, die einen Einblick in

Layout und Grafikdesign. Harmonie ist eine Strategie.

Als Vorlage diente ein Bild der Fotografin Laura Brichta.

den Umgang der Band mit Wort und Text gewähren.


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inhalt

ausgabe 1 

editori al

bernd höhne

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Ihr kennt Bernd Höhne nicht? Das ist schade, aber lässt sich ändern.

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chuckamuck

Kommt mit, wir besuchen ihn in seiner Wohnung.

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Chuckamuck sind eine Band, die Spaß macht. Auf einem Stein nahe

der Reeperbahn haben wir das Gespräch mit den sympathischen Ber-

casper

linern gesucht. 

Das schwierige Album direkt nach dem Durchbruch

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die Beteiligten

i nh alt

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i nh alt

in den Mainstream. Benjamin Griffey hat es gewagt, »Hinterland«

die goldenen zitronen

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aufgenommen und ist zu erstaunlichen Erlebnissen gekommen.

i c h m ö c h t e n i c h t, dass ihr meine lieder s ingt

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Ein Popstar im Portrait. Die legendären Goldies haben ein neues Album gemacht. Es heißt: »Who’s Bad«. Wir finden: großartiger Titel und haben

Mitglieder der Band Messer ins Buback-Büro geschickt,  22

 

Max Lessmann stellt sich vor deutschen Straßenrap und verteidigt 66

dagobert

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ihn vor jenen, die mit ihm Schindluder treiben wollen.

Die kalifornische Band No Age hat beim renommierten Label Sub Pop ein Album namens »An Object« veröffentlicht. Ein Portrait über

eine Band zwischen Punkattitüde und ungewollter Coolness.

easydoesit

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Anhänger der großen, der wahren Liebe? Max Lessmann hat die Ant-

trümmer

Ist Dagobert Jäger nun ein großer Schwindler oder der letzte echte 

no age

um die Band zu interviewen.

wort gefunden – während eines Spaziergangs durch Berlins Mitte.

Die Videoproduktionsfirma doesit repräsentiert Kreuzberg im Pop-Mainstream so erfolgreich wie sonst niemand. Wir haben sie in ihren Büro-Räumen besucht.

Trümmer schreiben tolle Pop-Songs mit interessanten Texten. Wir waren mit ihnen auf Tour. 38

s ie suchen das problem? hier ist es.

bitte kein bier

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die unsichtbaren

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Alfred Hilsberg ist eine Legende, die kaum wer kennt – überspitzt ge-

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sagt. Henning Mues und Tammo Kasper haben sich mit ihm über die

impressum

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Popkultur unterhalten. 

Geschichte und die »Alles-Immer«-Philosophie unserer Zeit.

alfred hilsberg

 än d i e f r o s c h m  ner

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Paul Pötsch, Sänger der Band Trümmer, schreibt über das Ende der


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Man stelle sich vor die Bands Oasis, Slime, Rancid, Editors und The Avett Brothers würden mit Bob Dylan und Bruce Springsteen in einer unheimlichen Bar irgendwo an einem Highway ins Nirgendwo sitzen. Sie unterhalten sich. Plötzlich bemerken sie, dass sie heimlich alle mal davon geträumt haben ein HipHopAlbum aufzunehmen. Einige Stunden später ist jene Bar, die ohnehin von Anfang an nichts als eine Illusion war, auf ewig verschwunden. Alles, was von ihr bleibt ist eine Platte. Sie heißt »Hinterland«.

·Born To Run ·

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tönte. Eine halbe Minute später klimpert eine Piano-Melodie los, wenig später mächtige Drums. Erst nach knappen sechzig Sekunden explodiert das Instrumental und flirrende Gitarren, Xylophone und Bläser setzen ein. Der Song wirkt monumentaler als alles, an dem Casper bisher gearbeitet hat. Ein behutsamer Einstieg in eine Platte klingt anders. Der Ich-Erzähler des Songs macht sich »Auf und Davon«. Er möchte nie wieder zurück. Er verlässt seine Stadt und lässt dabei alles und jeden, seine ganze Vergangenheit, hinter sich. Dies tut er nicht still und heimlich. Nein, der Erzähler lässt seine alte Heimat gleich im Feuer vergehen. Casper erzählt diese Geschichte mit jenen Mitteln, die man seit »« kennen und schätzen gelernt hat. Er nutzt eine bildhafte Sprache, die keine Angst vor großen Gefühlen hat und zahlt damit Bruce Springsteen, einem seiner vielen Idole, Respekt. In der Hook hingegen zitiert er einen Song seiner Punk-Jugend. Aus dem indizierten »Bullenschweine« von Slime leiht sich Casper die Phrase »Ein Drittel Heizöl, Zwei Drittel Benzin«. Er reißt sie aus dem Kampf gegen die Staatsgewalt hinaus und überträgt diesen ins Private. Hier ist die Revolte kein öffentlicher Kampf, sondern eine individuelle Flucht in die Ungewissheit. Zudem fungiert »Im Ascheregen«, der nicht nur Intro, sondern auch die erste Single des Albums ist, auch als Marketing-Finte. Nach diesem Song mag der eine oder andere eine großspurige Stadion-Rap-Platte erwarten. Diese Menschen wird »Hinterland« möglicherweise enttäuschen. Au f b r u c h i n s U n g e w i s s e »Ich glaube, dass eine Platte die Men»Hinterland« beginnt dennoch mit ähn- schen sofort in eine neue Welt hineinziehen lich viel Grandeur. Man hört Schritte auf muss, deswegen dieser Song. Ich habe mir einem feuchten, sumpfigen Boden, dann vorgestellt wie ein Hörer mit dem Auto eine sakral leiernde Orgel, die an Coldplays über eine Landstraße fährt und dann zum »Fix You« erinnert – jenen Song, der in den ersten Mal das Album einlegt. Ich möchte, letzten Jahren stets in den Momenten vor dass dieser Moment so erhaben wie mögCaspers Konzerten aus den Lautsprechern lich wirkt. Doch allgemein war die Zielset-

»Ich stehe ja total auf extrem epische, erhabene Momente.«

Was von Außen betrachtet wirkt wie eine äußerst komfortable Ausgangsposition, muss für Casper in Wahrheit wahnsinnig stressig gewesen sein. Ein knappes Jahrzehnt, nachdem er sein Elternhaus verlassen hatte, um in Bielefeld in einer spartanisch eingerichteten  zu hausen, war er doch noch zum Star geworden. Nicht zu einem, den sich die Klatschpresse zu Nutze machen konnte, dafür aber zu jemandem, dessen Musik viele schätzen, manche gar lieben. »« mag keine ganze Generation geprägt haben, dazu polarisieren Caspers Musik und Stimme zu stark, dennoch wird dieses Album noch über Jahre hinweg Menschen etwas bedeuten. Leider können Fans manchmal erstaunlich undankbar sein, wenn ihr lieb gewonnener Held ihre Erwartungen unterwandert. Dennoch kam musikalischer Stillstand nicht in Frage, als es Zeit wurde nach einem Nachfolger zu »« zu suchen. Anstatt auf Nummer sicher zu gehen, entschied sich Casper für einen Neuanfang. »Ich stehe ja total auf extrem epische und erhabene Momente. Ich schätze das erklärt auch meine Liebe zu Bands wie den Editors, Get Well Soon und Coldplay. Gleichzeitig ist mir dieser Pathos im Nachhinein an '' etwas sauer aufgestoßen. Wir haben bei der Produktion so lapidar mit diesen Momenten gearbeitet, dass die Platte am Ende manchmal drohte an ihm zu ersticken«, erklärt er während unseres Gespräches im Innenhof des Büros seines Managments Beat The Rich.

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zung für ›Hinterland' eigentlich eine andere. Ich wollte eine Platte aufnehmen, die wesentlich herunter gestrippter und organischer klingt – ein wenig so wie die Musik der Shins.« Wieder eine Referenz. Casper ist einer, der in mindestens jeder zweiten Antwort seine musikalischen Quellen nennt, um Zielsetzungen, Sounds und Inspirationen zu beschreiben. Man könnte sagen er arbeitet so, wie die meisten Musikjournalisten schreiben. Er verfügt nicht überdas technische Knowhow, er ist ja kein ausgebildeter Musiker und spielt keine Instrumente, aber er weiß dennoch genau, wie seine Songs zu klingen haben. Mit der Musik der Shins teilt »Hinterland« vor allem eine musikalische Offenheit, die sich nicht Genres, sondern nur der Suche nach perfekten, runden Songs verpflichtet fühlt. Seine, wie Casper sagt, »Recherchen« für »Hinterland« begannen allerdings an einem ganz anderen Punkt der Popgeschichte, in unerwarteten Gefilden. »Ich habe eine Zeit lange sehr häufig die 'Murder Ballads' von Nick Cave gehört. Mich hat das total beeindruckt, wie er auf der Platte verschiedene Subebenen, die aus Fabeln und Alltagserzählungen zusammen gesetzt sind, mit einander verknüpft, um eine Geschichte zu erzählen, die die ganze Zeit über irgendwie bedrohlich wirkt. Davon erzählte ich einem Freund, der sich sehr gut mit Musik auskennt. Der wiederum verwies mich auf

Robert Johnson. Über ihn wird erzählt, er habe seine Seele an einer Kreuzung an den Teufel verkauft, um der beste Blues-Musiker der Welt zu werden. Und dann war da noch Tom Waits.« Den Einfluss jener Ikonen auf Caspers Songwriting spürt man vor allem auf »La Rue Morgue«, der im Titel auf eine Kriminal-Kurzgeschichte von Edgar Allan Poe Bezug nimmt. In dem Song mimt er einen Erzähler, den man so von ihm noch nicht kannte. Vieles bleibt im Ungefähren. Fest steht, dass im Text ein Mann in Schwarz auftaucht und, dass das Gruseltheater in einer schäbigen Bar spielt. Jugend, Leben, Tod und Drogen könnten eine Rolle spielen. Ein Klavier gibt einen Takt vor, das mit wenigen Tönen aus kommt und Americana-Vibes transportiert. Caspers Vortrag erinnert hier tatsächlich mehr an den SprechSingsang des späten Tom Waits, denn an klassische HipHop-Muster. Der Song ist großartig. Mit ihm bewegt sich Casper heraus aus seiner Komfort-Zone und entfernt sich noch ein Stück weiter von den Charakteristika konventioneller Rap-Songs und auch von dem, auf den ersten Blick identifizierbaren, persönlichen Bezug seiner Texte. Casper und Benjamin verschwinden hinter der erzählten Geschichte. »Ursprünglich wollte ich, dass die ganze Platte so klingt. Irgendwann merkte ich aber, dass ich ganz besonders Songs liebe,

in denen man einen starken, direkten Bezug zum Künstler erkennt. Die Leute lieben ja komischerweise ›Halbe Mille' sehr, dabei ist der Song total unpersönlich. So etwas schreibt sich vergleichsweise schnell und einfach. Aber am Ende reicht mir das nicht. Der Großteil meiner Songs bedeuten mir unglaublich viel, darauf möchte ich nicht verzichten.« Genau dieser persönliche Bezug machte es möglich, dass sich so viele Menschen in »« verlieben konnten. Bei Casper ging es immer um mehr als um mögen oder nicht mögen. Entweder rissen einen die melancholischen Jugenderinnerungen und die dringliche Aufbruchstimmung mit, oder sie ließen einen völlig kalt. Dies wird bei »Hinterland« nicht anders sein. Auf den ersten Blick wirkt das Album wie das Zeugnis einer sehr persönlichen Suche. Nachdem er seine alte Heimat niedergebrannt hat, geht der Erzähler dort hin, »wo Gedanken im Winde verwehen und die Zeit scheinbar nie vergeht«. Der Ort heißt »Hinterland« und er wird vom Erzähler scheinbar gleichermaßen geliebt wie gehasst. Hier spielt die Geschichte, die dieses Album erzählt, wenn man so will. Ob Hinterland einen Nimmerland-ähnlichen Fantasieort meint oder etwas anderes, das wird jeder für sich selbst entscheiden müssen, Spielraum für Spekulationen bietet die Platte genug. Und Casper wird sich hüten diesen einzuengen,

»Ich habe eine Zeit lang sehr häufig die 'Murder Ballads' von Nick Cave gehört. Mich hat das total beeindruckt (..)«


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»Ein bisschen The Smiths, ein paar The Jam-Ansätze und den Versuch an eine gewisse Oasis-Größe heran zu reichen kann man aus 'Hinterland' glaube ich auch heraus hören.«

Womit wir bei der dritten Ebene wären: der Musik. Spricht Casper von Markus, meint er Markus Ganther. Der versierte Remixer und Sizarr-Produzent ist einer der Köpfe hinter der Musik von »Hinterland«. »Markus war der Richtige, weil er noch stärker als ich ein wandelndes Musik-Lexikon ist. Wenn ich ihm zum Beispiel erzähle, dass ich mittlerweile auch so jemanden wie Flying Lotus enorm feiere, dann zeigt er mir erst mal sechzig ähnliche Typen, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Gleichzeitig kennt er sich total mit Prog-Rock und solchen Dingen aus. Wir haben uns musikalisch sofort verstanden. Problematisch war nur, dass wir beide eher unorganisiert arbeiten und uns mit unserem Talent sehr unsicher fühlen. Zum Glück gab es da ja auch noch Konstantin Gropper. Mit Get Well Soon hat dieser bereits mehrfach und mit jeweils beeindruckenderen Ergebnissen gezeigt, dass er sich hervorragend auf das Arrangieren großer, breiter Soundwelten versteht. Mit der Casper-Platte hatten Ganther und er sich die schwere Aufgabe auf die Schultern geladen große Ideen und viele eingespielte Instrumente so zu arrangieren, dass sie von vielen Menschen verstanden werden und zugleich einen Künstler zufrieden stellen, der zwischen Mainstream-Rock und Seapunk am Liebsten die gesamte Musik der Welt auf einer Platte

»La-lass dich fallen, wehr dich nicht mein Kind.«

egal wie häufig man ihm im Netz darum Liebe und ihrem Scheitern erzählen. »... bittet, Dieses oder Jenes zu erklären. »Das nach der Demo ging's bergab!« stellt eine ist ehrlich gesagt ein HipHop-Phänomen, unbequeme Frage: »Was hat uns bloß so glaube ich. Die Rap-Kids sind es gewohnt, ruiniert?« Diese scheint Casper auch auf dass ein Rapper sein Gesicht auf das Cover »Lux Lisbon« zu verfolgen (»Könnte doch packt, sich eine Krone aufsetzt und sein jede kriegen, bin doch so berühmt. Gott, Album ›Der König ist zurück' nennt. Das ich vermiss dein Parfum«), auf dem er versteht man ja sofort. Natürlich hat das auf seine verdrogten oder toten, musikaArtwork der Platte etwas mit der Musik lischen Helden blickt und sich fragt: »Ich zu tun, ich habe mir dabei etwas gedacht. trink schon wieder allein, zu was macht Aber ich möchte das nicht erklären, dazu mich das?« mag ich es selbst zu sehr, wenn einem ein Die Songs im Zentrum von »HinterAlbum die Chance gibt, nach einem eige- land« offenbaren tiefe Abgründe. Dennoch nen Ansatz zu suchen. Wenn einer meiner schließt die Platte, im Gegensatz zu »«, Songs für zehn Leute zehn unterschiedliche zuversichtlich. »Jambalaya«, auf der PresseBedeutungen hat – umso besser.« Vorab-Version der letzte Song, ist nicht nur nach einem kreolischen, Paella-ähnlichen Gericht benannt, sondern fungiert auch Wege ins Hinterland als Rekapitulation von Caspers SüdstaatenHört man »Hinterland« erschließen sich Kindheit, sowie als Standortbestimmung zunächst drei Ansätze, über die man sich in der Rap-Szene. Musikalisch bezieht sich dem Album nähern kann. Da ist zum ei- der Song explizit auf seine -Sozialisation. nen die Erzählung vom Protagonisten auf »Wir haben dafür eine komplette Drumlider Suche nach einer neuen Heimat, die ne, wie sie in amerikanischen Highschoolmit dem letzten Song »Endlich angekom- und College-Marching Bands vor kommt, men« endet. Zweitens kann man in der aufgenommen. Orientiert haben wir uns »Hinterland«-Erzählung auch Erinnerun- vor allem an 'Who Dat‹ von J. Cole, aber gen des Menschen Benjamin Griffey ent- auch an New Orleans-Bounce-Kram, zum decken. Da ist die Flucht aus dem alten Beispiel 'Dey Know‹ von Shawty Lo und Zuhause (Bösingfeld?), auf die die Verbrü- 'Talk It Like I Bring It‹ von Fiend. Diese derung mit anderen, verlorenen Jungs folgt. Songs klangen uns allerdings noch zu klasUnd dann sind da die Songs, die von der sisch, zu rappig. Wir wollten mehr!«

vereinen würde. »Es ist eine riesige ZitatWerferei geworden«, sagt Casper. Ich liebe ja extrem amerikanische Künstler wie zum Beispiel Bruce Springsteen und Tom Petty. Gleichzeitig wollte ich aber auch, dass die Platte meine Vorliebe für Mod und Britpop wiederspiegelt. Ein bisschen The Smiths, ein paar The Jam-Ansätze und den Versuch, an eine gewisse Oasis-Größe heran zu reichen kann man aus 'Hinterland‹ glaube ich auch heraus hören. Das hoffe ich jedenfalls.« Tatsächlich kann man diese Einflüsse in kleinen Sounds und inhaltlichen Anspielungen an allen Ecken und Enden erkennen. Ob Casper nun den Oasis-Song »Champagne Supernova« erwähnt oder in der Tiefe eines Songs ein paar OhOhs zu hören sind, die an die Gallaghers erinnern. Bei Zeilen wie »La-Lass dich fallen und nimm es einfach hin, la-lass dich fallen, wehr dich nicht mein Kind« kann man an Tom Waits denken, bei dem Song » qm« wird mancher sich an Father John Misty erinnert fühlen. Wer Musik so sehr liebt wie Casper, der wird wieder und wieder kleine Elemente entdecken, die einen an oft gehörte Platten erinnern. Im besten Fall kann eines dieser Zitate, zum Beispiel Caspers Versuch Bob Dylans lang gezogene Vokale zu adaptieren, einen dazu bringen einen anderen Künstler neu für sich zu entdecken. »Als ich den Song ›Alles endet (aber nie die Musik)‹ geschrieben habe, hörte ich gerade sehr viel 'American Girl' von Tom Petty & The Heartbreakers und 'Stuck Inside Mobile with the Memphis Blues again' von Bob Dylan.« Große Referenzen, mit denen Casper da um sich wirft. »Ich möchte nicht angeberisch klingen, aber ich bin sehr stolz auf diese neuen Songs. Ich glaube wirklich, dass ich als Songwriter noch mal einen Schritt nach Vorne gemacht habe. Bei '' bin ich noch sehr hart über die Musik herüber gebrettert. Als ich die Texte für 'Hinterland' schrieb, achtete ich stärker dar-

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auf melodisch besser auf die Musik einzugehen. Glücklich macht mich vor allem, dass ich es geschafft habe Songs zu schreiben, die durch die Musik bedingt erst mal positiv bis euphorisch klingen, obwohl in den Texten richtig üble Dinge passieren. 'Alles Endet' beinhaltet ja sehr düstere Bilder, zum Beispiel koksende Dorf-Weiber, die auf Toilette Blowjobs verteilen. Aber weil die Melodie so schön klingt, merken das die Meisten im ersten Moment vermutlich gar nicht. Dieses Stilmittel, mit dem vor allem Rancid und Jamie T sehr gut umgehen, mag ich sehr gerne.« H e i m at g e f ü h l e ? Erzählt werden diese Geschichten in erster Linie zu Musik, die sich (neben Bob Dylan) auch von jüngeren Folkies, namentlich Bands wie die Avett Brothers, die Bright Eyes und die Fleet Foxes, beeinflusst zeigt. Trotz der ebenfalls omnipräsenten Bläser, die deutlich die Handschrift Konstantin Groppers tragen, spürt man eine gewisse Americana-Kante auf dem kompletten Album. Das überrascht, schließlich erscheint Casper einem eigentlich gar nicht wie jemand, der sich mit klassischen Folk-Werten wie Natürlichkeit, Tradition und Heimatgefühlen sonderlich stark identifizieren kann. »Das stimmt«, gibt Casper zu. »Ich selbst fühle mich überhaupt nirgends komplett zuhause. Meine Heimat ist am Ehesten eine krude Mischung aus mehreren Orten. Da ist Augusta, Georgia – die Stadt, in der wir lebten, bevor meine Mutter mit uns zurück nach Deutschland ging. Bösingfeld im Extertal spielt auch eine gewisse Rolle, schließlich bin ich dort aufgewachsen. Bielefeld ist mir wichtig, weil ich dort erwachsen wurde. Berlin spielt da vielleicht noch ein klein wenig mit rein und der Rest besteht aus der Sehnsucht nach einem neuen Ort, an dem ich gerne leben würde.«


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Könnte »Hinterland« möglicherweise also auch von der Suche nach einem Ort handeln, an dem Casper, an dem Benjamin Griffey sich endlich angekommen fühlen kann? Er grübelt einen Moment lang und antwortet dann: »Ich weiß nicht. Ich schätze dafür bin ich noch immer zu rastlos. Viele meiner Freunde werden ja ruhiger und ruhiger, gehen nicht mehr am Wochenende raus, sondern lesen gemütlich ein Buch. Ich kann das nicht. Ich nehme mir oft vor, einfach mal auf dem Sofa sitzen zu bleiben. Am Ende gehe ich dann doch wieder raus. Ich halte es nicht aus zu lange still zu sitzen. Ich schätze ich liebe das Leben auf Tour auch so sehr, weil das meiner Neigung zu Rast- und Verantwortungslosigkeit zu Gute kommt.« Allerdings würde er genau so gerne Deutschland für eine Weile in Richtung Amerika verlassen. Casper erzählt davon wie es wäre, einfach mal ein halbes Jahr lang im Haus seines Vaters in Gulfport, einer kleinen Stadt am Meer im Bundesstaat Mississippi, zu leben oder ein billiges Haus im Randgebiet von Los Angeles anzumieten, dort zu wohnen und neue Musik nur noch per Internet nach Deutschland zu schicken. Selbstverständlich liegen solche Träume schon allein aus beruflichen Gründen zur Zeit noch in weiter Ferne. Es könnte jene Sehnsucht nach der Ferne sein, die Casper und den Folk zusammen bringt, vielleicht sind es aber auch, durch den Musikgeschmack seines Vaters bedingte, unterbewusste Heimatgefühle, die ihn beim Hören dieser sehr amerikanischen Musik ereilen. Wer weiß. Er kann das selbst nicht so genau erklären. Fest steht hingegen, dass »Hinterland« auf einer vierten, nicht unwichtigen Rezeptions-Ebene auch ein Album über die Liebe zur Musik ist. Das Casper Musik liebt, merkt man ihm in Interviews an, aber auch in den »Hinterland«-Texten kommt das Thema mehrfach zur Sprache. Besonders bemer-

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kenswert ist eine Aussage, die er auf »Ariel«, einem Song benannt nach einem mythischen Engel, der in der Bibel, genau so wie im epischen Gedicht»Paradise Lost« auftaucht, trifft. Casper sagt dort: »Trotzdem glaub ich fest, dass ein Text noch immer Leben retten kann.« Im Interview darauf angesprochen erzählt er aus der Zeit nach dem Auszug aus seinem Elternhaus: »Als ich nach Bielefeld gezogen bin, besaß ich nicht viel mehr als eine Matratze, einen Fernseher und einen Wasserkocher, der unten rum so disgusting abgekalkt hat. Damals dachte ich ernsthaft, ich könnte von  Euro im Monat leben – das war natürlich ein Irrglaube. Mir ging es so scheiße, dass ich mehrere Jobs annahm, um über die Runden zu kommen. Einer davon war in einem Plattenladen. Dort entdeckte ich ein Album namens 'Background Music' von American Nightmare. Und so kitschig das klingt: Diese Platte hat mir damals das Leben gerettet. Es gibt im Leben Momente, in denen verliert man jeden Halt und glaubt an gar nichts mehr. Nur die Songs, die du liebst, die begleiten dich weiter. Ich weiß, dass ich mir damit auch meinen Job schön rede, aber ich glaube wirklich, dass ein Song leben retten kann.« Es ist gut möglich, dass auch »Hinterland« eine jener Platten ist, die Menschen in schwierigen Phasen helfen kann. Die nötigen Qualitäten besitzt sie allemal. Das Album verbindet erneut eine persönliche Themenwahl mit allgemeingültigen Aussagen, in denen sich viele Menschen wiederfinden werden. Glücklicherweise funktioniert »Hinterland« jedoch nicht nur auf einer romantischen, emotionalen, sondern auch auf einer rein qualitativen Ebene ausgezeichnet. Man könnte sagen, Casper habe sich mit dieser Platte seine eigene, kleine Pa-

Text

Sasch a Eh lert

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rallelwelt à la »Beasts of the Southern Wild« geschaffen. Sie ist nah dran an der echten Welt, doch kleine, fantastische Elemente entkoppeln sie doch genug von der Realität, um lange zu fesseln. Casper ist zum zweiten Mal in Folge das erstaunliche Kunststück gelungen, eine Platte aufzunehmen, die sich auf neues Terrain wagt, nicht nur Vergangenes wiederholt und dennoch das Potential besitzt, sehr viele Menschen zu erreichen. Auch wenn Casper selbst das vermutlich bestreiten würde: Er hat einen sehr großen Einfluss auf den Musikgeschmack seiner Hörerschaft. Weil er in vielen seiner Songs mit Musik-historischen Zitaten spielt und zudem, in den sozialen Netzwerken, wie auch in Interviews, ständig euphorisch von seinen Lieblingsalben zwischen Südstaaten-Gangsta Rap und Mädchen-Pop spricht, prägt er auch den Musikgeschmack seiner Fans.Vermutlich haben viele von ihnen noch nie von Bands wie Rancid oder Songwritern wie Tom Waits gehört. Doch weil Casper, so nahbar wie er ist, seine Vorlieben mit seinen Hörern teilt, lernen sie sie kennen und damit, so absurd das klingt, erfüllt er im Vorbeigehen auch eine LehrerFunktion. Gut möglich, dass diese Fans von heute in ein paar Jahrzehnten auf ihre Jugend zurück blicken und erkennen, dass sie diesem Casper etwas Bleibendes zu verdanken haben. Damit hätte er sich dann tatsächlich ein klein wenig unsterblich gemacht. Auch wenn man merkt, dass ihm das etwas peinlich ist, gefällt ihm dieser Gedanke: »Ich finde es romantisch zu glauben, dass dein Schaffen dich unsterblich machen kann. Ich finde es gut zu wissen, dass es da etwas gibt, was mich überdauern wird. So lange es Menschen gibt, wird man Musik weiter überliefern. Vielleicht gibt es '' oder 'Hinterland' ja wirklich in  Jahren noch. Mir gefällt dieser Gedanke sehr.« Bis es soweit kommen kann wird jedoch noch einige Zeit ins Land gehen.

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DIE GOLDENEN ZITRONEN

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gespräch

sechs chefs und sechs praktikanten · Die Goldenen Zitronen ·

Die Goldenen Zitronen haben ein neues Album gemacht: »Who’s Bad«. Immer aktuell, kritisch und mit sensibler Beobachtungsgabe ausgestattet, hüllen sie ihren Zeitkommentar in ein musikalisches Gewand, das mit den Jahren immer offener und avantgardistischer geworden ist, zugleich aber den Groove an eine prominente Stelle setzt. Philipp Wulf und Hendrik Otremba von der Gruppe Messer haben sich mit Schorsch

Kamerun, Mense Reents und Ted Gaier im Büro der Plattenfirma Buback getroffen und über die oft nur zufällige Einheit von Form und Inhalt, über die Klarheit im politischen Lied und über Opportunismus in der Musikwelt gesprochen. Mit am Tisch: Ted Gaiers Sohn. Inspiriert von dessen Anwesenheit I n terv i ew H endr i k Otr em ba & Philipp Wulf

erzählt Schorsch Kamerun bevor es losgeht noch, wie ungern er zur Schule gegangen ist und dass er ihr nicht lange treu bleiben konnte. Damit beweist er gleichzeitig, dass man das System nicht braucht (allenfalls zur Abgrenzung), um eine gewisse Art von Erfolg zu erfahren. In den Kinderschuhen des Punk die ersten Gehversuche gemacht zu haben, war für die Goldies die weitaus bessere Schule.

gespräch

M

ENSE

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CHORSCH

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die goldenen zitronen

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Von eurem Schlagzeuger Stephan weiß ich, dass bei »Who’s Bad« die Musik vor den Texten entstanden ist. Inwieweit wird denn beim Schreiben der Musik bereits an den Text gedacht? Und auf welche Weise wird über das Verhältnis der musikalischen Form zum jeweiligen Inhalt nachgedacht? M Ich glaube: kaum. Eigentlich gar nicht. S Gar nicht. T Null. M Vielleicht in einem zweiten Step, wenn etwa zehn Improvisationen da sind. Dann sagt Ted ab und zu mal: »Ok, Mense, oder Schorsch, ihr findet das Stück vielleicht toll, aber wie soll ich da einen Text drauf machen?« Das ist vielleicht die einzige Einschränkung. Teds sohn Echt? Das sagst du? M Sonst würde mir da aber nichts einfallen. T Wir haben bei dieser Platte doch alles verwertet, was wir eingespielt haben, oder? M Ja, aber das ist ein Satz, der öfter von dir kommt: »Dieses Fragment hier, da ist es schwer einen Text drüber zu machen.« Aber zum Beispiel das Stück über die Katastrophe während der Loveparade , »Duisburg«, bei dem der Text ja auch von dir, Ted, stammt. Das erweckt schon den Eindruck, dass hier ein sehr enges, vielleicht konzeptuelleres Zusammenspiel von Text und Musik existiert. Gibt es keine Lieder, bei denen die Musik schon mit dem Hintergedanken an einen Text geschrieben wurde? T Nein, also ich glaube, bei Schorsch ist es anders. Aber meine Art zu Texten basiert ganz stark darauf, dass ich mir die Roughmixe und Tracks, die wir so haben, einfach wahnsinnig oft anhöre und dann versuche, den Text darauf zu schustern und Melodien zu suchen, wie zum Beispiel bei »Unter der Fuchtel des Unterbewussten«. Da dachten wir erst mal: »Wie soll man darauf singen?« Das hat ja eine Idee von Steve Reich und anderer Minimalmusik und ist in Clustern geschrieben, in drei Figuren, die sich verschieben. Eigentlich dachten wir, es sei ein Instrumentalstück, aber das wollten wir eigentlich nicht, deswegen sollte eben doch ein Text drauf. Und dann ging es um genaues Hören und dann merkte man, dass die Figuren eben doch Elemente beinhalten, aus denen man sich

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eine Melodie schnitzen kann. Genau wie bei »Der Investor«: Da folgt die Melodie der Zeile »Wir sind die genialen Dilettanten« genau der des Toy-Pianos, das wir vorher aufgenommen hatten. Und im Fall von »Duisburg« ist es eher andersherum: Das Stück wirkt von sich aus sehr fragmentarisch. Da hatte ich das Gefühl, es wäre für einen Sprechtext und eine Soundcollage geeignet, im Heiner Goebbels-Stil. Also eher aus der E-Musik kommend und mit Originaltönen arbeitend. Ich wette, dass aber auch alles andere möglich gewesen wäre! Das Vertrauen haben wir ja. Ja, aber es war der erste Text, bei dem ich drauf kam, dass der Sound eben auch ganz dicht stagnierend ist und da dachte ich, es käme dem Zustand nahe, kurz bevor man zerdrückt wird. So ähnlich muss der Zustand in diesen zehn Minuten im Tunnel gewesen sein. Hier gehen also Form und Inhalt vielleicht am Ehesten zusammen. Als ich von diesem Unglück gelesen habe, war ich nur vage informiert. Ich war gerade im Urlaub und das ist auch noch mein Geburtstag: der . Juli. Ähnlich wie auch schon bei der Platte davor mit dem Jörg Haider-Text, da dachte ich, das sei doch interessant, über aktuelle Ereignisse zu schreiben. Und das haben wir früher ja auch schon so gemacht, zum Beispiel bei »Das bisschen Totschlag« oder »Die Bürger von Hoyerswerda«: Das Verfahren sieht so aus: So viele Informationen wie möglich sammeln und dann daraus so etwas wie eine Polemik oder eine Erzählung entwickeln. Das Stück »Duisburg« fällt zudem ja ziemlich merkwürdig auseinander und erfüllt überhaupt gar keine Kriterien von Popmusik. Entsprechend groß ist die Freiheit im Umgang mit den zusätzlichen Einspielungen: dem Off-Gespreche, die Art, wie Schorsch noch etwas darunter singt … Die Musik ist aber gleichzeitig eine Momentaufnahme. Wir haben sehr viel geschichtet und eigentlich war es dann nur ein zufälliger Roughmix, zu dem man noch - weitere aufgenommene Spuren hätte mischen können. Aber an einem Punkt haben wir eben einen Mixdown gemacht. Ein halbes Jahr später haben wir uns dann wiedergetroffen und Ted hatte die ganze Zeit diesen einen Mix gehört. Der musste dann auch ungefähr so bleiben und es konnte nicht mehr viel geändert werden. Man braucht natürlich auch ein Vertrauen darin, dass so etwas überhaupt möglich ist, auch zur Musik, die wir ja tatsächlich kollektiv entstehen lassen. Und dann muss man es auch erstmal schafften, darauf später noch einen Text zu schreiben, der dann auch noch zu einem Song werden muss. Das gibt es ja auch: Wir haben auf dieser Platte durchaus auch Songs geschaffen. In den musikalischen Vorlagen waren die zum Teil zunächst noch


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gar nicht vorhanden. Das ist natürlich auch etwas, das wir mit der Zeit gelernt haben. Das war, als wir eine Musik brauchten, auf die ein längerer Text passt. Zum Beispiel, Ted hat es gerade schon angedeutet, als wir die »Das bisschen Totschlag«Platte gemacht haben: Da haben wir kapiert, dass sloganhafte Rock’n’Roll-Songs nicht mehr reichen. Wir brauchten längere, differentere Texte und dazu auch eine andere Art von Musik. Das konnten dann Loops oder etwas Clusterhaftes sein. Anstatt darüber dann zu rappen, das ist ja gar nicht unserere Methode, haben wir aber eine Form von Sprechgesang entwickelt. Ich sage das jetzt mal so: Sprechgesang geht immer! Aber wenn du eine Melodie haben willst, dann wird es schwieriger. Bei »Der Investor« ist da eine, die sich aus der Musik heraus anbietet. Grundsätzlich habe ich aber mittlerweile schon das Vertrauen, vielleicht auch, weil ich im Theater so etwas eh schon machen muss, also mit einer bestimmten Art von Text noch eine Musikalität zu erreichen. Es ist schon so: Irgendwann kann man auch über eine Bohrmaschine einen Text singen. Es sind ja auch Methoden, die gar nicht so liedhaft sind, manchmal berührt es beispielsweisen Methoden vom Kunstlied, da gibt es Verwandtschaften. Ich finde, bei deiner Art zu singen, wird es dann einfach irgendwann zum Lied. Ja, unbedingt, unbedingt! Also, zum Beispiel bei »Scheinwerfer und Lautsprecher«, da hat man ja gar nicht das Gefühl, dass es kein Lied sei. Aber dennoch ist es erst mal nur ein Text, der draufgesprochen wird. Bei einigen Stücken wirkt das so, finde ich. Das sind jetzt nur zwei Beispiele, bei denen man hinterher, wenn man sie covern möchte, sich fragt, wie man das denn nachmachen soll. Wo ist da die Melodie oder was ist das für ein Rap?

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man in irgendeiner Weise rhythmisieren oder collagieren muss. Das erfordert in der Anwendung bestimmte Methoden, die dann eben auch gut oder schlecht umgesetzt werden können. Trotzdem: Wir haben schon eine gewisse Theatralik, aber ich glaube, man hört uns jetzt nicht unbedingt an, dass wir mit dem Theater mehr zu tun haben als andere Leute. Die musikalischen Bezüge stehen letztlich doch im Vordergrund. Ich halte mich dann doch im weitesten Sinne für einen Rocksänger. Irgendwie sind wir dann doch eine Rockband. Das hatte ich mich auch gefragt, da ihr ja so viele verschiedene Dinge tut: ob ihr euch noch vorrangig als Rockmusiker seht. Was ist da euer Selbstverständnis? Oder steckt sowieso in all eurem Tun eine goldene Zitrone? Prägt das euer gesamtes Schaffen und ist die Zugehörigkeit zu den Goldies das Vorherrschende in eurem Leben? S Das Vorherrschende? Das kann ich so nicht sagen. Ich glaube, die Überlegungen einen uns: Wie man sich einen Transporter baut, um Text und Inhalt zu vermitteln und welche Haltungen es gibt. Wir hören auch einfach ähnliche Musik: Eben so Sachen, wo bestimmte Dinge ausprobiert wurden und die experimentell sind. Man kann natürlich Cage sagen oder die moderne Klassik nennen. Ich finde aber auch das neue Kanye West-Album wirklich super. Also rein, wie das musikalisch als ein never-ending Stück aufgeführt wird, finde ich beeindruckend. Ich mochte auch The Streets. Es gibt auch populäre Dinge, die mir gefallen. Ich glaube, wir fischen uns so eine bestimmte Haltung raus und bei der sind wir uns einig. Das ist wahrscheinlich wichtig, wenn wir anfangen eine neue Platte zu machen, wenn wir gemeinsam im Raum stehen.

Damit hast du jetzt gemeinsame musikalische Bezugspunkte genannt. Ihr werdet immer häufiger als Kollektiv bezeichnet – ihr seid zu sechst in der Band ... Das charakterisiert euch vielleicht auch am Stärksten: dieses Zusam- S Sechs Chefs! menspiel. T Ja, das ist natürlich auch eine Erfahrung, an der man zusam- Sechs Chefs sogar? Das stelle ich mir anstrengend vor. men gearbeitet hat. Schorsch ist auch fast der einzige, der das S Och, ich weiß nicht. Wenn es sechs Chefs gibt, gibt es ja auch so kann. Es gibt keine anderen deutschen Sänger, die das so sechs Befehlsempfänger! beherrschen. T Sechs Praktikanten! S Das ist eben Praxis. Und da war dann dieses Theater auch gar S Ja genau. »Mach mal Kaffee, Chef!« nicht so verkehrt. Weil da Leute eben auch zusehen müssen, (Alle lachen) wenn sie einen Text in die Hand gedrückt bekommen: »Jetzt mach mal!« Und wenn man dann auch keine Figur hat – man- Mich interessiert aber, ob bei euren Texten, die ja zum Teil sehr konches Theater ist eben nicht figürlich – gibt es da dann zum Teil kret sind oder zumindest Positionen erfordern, immer auch ein Konauch Textcollagen oder Textstrecken aus Einzelwörtern, die sens herrscht. Also werden Texte im Proberaum herumgereicht und

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diskutiert? Oder singt bisweilen der eine Chef dann auch einfach für die anderen Chefs mit? S Es gibt Aufteilungen, das kann man schon so sagen. Die Texte stammen fast immer von Ted und von mir, aber es darf auch Emporkömmlinge geben (schmunzelt). Wir diskutieren aber schon über die Texte. Nicht unbedingt komplett, weil wir einen Schlagzeuger haben, der in Fürth lebt und dort auch noch ein anderes Leben führt. Unsere Leben sind ja sowieso nicht deckungsgleich. Das hat immer damit zu tun, wo man gerade so drinsteckt und was einen so umtreibt. Aber letztendlich vertreten wir natürlich gemeinsam, was auf die Platte kommt. Es scheint mir, als gäbe es dabei kein starres Feindbild mehr. Die Kritik wird feingliedriger in dem Sinne, dass man das Gefühl hat, dass ihr mehr über eure Nachbarschaft, eure Umgebung und auch den Kulturbetrieb berichtet. Gerade da schließt sich auch die Frage an, was dann eigentlich Kritik ist und was eine Zustandsbeschreibung? S Wir leben natürlich in einer komplexeren Welt und darauf muss man reagieren. Auf dieser Platte ist, glaube ich, alles drauf: An allererster Stelle eine große Direktheit, zum Beispiel in den Gentrifizierungsthemen, dann aber auch die Hochkomplexität des Subjekts, die Vermarktung des Selbst und was daraus erfolgt, oder auch die Suche nach einem Wir, was das heute sein kann und wie man es zusammen bekommt. Findet es zum Beispiel in der Vernetzung statt? Und welche Vernetzung ist damit gemeint? Dass wir uns nachmittags auf dem Platz treffen? Oder meinen wir eine globalisierte Vernetzung? Auf all diese Dinge müssen auch wir reagieren und das probieren wir. Deswegen lässt es sich gar nicht so recht trennen voneinander. T Natürlich gibt es Feindbilder und natürlich spielt Abgrenzung bei uns eine Rolle. Wir kommen vielleicht auch aus einer Generation, in der Abgrenzung ein identitäres Merkmal ist. Aber ehrlich gesagt geht es mir eigentlich schon immer eher um die Beschreibung von Zuständen. Das man dabei aber auch nicht mit Polemiken hinterm Berg hält, zum Beispiel, dass man Deutschland zum Kotzen findet, das ist ja klar! Oder wer die Schuldigen sind in Duisburg ... S Aber auch schon als ein aufgeladener Begriff, ne? T Ja, schon. Nur haben wir uns diese komplizierteren Methoden zu texten angeeignet oder erfunden, als wir es für notwendig hielten, politische Texte zu schreiben, also um den Mauerfall herum. Vorher erschien es uns gar nicht nötig, weil wir uns in einem geschützten Umfeld befanden, in dem ein bestimmter Konsens eh klar war. Da musste man nicht erst noch gegen die Bullen singen, das wusste eh jeder. Also ab da haben wir dann

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eine Methode erarbeitet, die im Grunde schon reflektiert hat: Wie kann ein politischer Song aussehen, der auch Sinn macht, der nicht nur eine Emotion bedient oder anheizt, sondern wie kann er auch im Brechtschen Sinne agitieren oder aufklären, Strukturen freilegen oder vielleicht auch nur auf eine differenziertere Art den eigenen Hass oder Unwillen formulieren? So kamen wir eigentlich zu dieser komischen Art von Texten. Unsere Arbeitsweise, zuerst die Musik zu machen, geht auch deswegen gut damit zusammen und unterscheidet uns ab da sehr von anderen Bands. Ohne zu viel Eigenlob üben zu wollen, aber das macht ja niemand sonst. Ich kann verstehen, wenn Leute sagen: »Ihr nervt mich! Muss das immer dieses NäähNääh sein?« Aber ja: Wir wissen halt nicht, wie es anders geht. Ich glaube auch, dass man sich solche Fragen überhaupt erst mit dem Wachsen der Öffentlichkeit stellt: erst im Gefühl, überhaupt gehört zu werden. S Das stimmt! Es gibt dann ja auch eine Beschreibung oder eine Reflexion auf das, was du da so treibst und die kann einen ja auch überraschen und darauf reagiert man dann ja auch bis zu einem gewissen Grad. Wir sind jetzt nicht die Band, die sich überlegt, was ihre Zielgruppe ist, um daraufhin ihre Kunst auszurichten. Aber ich glaube schon, dass es das gibt. Wir sind nichtsdestotrotz Leute, die sich auch für andere Methoden interessieren, die vielleicht künstlerische sind, aber auch ganz strategische. Da kommt man dann auch nochmal zu einer anderen Art von Texten: Was ist eine Collage, die dann trotzdem einen deutlichen Begriff beschreiben kann, ohne befindlich zu werden? Da kann man alles Mögliche ausprobieren. Wir können zum Beispiel auch dieses Interview hier zerschneiden, wenn es dann aufgeschrieben ist, und einen Text daraus machen. Das ist eine Methode! Cut-up! S Ich habe gerade für ein Theaterstück unendlich viele Interviews geführt und dann, um das Thema zu verdichten, das zusammengeschnitten – auch um die Autorenschaft ein bisschen vielstimmiger zu machen. Dieses Verfahren erkennt man auch in den Texten: Es hat oft den Anschein, als gäbe es mehrere Sprecher, mehrere Anführungszeichen in den Absätzen. S Ja, bei einigen Texten, bei manchen auch nicht, da kommen sie sozusagen aus demselben Inhaltsstamm oder aus demselben Beschreibungsstamm. Aber ja, das gibt es und dann fragt


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man sich: Was hat das Eine jetzt mit dem Anderen zu tun? Zum fühlt. Auch wenn das natürlich eine sehr narzisstische Sicht ist, Beispiel bei diesem »Mila«-Lied, das schon ein bisschen älter ist, sich dann auch gleich so persönlich angesprochen zu fühlen. wo man durch ein Tal gelebter Emotion geht. Aber vielleicht ist »Mila« auch ein politisches Lied?! Es ist ja immer die Fra- Vielleicht ist seine Tochter ja auch Goldies-Fan? ge: Erkennt man es schon im ersten Wort? Das finde ich dann T Ja, ich dachte auch, vielleicht nervt ihn das im Besonderen, auch sehr interessant. weil seine Tochter das auch noch cool findet. Das könnte ja sein. Aber wir haben uns eben überlegt: Wir wollen keine simWenn manche Stücke gar nicht so klar als politische identifiziert werden plen Parolen, die dann nachgesungen werden, wir wollen eben können und ihr eben auch bewusst nicht zielgruppenorientiert denkt, nicht dieses unhinterfragte Punk-Emotionsding, also nicht das inwieweit ist dann die Wirkung eurer Musik Gegenstand von ÜberSlime-Ding, wir wollen damit anders und differenzierter umlegungen? Es wird dann ja immer diese Wendung vom »preaching to gehen. Deswegen sind wir dem ja auch eigentlich immer aus the converted« herausgeholt. Denkt ihr die mit oder ist letztlich euer dem Weg gegangen, Bewegungssongs zu machen. Trotzdem ist künstlerischer Ausdruck und die Methodik wichtiger? es natürlich toll, wenn du auf einer Demo bist und dein Song  Ich glaube, wir denken das schon mit. Das macht wahrscheinläuft da und der formuliert was, das ... lich jeder auf eine Art. Wir gleichen das natürlich auch mit T ... formuliert was musikalisch, das ein Diskussionsbeitrag oder unserer Geschichte ab und fragen uns: Was haben wir schon ein Redebeitrag ist. »Der Investor« zum Beispiel lief auch schon gemacht? Was wollen wir machen? Bräuchte es mal wieder so auf einer Demo. Das macht super Spaß! Brüllend laut mit  etwas? Außerdem wollen wir auch nicht versagen. Weißt du, Leuten, das ist doch super! was ich meine? M Wie findet ihr eigentlich das Stück »Unter der Fuchtel des Unterbewussten«? Weil, da haben wir jetzt stundenlang nicht drüRelevanz einbüßen? ber geredet. Kein Mensch fühlt sich irgendwie angesprochen  Ja, wir erwarten ja auch, dass das vermittelt wird, was wir da von dem Stück. Ich finde das eigentlich recht ungewöhnlich: probieren. ein Text über Psychoanalyse. Mit der Musik zusammen scheint  Also, ich habe nicht das Gefühl, mir die Frage stellen zu müssen, es niemanden anzusprechen. wer meine Zielgruppe ist, weil die Diskussionszusammenhän- S Es stimmt einfach. ge, die Quellen, aus denen ich die Themen hole, ja bestehen. Ich bilde ja sozusagen auch Diskurse ab, in denen ich mich be- Das Stück spricht mich an, aber ich habe mich nicht in dem Sinne finde. Insofern bin ich mir relativ sicher, dass das relevant ist, daran gestoßen, als dass ich es hier gesondert besprechen wollen würde. weil ich weiß, dass das Themen sind, die in meinem Umfeld Das können wir natürlich trotzdem gerne tun ... oder meinem erweiterten Umfeld diskutiert werden. Auf die- M Aber es ist doch ungewöhnliche Musik – und dann noch mit ser Platte haben wir zum ersten Mal seit Längerem wieder das dem Text dazu! Ich dachte, das ist was ganz Besonderes! Gefühl, dass es Sinn machen würde, Songs zu schreiben, die S Vielleicht ist das einfach schon geklärt damit? auch als Tool für eine Bewegung funktionieren können. Das T Ich glaube, das ist Betroffenheit. Das geht zu tief! gilt zum Beispiel für den »Echohäuser«-Song, der von Thomas S Das glaube ich überhaupt nicht. Null! Aber es gibt darin keine (Wenzel, Gitarrist, Anm. d. Red.) gemacht wurde, der sogar wirklichen Fragen. eigentlich weiter raus ist aus der Bewegung. Mittlerweile wur- T Ja. de dieser Reggaesong schon so tierisch oft angeklickt, dass sich der Investor, der »Bayerische Hausbau«, bereits beschwert hat, Ich kenne mich leider mit Psychoanalyse so gar nicht aus. dass er diffamiert wird. M Ich auch nicht. Tatsächlich?  Ja, das war sehr lustig. Er wusste nicht, wie er seiner netzaffinen Tochter das erklären soll, dass er da als »Fratze des Teufels« und als »Babylonier« tituliert wird. (lacht) Das ist ja genau die Idee von einem Spottlied: dass sich genau der dann auch verspottet

Vielleicht fällt bei mir deshalb das Stück nicht gerade mit der Tür ins Haus. S Ich finde ja, dass das genau richtig ist, diese Beschreibung von Psychoanalyse. Nur die Anwendung fehlt mir so ein bisschen. Aber ist ja Wurscht!


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Du hast dich auch schon mal als Hobbyneurologe bezeichnet, oder? S Ja eben, ja! Was genau ist das für eine Auseinandersetzung, die du da privat pflegst? S In diesem Fall geht es darum, einen Baukasten davon auszustellen, was alles in der Psychoanalyse vorkommen kann ... M Zu einer neurotischen Musik! S Zu einer neurotischen Musik meinetwegen. T Die Idee war ein bisschen die eines F.S.K.-Textes. Eine Methode von Meinecke ist ja – und das ist sehr interessant – etwas wie in einem Lexikon runterzubeten, um dann zu gucken, was das mit einem macht. Ich habe mich dann mit dem Lexikon der Psychologie von  auseinandergesetzt, das ich von meinem verstorbenen Vater geerbt habe. Man merkt dann ganz schnell, dass das alles natürlich ganz viel mit einem selber zu tun hat: die ganzen Kränkungen und so weiter. Und dann kommt es zum einen so konzeptkunstmäßig – das ist ja auch die Assoziation zu dem Song, der ja Steve Reich-mäßig gedacht ist, also eher so klassische Moderne, Minimal und so – also ganz ohne Einfühlung die ganzen Stichworte einfach mal so hinschmeißen und dann gucken, was das mit einem macht. Das ist eine klassisch moderne Collagetechnik ... S Klar, die stimmt ja auch! T ... die sich dann sozusagen historisch da verortet, wo die Musik auch ist, nämlich im klassischen Psychoanalysediskurs. S Eben! Genau! T Das ist nicht der postmoderne Psychoanalysediskurs! S Und ich stecke eben in dem Postmodernen drin. Das ist nun mal so! Das hat vielleicht auch was mit einer anderen Sozialisierung zu tun, da eine Depression anders abzuleiten, die in einer anderen Störung stattfindet. Und wie man selber darauf reagiert und damit den Kampf aufnimmt und irgendwann merkt: den kannst du nicht gewinnen, und dadurch gerätst du in einen Erschöpfungszustand angesichts der Flexibilität, die wir heute alle leisten müssen. Das ist dann deswegen kein unbedingtes Update, denn diese Beschreibung stimmt trotzdem. Aber ich habe dann ein paar mehr heutigere Reizwörter drin. Ob das dann besser oder schlechter ist, ist völlig Wurscht. Ich komm an das »Psycho« anders ran, nicht ganz so freudianisch vielleicht. Den Song hören wir uns jetzt nochmal neu an. (Alle lachen)  Und denkt mal nach, was das mit euch zu tun hat! Denkt mal schön darüber nach. (Alle lachen noch lauter!)

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Das ist toll: Ihr habt schon ganz viel gesagt, das wir jetzt nicht mehr fragen müssen. Aber eine Sache interessiert mich dann doch noch, das führt uns jetzt nur von der Psychoanalyse wieder weg ... T Ja, gerne! Ich habe euren Pressetext sehr gerne gelesen, den Jochen Distelmeyer geschrieben hat ... T Woher wisst ihr das eigentlich, dass Jochen Distelmeyer den geschrieben hat? Das ist doch ein offenes Geheimnis, oder? S Vielleicht war das der »Promoter«? M Das stand auch auf der Spex-Seite. Sollte das keiner wissen? S Nee, nicht ganz so. Das wollten wir eigentlich nicht sagen. M Jochen wollte das selber so. T Der Text sollte ja nur der Platte dienen. S Mal so ausgedrückt: Er wollte seinen Namen nicht drunter schreiben. Aber es war okay, dass wir das verraten. T Mit Sancho hat er eben die Komplizenschaft zu Don Quijote ausgedrückt. (Anm.: Die Band-Info ist mit »Sancho« unterschrieben) S Genau, er wollte die Figur erhalten. Aber da ist Jochen Distelmeyer dann als Person ja doch wieder drin. Ich hatte das Gefühl, dass diese Unterschrift eine Form von Selbstironie ist: sich mit dem opportunistischen, berechnenden Weggefährten Don Quijotes zu identifizieren, der aus der Logik des Textes heraus die Goldies sind. (Ted lacht.) Wie wichtig ist das für eine Band, klare Grenzen zu ziehen? Also sich von bestimmten Dingen, anderen Bands, Institutionen oder Werbepartnern fernzuhalten, um vielleicht auch kredibil zu bleiben? Ist das so eine Kategorie, die wichtig ist? Es gab von Andreas Spechtl mal die schöne Aussage, er wolle die Situation gar nicht zulassen, in der er herausfinden könnte, ob der Gitarrist von Jennifer Rostock nett sei. T Geht mir genauso! Aber wir haben uns eh schon über all die Jahre so weit aus dem Fenster gelehnt. S Der ist eh nett. Hundert pro! T Ja, nett ist ja die Vorstufe von dumm. (Alle lachen.) Aber bei uns kommen eh keine Anfragen mehr. Das ging Jahrzehnte-

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lang fast, dass noch Majors oder Sponsoren angeklopft haben, aber das haben wir uns jetzt halt vergeigt und die Brücke in die Zukunft abgebrochen. Die Versuchung gibt es jetzt nicht mehr. Kredibilität künstlich herzustellen, ist ja auch fast nicht möglich. Das kann man probieren, …

... und man beobachtet häufig ein Scheitern, wenn es versucht wird! S Ja, irgendwie schon, ne? M Wir verbringen jetzt nicht Stunden damit, uns von Jennifer Rostock abzugrenzen. Das ist ja auch überflüssige Zeit. Da kann man andere Sachen machen. Das ist ja Quatsch eigentlich. S Das passiert ja auch von alleine. Es ist ja auch so ein bisschen die Frage, ob wir mit unseren Talenten überhaupt dafür geeignet gewesen wären, uns da höher aufzuschwingen und irgendwie nutzbarer zu sein für wie-auch-immer-man-diese-Kanäle-nennt. Unsere erste Anfrage kam damals tatsächlich von diesem Tim Renner, der später ja auch großer Universal-Chef wurde. Damals hieß das noch Motor ... T Nein, Polydor! S Polydor! Genau, und man kannte sich ja auch schon und er hatte bereits ein paar andere Sachen rausgebracht, so Phillip Boa und solche Geschichten – »Indie« –, aber eben auf einem Major. Der erste Brief ging so: »Wir wollen das alles mit euch gemeinsam aufbauen auf fünf Platten hin.« Das muss man sich mal vorstellen! Das ist ein Wahnsinn, wenn wir damals für fünf Platten unterschrieben hätten, wenn man mal guckt, was in diesen fünf Platten bei uns passiert ist. Was ein Quatsch! Und da tauchen dann natürlich auch solche Imagebeschreibungen auf: warum man so eine Band gut findet und so weiter. Was für ein alberner Blödsinn! Wir hätten wahrscheinlich auch nicht getaugt für die Kampagnen von fünf Platten. Wir hätten für die Remixe nicht getaugt. Und für die ganze weitere Ausschöpfung. Ich glaube, wir hätten es dann eben doch nicht ... T ... gekonnt! S Ja, irgendwie nicht. Dafür können wir das hier ja halbwegs. (Ted lacht.) Ja! Was wir euch vorher nicht gesagt haben: Wir finden die Platte richtig gut! Man bedankt sich, nickt sich zu. Auf Wiedersehen!


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die letzte große liebe · S pazi ergang mit Dagobert ·

Bestimmt haben Sie schon einmal die Geschichte von Dagobert Jäger gehört. Und bestimmt glauben sie sie nicht. Sie klingt zu fantastisch, fantastisch in jedem Sinn des Wortes. Wenn einem jemand die Geschichte erzählt, wie ein junger Schweizer fünf Jahre lang in Isolation lebte, um Lieder für seine große Liebe zu schreiben, dann fühlen wir uns beschwindelt. Wir sind ein so fester Bestandteil unserer pseudoaufgeklärten Gesellschaft, dass wir großen Geschichten nicht mehr glauben können. Wir haben Angst naiv zu sein, machen uns deshalb groß und stellen ihr Licht in den Schatten. Sie passt nicht ins Bild, also ist sie nicht wahr. Vielleicht bin ich nur so kämpferisch, weil ich mich selbst ein wenig beim Zweifeln ertappt habe. Bis ich das erste mal mit Dagobert sprach.

Text

Max Lessmann

Dagobert


Dagobert

Wenn man also Dagoberts Geschichte hört, dann möchte man sie gar nicht glauben. Das kann man gar nicht mehr. Außer Dagobert erzählt sie selbst. Denn er erzählt sie leise und bedacht, offen und ausführlich und weit entfernt von den reißerischen Floskeln mit denen seine Geschichte in der Öffentlichkeit zusammengefasst wurde. Darum musste ich ihn wieder treffen, um mit ihm über all das zu sprechen, was da so über ihn geschrieben wurde, bis jetzt. Und noch ein bisschen mehr.

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Wind Of Change

» Ich war ein halbes Jahr nur besoffe n

Morgens um halb Sechs Ich wache auf, eine halbe Minute bevor mein Wecker klingelt. Um Sechs Uhr in der Früh habe ich mich mit Dagobert am Rosenthaler Platz verabredet. Wir werden spazieren gehen, etwa sechs Stunden Zeit haben wir dafür, dann hat Dagobert einen wichtigen Termin und ich muss zurück nach Hamburg, an die Elbe. Ich trete auf die Straße, kein Mensch begegnet mir. Der Erste, den ich treffe, ist ein Busfahrer. Die ersten Vielen sitzen neben, vor und hinter mir in der dicken gelben Raupe, die sich schnell durch den Untergrund der Stadt gräbt, um hier und da ein Paar Bürger an die Oberfläche zu spucken. Ich steige aus, steige die Treppe hinauf und sehe Dagobert, wie er um eine Ecke biegt. Wie begrüßen uns freudig, Dagobert nimmt einen Kaugummi und bietet mir die Schachtel an. »Das ist die lästigste Eigenschaft des Menschen. Dass er morgens aus dem Mund riecht,« lacht er. Ich lache mit. Eine kleine Weisheit und einen Kaugummi reicher mache ich mich mit ihm auf den Weg. Wo es hin geht, wissen wir beide nicht, wir laufen einfach mal los, finde ich. Dagobert findet das gut.

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Als ich erzähle, dass ich nur drei Stunden geschlafen habe, erinnert sich Dagobert an seine Schulzeit. Damals hätte er viel mit Schlaf experimentiert, sagt er. Anfangs hätte er sich den Wecker gestellt und wäre nachts im Wald spazieren gegangen. Das wäre aber insgesamt eher eine Enttäuschung gewesen. »Man stellt sich das toll vor, aber eigentlich habe ich mich nur gegruselt,« erklärt Dagobert. Erzählt habe er davon damals niemandem. Schließlich hätte er diese Spaziergänge wieder gelassen. Was blieb, war das Gefühl, viel zu viel zu schlafen. In der zehnten Klasse nahm Dagobert sich also vor, jede Nacht nur  Stunden im Bett zu verbringen. Wenn es ihm einmal nicht gelang zog er sich die zusätzlich verschlafene Zeit in der nächsten Nacht ab. Irgendwann gelang ihm das dann ganz gut und nach einem Monat war er schlussendlich völlig fertig. »Also war das Experiment kein Erfolg«, frage ich. »Doch«, sagt er und lächelt. Dafür, das Dagobert eigentlich schon eingangs sagte, er würde sich nur ungern mit Erinnerung belasten, weiß er noch viel aus seiner Schulzeit zu erzählen. Am liebsten berichtet er davon, wie er sich in die Musik verliebte. Als er nämlich acht Jahre alt war, schenkte ihm sein älterer Bruder das Album »Crazy World« von den Scorpions. »Da wusste ich, Musik ist eigentlich das Geilste, was es gibt. Das will ich auch machen.« So gründete er mit einigen Klassenkameraden die Band »The Canibals«. »Ich wusste nicht, dass die Scorpions von Frieden singen, das war so harte Musik. Also schrieb ich ganz brutale Texte. So in etwa: ‚Ich bring dich um und fress dich auf‘. Die übersetzte ich dann Schritt für Schritt mit dem Wörterbuch in der Hand. Und unser Sänger, der auch kein Englisch konnte, der sang das dann.« Er selbst war

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damals der Schlagzeuger der Band gewesen. Irgendwann aber wurden für seine Bandkollegen Videospiele wichtiger als die Musik und die Canibals lösten sich auf. Dann kam plötzlich eine Zeit, in der die Scorpions schrecklich uncool wurden und Dagobert sein Lieblingsalbum nur noch heimlich hören konnte. In dieser Zeit begann er sich für klassische Musik zu interessieren und am ersten Computer seiner Eltern mit einem spartanischen Musikprogramm und Midikeyboard Symphonien zu schreiben. Das war zwar auch nicht cool, aber immer noch besser als die Scorpions. Im Verborgenen hielt er ihnen jedoch weiter die Treue, bis heute. »Blackout«, sein Lieblingssalbum der Band, hört Dagobert immer noch fast jeden Tag. Und dann war die Schulzeit irgendwann endlich durchgestanden. Das kann man so sagen, schließlich hatte Dagobert während der Schulzeit einen herben Verlust zu beklagen. »Ich habe keine Fantasie«, sagt er, »die habe ich damals verloren.« Früher hätte er viel geschrieben, schon als Kind habe er sich fantastische Geschichten ausgedacht. Neben der Musik hatte Dagobert immer davon geträumt ein mal Schriftsteller zu werden. Das jedoch hätte man ihm in der Schule durch theoretische Herangehensweise und den Versuch, ihm Scheuklappen anzuerziehen, gründlich ausgetrieben. Heute könnte er nicht einmal mehr Romane lesen. »Da steht dann: ‚Er geht die Straße entlang.‘ Aber ich denke mir: Nein, das stimmt gar nicht. Und dann lese ich nicht weiter,« erklärt Dagobert. Comics lese er aber noch immer sehr gerne. Am liebsten, und auch das ist kein Witz, Lustige Taschenbücher. Mit dem Gefühl, er habe in seiner Schulzeit vielleicht mehr verloren als gewonnen, entschied sich Dagobert gegen

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ein Studium und beschloss anstatt dessen einfach nichts zu tun. Er zog in den Proberaum einer befreundeten Band, in dem er schließlich zwei Jahre lang lebte. Einmal in der Woche konnte er bei seinem Bruder essen, ansonsten hielt er sich mehr schlecht als recht über Wasser. Doch auch wer nichts tut und nichts hat, hat doch eines: Zeit. Und so begann Dagobert sich von Neuem an den herumstehenden Instrumenten auszuprobieren. Denn: »Nichts tun bringt ja auch nichts«, wie er sagt. Am Anfang ging das alles recht mühsam. Wenn es ihm endlich mal gelang, einen wohlklingenden Akkord zu spielen, dann wiederholte er ihn oft in einer nie enden wollenden Schleife. Seine eigene Schleife zwischen Hunger und Musik brach schließlich auf, als er von einem Freund den Tipp bekam, sich bei einem Schweizer Kulturförderwettbewerb anzumelden. Dagobert schickte fünf unfertige Lieder ein, die nach eigener Aussage »Alle ziemlich scheiße« waren und gewann den ersten Preis: Ein halbes Jahr alles inklusive in einer Künstlerwohnung in Berlin und ein Fördergeld von .  Schweizer Franken. »Das war gut«, sagt Dagobert, »ich war ein halbes Jahr nur besoffen. Das war eine tolle Zeit!« Der junge Dagobert ging in den Nächten Berlins ganz auf. Früher wäre er eigentlich nie Feiern gewesen, sagt er. Er habe nicht eingesehen die Menschen, mit denen man doch schon die ganze Woche in der Schule verbracht hat, nachts schon wieder zu sehen. Jetzt war das plötzlich ganz anders und eine Weile gefiel ihm das auch sehr gut. Zu dieser Zeit lernte Dagobert auch die Frau kennen, von der sein erstes Album und ein Großteil seiner weiteren Lieder handeln. Er hatte sich gleich verliebt, für sie kam er jedoch nie in Frage, das gab sie ihm gleich zu verstehen.

... das wa r e i ne tol l e Z e it «


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Noch am Tag vor seinem Abschied aus Berlin hatte er sie getroffen. Über dieses letzte Treffen hat Dagobert ein Lied geschrieben, es heißt: »Ich mag deine Freunde nicht«. Pan i x P r äs i d en t

Der Künstler und seine Couch. Dagobert macht ein Nickerchen.

Nach einem halben Jahr also verließ Dagobert Berlin. Von Förderungen und Stipendien wollte er nichts mehr wissen. Es war ihm peinlich, dass der Steuerzahler »Leute wie ihn« finanzierte. Er beschloss für einige Monate nach Panix in das Haus eines verstorbenen Verwandten zu fahren und dieses mal richtig Musik zu machen. Er packte Habe und Heimequipment zusammen und fuhr in die winzige Schweizer Gemeinde in den Bergen. In das Haus, in dem er die nächsten fünf Jahre verbringen sollte. Dort angekommen, fing Dagobert an Lieder zu schreiben. Immer erst die Musik und dann die Texte. Texte über eine Frau aus Berlin. »Ich kann nur Liebeslieder schreiben. Etwas anderes fällt mir nicht ein.« Diese Liebeslieder verschickte er per Post, erhielt darauf aber nie eine Antwort. Wenn er den kilometerlangen Weg zur nächsten Telefonzelle zurückgelegt hatte, ging sie nicht ans Telefon. Trotzdem handelt Dagoberts erstes Album und ein erheblicher Teil seiner weiteren Lieder ausschließlich von ihr. Die ersten dreieinhalb Jahre in Panix befand sich Dagobert in einem einseitigen, musikalischen Zwiegespräch mit der großen Liebe, die nicht seine werden wollte. Auch außerhalb der Musik. »In der Einsamkeit kommt irgendwann der Punkt, an dem die Selbstgespräche anfangen.« Komischerweise hätte er die immer auf Englisch geführt, er wisse selbst nicht so recht warum. Warum schreibt jemand dreieinhalb Jahre lang für einen Menschen der nicht antwortet? »Es war

» Ich k a nn n ur Li eb esl i ed e r s chre ib e n . E twa s a n d e res fäl l t mi r ni cht ein. «

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ja auch sonst keiner da«, sagt Dagobert. Trotz der Abweisung scheint Dagobert dieser Frau heute noch ein wenig dankbar zu sein für all die Inspiration. Oder aber er versucht sich an einer Wiedergutmachung. Jedenfalls hat er ihr  Prozent an allen Liedern versprochen, die er über sie geschrieben hat. »Das ist doch völlig selbstverständlich«, sagt er. Zwischen den Phasen von Kreativität und wirklichem Glück kamen Dagobert immer wieder auch Zweifel. Er wusste, dass er nicht ewig in Panix bleiben konnte. Er beschloss nach Afrika zu gehen. »Da ist es warm«, erklärt er mir, »da braucht man kein Haus«. Allerdings müsse man sich auch darauf einstellen für lange Zeit weder Wasser noch Nahrung zu bekommen. Also begann Dagobert mit neuen Selbstversuchen. Er ging in die Wälder und lebte dort einige Tage, deckte sich mit Plastiktüten zu und trank aus Bächen. Er entzog sich selbst Wasser und Nahrung. Drei Mal schaffte er es für jeweils eine Woche weder zu essen noch zu trinken. »Nach etwa fünf Tagen gibt es zwei Stimmen in deinem Kopf. Die eine sagt dir, dass du trinken musst, wenn du nicht sterben willst. Die zweite sagt dir, dass das nicht stimmt. Du lebst doch noch. Das glaubst du nur, weil man es dir so beigebracht hat.« Beim dritten Mal trank er nach einer Woche etwas Wasser und hängte dann eine weitere dran. Das schlimmste daran wäre die Zeit danach gewesen. In kürzester Zeit hätte er unkontrolliert literweise Wasser in sich hinein geschüttet. Der ausgedorrte Körper hätte daraufhin völlig überreagiert. Nach diesen Schockphasen, in denen Farben und Formen wie im Rausch wild auf ihn einprasselten, kamen schließlich die großen Depressionen. »Da stand ich auf meinem Berg und alles was ich wollte war plötzlich nur


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noch ein Fabrikjob und ein Fernseher.« Dann kam der Schnitt. Die Frau aus Berlin nahm der Hörer ab. Sie sagte, er müsse aufhören ihr zu schreiben. Dagobert fiel in ein Loch. Er wusste nicht recht, was er mit sich anfangen sollte. Schreiben jedenfalls konnte er nicht mehr. Langsam fasste er den Entschluss zurück zu gehen. Bevor er wirklich nach Afrika auswanderte, wollte er es noch einmal mit der Musik versuchen. Also machte er sich auf den Weg zur Telefonzelle, rief seinen Bruder an und bat ihn, ihm die Adresse einer Plattenfirma zu besorgen. Dann schnürte er ein Paket und schickte es los. Was dann passierte ist erneut eine jener Episoden, die man kaum für möglich halten kann. Denn, was klingt wie eine fadenscheinige Szene in einem Spielfilm über die Popindustrie, passiert wirklich. Zwei hohe Schweizer Musikindustrie-Tiere kommen mit einem großen, schwarzen Auto vorgefahren und klopfen an seine Tür. Dagobert, der in den letzten Jahren mit kaum einer Person von Angesicht zu Angesicht gesprochen hat, ist überfordert und doch fasst er jetzt Mut. Es scheint also Menschen zu geben, die seine Musik interessiert. Seine Geschichte spricht sich herum. Immer mehr Industrie-Menschen kommen ihn besuchen. Unter ihnen sucht Dagobert nun einen Produzenten, so richtig passen will ihm niemand. In dieser Zeit entstehen etwas  verschiedene Version des Stückes »Hochzeit«. Obwohl das oder der Richtige noch nicht dabei ist, beschließt Dagobert zurück nach Berlin zu gehen, nach fünf Jahren in Panix. Das Geld für den Flug leiht er sich bei seinen Eltern, dann klingelt er in Berlin unangekündigt an der Tür einer Freundin. Er hat Glück. Sie ist Zuhause und vermittelt ihm eine Unterkunft. In dem Café ihrer Schwester könne er nach Ladenschluss ohne Probleme den nächsten

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» We nn du magst, k a nnst du

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Monat bleiben. Dagobert hilft dort mit und bleibt schließlich anderthalb Jahre. Dort entsteht auch jenes kurze Video-Portrait eines Kunststudenten, in dem Dagobert seine Geschichte damals erstmalig der Öffentlichkeit erzählt hatte. Wenig später lernt Dagobert den Produzenten Markus Ganther kennen, der schließlich seinen Geschmack trifft und den Auftrag bekommt, sein Debüt zu produzieren. Ganther verwendet viele Originalspuren aus Dagoberts Panix-Aufnahmen. Dagobert singt keinen einzigen Ton neu ein. So wie er sie alleine in den Bergen sang, sind sie von einer unnachahmlich ehrlichen Dringlichkeit. Die Worte kamen aus dem Moment. In Panix, so wie heute.

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Die Reiszeit ist vorbei

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Seine Art zu schreiben hat Dagobert seit diesen Tagen beibehalten. Noch heute geht er jeden Tag stundenlang in seiner Wohnung auf und ab und wartet auf eine Eingebung. »Das ist wirklich gut«, sagt er, »man ist ganz bei sich.« Manchmal kommt da lange nichts. Seit mehr als einem Jahr hat Dagobert nicht mehr geschrieben. Doch jetzt, in der letzten Nacht, ist ihm ein neues Lied eingefallen. Das hat er noch nicht aufgeschrieben, das gibt es bisher nur in seinem Kopf. Manchmal, wenn ich über das Gesagte nachdenke und wir schweigend durch die langsam erwachenden Straßen Berlins geistern, pfeift er das Lied, um es nicht zu vergessen. Dagobert pfeift gerne. Zwischen seinem eigenen Lied manchmal eine Melodie von Elvis und, nachdem wir an einer heruntergekommenen Anzeige für ein Ferienparadies stehen bleiben, »Das schönste Mädchen von Palma de Mallorca« von den Flippers. Die Flippers. Für Dagobert ist das eine Herzensangelegenheit, für mich schwer zu begreifen, wir müssen also reden. Doch viel

we nig w ür z e n. Ich mag es ehe r fad . «

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gibt es darüber gar nicht zu sagen, merke ich schnell. Dagobert findet das ganz einfach gut. Er habe allerdings nie Schlager gehört, bevor er selbst damit begann Musik zu schreiben. Das es bei ihm Schlager geworden sei, liege daran, dass das für ihn am Einfachsten zu schreiben war. Ihm gefiel Schlager und er blieb dabei. Dann gefielen ihm auch Die Flippers. Besonders deren Schlagzeuger Manfred Durban. »Manfred ist mein Lieblingsflipper«, sagt Dagobert. Doch seine Bewunderung ist nicht grenzenlos. Nachdem sich nämlich sein Fantum herumgesprochen hatte, war Dagobert vermehrt zu Durbans Lieblingsgetränk Blonder Engel eingeladen worden – Ein Mischgetränk aus Fanta und Eierlikör. Eine Zeit lang hätten er und Produzent Markus Ganther dieses während des Aufnahmeprozesses gerne getrunken, eigentlich jedoch »schmeckt das furchtbar«, wie Dagobert sagt. Wir sind angekommen. Angekommen im Apartment, in dem Dagobert zur Zeit untergekommen ist. Eine Freundin lässt in dort umsonst wohnen. Denn Dagobert hat keinen Cent. Er sagt das ganz ohne Wertung, eine einfache Feststellung. »Immer, wenn ich etwas Geld habe, investiere ich es in Reis und mein Telefon.« Reis gibt es auch heute. Dagobert lädt mich ein. Fünf Jahre lang hat er sich fast ausschließlich vom Lieblingsgetreide der Asiaten ernährt, seine Handgriffe in der Zubereitung sind routiniert. Das mit dem Reis sei viel weniger geworden sagt er, er esse jetzt ab und zu bei Freunden oder eine Freundin bringe ihm etwas aus dem Restaurant mit, in dem sie arbeite. »Die Reiszeit ist vorbei.« Neben dem Herd stehen trotzdem ein halbes Dutzend ungeöffnete Pakete. Zur Sicherheit. Dagobert füllt uns auf. »Ich kann gar nicht Kochen. Reis habe ich jetzt schon so oft gemacht, trotzdem misslingt

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er manchmal. Er stellt mir Salz und Pfeffer hin. »Wenn du magst, kannst du noch ein wenig würzen. Ich mag es eher fad.« Wir essen. Neben den Tellern liegt ein Stilleben aus Dagoberts Leben. »Blackout« von den Scorpions, ein lustiges Taschenbuch und eine Dose Pomade. Der Reis ist nicht misslungen. Plötzlich klingelt das Telefon. Es ist Dagoberts Managerin, sie will ihn an ein Treffen erinnern. Ein Geschäftsessen. »Schade«, sagt Dagobert, »jetzt habe ich schon Reis gegessen.« Ich nehme noch mal nach, schließlich habe ich nicht gefrühstückt, Dagobert lässt noch etwas Platz. Dann ziehen wir unsere Jacken an. Dagobert findet die Kaugummis in seiner Tasche und bietet mir eines an. Ich greife zu und lache über die Parallele. »Na gut«, sagt er, »dann muss ich jetzt auch eins nehmen.« Kauend und grinsend steigen wir in den Aufzug. Wir verabschieden uns. Das nächste mal schreibe ich nicht darüber, sage ich ihm noch. Dann gehen wir einfach spazieren. Dagobert hat mit seinen Worten und seiner Musik mein Herz eingenommen. Das kann ich so sagen, dass ist mir gar nicht peinlich. Das ist mir nicht peinlich, weil ich es ganz und gar ernst meine und so ist das mit Dagoberts Texten auch. Diese klingen auch (oder gerade deswegen) so unbefangen und direkt, weil er nie wirklich davon ausging, dass irgend jemand, mit Ausnahme der Frau, für die er sie sang, seine Lieder hören würde. Seitdem er weiß, dass andere Menschen seine Musik hören würden, hätte der Schaffensprozess schon ein wenig Unschuld verloren, wie er sagt. Trotzdem ist er der Erste und vielleicht auch der Letzte, der in einer gläsernen Zeit der großen Liebe unpeinlich den Kitsch zurück gibt, den sie verdient hat. Wir kommen noch einmal zu der Sache mit der verspielten Fantasie. Umso abwegiger also für Dagobert, dass man ihm vor-

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wirft, er hätte eine Kunstfigur erschaffen und seine Geschichte wäre erfunden. Trotzdem zeigt er sich verständnisvoll gegenüber seinen Zweiflern. »Mir wird ja vorgeworfen, ich wäre ein Selbstdarsteller. Es gibt so viele Leute, die Blödsinn erzählen, da kann ich Misstrauen schon verstehen«, sagt er. Ich wünschte mir, dass in diesem Moment jeder, der Dagobert für seine Geschichte verlacht oder sie anzweifelt, hören könnte, wie er das sagt. Er versteht die Zweifler soviel mehr, als sie ihn. Das ist für ihn gar kein Problem. Was soll er auch machen, das ist nun mal seine Geschichte. Und um sich eine andere auszudenken, die die Leute glauben würden, fehlt ihm der Selbstdarstellungsdrang. Und die Fantasie. Wir sollten Dagobert also für mehr dankbar sein als für seine Musik. Wir sollten ihm dafür dankbar sein, dass er uns wieder an das Ungewöhnliche, an das Magische, dass er uns wieder an die Liebe glauben lässt. Er zeigt uns, dass auch kluge Menschen die Dinge einfach sehen können und lässt seine kontrollierte Naivität in einer abgeklärten Zeit zur großen Tugend werden. Das heißt, natürlich nur wenn sie seine Geschichte jetzt glauben. Das hoffe ich für sie. Denn ansonsten sind sie einfach ein schlechter Mensch.


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trümmer · Vor uns liegt immer noch mehr , als hinter uns ·

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Knappe sechs Tage später. In meinem Postfach landet eine Mail. Absender: Henning Mues. Im Anhang befindet sich eine, »Euphorie«, betitelte . Das erste Lebenszeichen der Unsichtbaren also. Aufregend. Wenige Sekunden später schrubbeln erst Gitarren los, bevor ein treibender Beat einsetzt. Dann beginnt Paul Pötsch, der Sänger der Band, schlichte Zeilen von spröder Attraktivität zu singen. Zum Beispiel: »Du bist viel zu schön, um jetzt schon nach Hause zu gehen!« Seine Formulierungen tönen nicht unfassbar poetisch oder bildreich, dafür besitzen sie eine andere Qualität: Jene Klarheit, die das Identifikationspotential eröffnen, aus dem guter Pop häufig seine Kraft bezieht. Vier Minuten später ist es vorbei. Der Song klang unfertig. Dennoch trägt zur einen Funken in sich, der unter den richtigen Bedingungen irgendwann mal etwas Folgenschweres entzünden könnte. D i e Part y i s t vo r b ei !

Seitdem sie von der Spex zur neuen Indie-Hoffnung ernannt wurden, tragen Trümmer eine Last mit sich herum. Es fielen Wörter wie Distelmeyer und Hamburger Schule. Eigentlich möchte sich die Band diesem Referenzrahmen entziehen, dabei passt sie in Sachen Inszenierung und Attitüde nur zu gut in die popintellektuelle Sphäre. Zum Glück steckt hinter der Inszenierung am Ende noch viel mehr, wie man feststellt, wenn man diese Band kennenlernt. Drei Tage Trümmer, Here we go. Prolog Meine gemeinsame Geschichte mit Trümmer beginnt in einer Schwulenbar. Die Pointe? Es gibt keine. Ich war einfach auf der Suche nach günstigem Bier mit ein paar Freunden in einem Laden mit dem schmucken Namen »Bar zum schmutzigen Hobby« gelandet. Das »Hobby« ist so ein Ort, den sucht man eigentlich nur auf, wenn man nicht weiß, wo man sonst noch hin soll, aber auf keinen Fall nach Hause wanken möchte. Eintritt zahlt man nicht, rein darf unabhängig der sexuellen Orientierung jeder und schlechte Popmusik läuft auch immer. Eigentlich schrecklich, irgendwie

aber auch herrlich unprätentiös dieser Laden. An der Bar treffe ich einen Kumpel, Betätigungsfeld: Musikindustrie. Er erzählt, er habe gerade eine Band namens Trümmer live gesehen und auch den Manager der Band, er wird mir als Henning vorgestellt, im Schlepptau. Diesen Namen hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits gelesen, in der Spex eben, aber ich hatte noch nie ein Stück Musik gehört, schließlich verweigerte sich die Band zu diesem Zeitpunkt noch gänzlich dem Netz – was man als konstant InformationsÜberforderter natürlich prinzipiell spitze findet.

Einige Monate später, an einem Tag im Juli. Ich sitze auf der zweiten Rückbank eines Sprinters von Mercedes-Benz. Ich befinde mich irgendwo in Bayern, auf einer überfüllten Autobahn Richtung Norden. Die Blechlawine rollt langsam. Es ist so heiß, dass die Motoren der Autos selbst das Problem sein könnten. Unser Ziel ist das Melt Festival. Neben mir sitzt Paul Pötsch. Er ist klein, seine Haare sind orangerot, sein Lächeln wirkt kindlich, seine grünen Augen strahlen etwas aus, das auf mich wie Rastlosigkeit wirkt. Man könnte meinen, seine Gedankengänge in ihnen aufblitzen und wieder vergehen zu sehen. Gerade jedoch liest er konzentriert in einer Ausgabe des Musikexpress, die er sich wenige Minuten zuvor an einer Tankstelle gekauft hat, weil die legendären The Clash auf ihrem Titel zu sehen sind. Nur ab und zu blickt Paul auf, um mir und Max ein Foto zu zeigen (»Wie verdammt gut die aussahen!«) oder von einem seiner Lieblingssongs der Band zu erzählen. Max, das ist Maximilian Fenski, er sitzt bei Trümmer hinter den Drums. Im Gegensatz zum meist ruhelos erscheinenden Paul wirkt der groß gewachsene Max wie der Ruhepol der Band. Im Bus übt er entweder mit dem Laptop auf dem Schoß und den Sticks in der Hand für den Auftritt oder spielt an seinem Rechner, um etwas Ruhe zu finden. Tammo Kasper, der schlanke, blonde Band-Bassist mit der vornehm blassen Haut, versucht uns während dessen trotz der Hitze möglichst schnell nach Ferropolis, Heimat des Melt Festivals, zu bringen. Langsam kommen wir dem Ende des Staus näher und Helge, der mit gekommen ist, um für einen guten Sound zu sorgen, zeigt uns neue Demos der Band Zucker, jenes Duos, das in besagtem Spex-Artikel von letztem Jahr im selben Atemzug mit Trümmer genannt wurde. Die musikalische Schnittmenge zwischen den beiden

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Bands ist gar nicht so groß, aber Zucker sind, nicht nur, weil sie das selbe Managment haben, Teil des engen Umfelds der Band. Eigentlich mag Hamburg als subkulturell ausgebrannt gelten, dieser Freundeskreis beweist das Gegenteil. Gemeinsam mit Mitgliedern der Gruppe Messer und weiteren Freunden aus ihrem Hamburg Umfeld veranstalten sie im altehrwürdigen Pudel Club eine PartyReihe namens »Euphorie« – so heißt übrigens auch das Indie-Label, das Henning und Tammo nebenbei noch führen. Auf ihm erschienen unlängst eine  der Hamburger Band Der Ringer, sowie eine Split--Inch der jungen, süddeutschen Kritiker-Lieblinge Die Nerven und Candelilla. Eben genannte Bands teilen tatsächlich mehr als die Tatsache, dass sie »jung und unverbraucht« klingen. Untereinander vernetzt sind sie alle, häufig auch freundschaftlich verbunden und über Musik, Gott und den Rest der Welt diskutiert man untereinander ebenfalls. Die musikalischen und inhaltlichen Strategien von Bands wie Trümmer, Die Nerven und Candelilla mögen sich sehr voneinander unterscheiden, aber man teilt eben einen gewissen -Ethos und grundsätzliche Ideale. Trotz der Angst, die man vor solchen Wörtern hat, könnte man von einer Szene sprechen. Diese hat allerdings noch nicht abschließend entschieden, ob ihr die Existenz im Kleinen genügt, oder ob sie auf lange Sicht doch die Gesamtgesellschaftliche Relevanz sucht. Verdient hätten diese Bands die Aufmerksamkeit allemal. Zurück in den Sprinter. Mittlerweile sind es nur noch knapp  Kilometer zu fahren und auch im Gespräch sind wir bereits ganz woanders. Unter anderem notiere ich mir folgenden Satz in mein Notizbuch, den ich heute leider keiner Person mehr zuordnen kann: »Trümmer – Die Band, die sich weit aus dem Fenster lehnt. Bis zu den Zehenspitzen!« Dann sprechen wir über Musik. Max sagt: »Techno hat dein Leben verändert? Mein Beileid. Ich will nicht das Genre diskreditieren, es gibt in diesem Bereich ja viele sehr gute Musiker. Aber wenn Techno und der dazu gehörende Lifestyle alles sind, was dir in deinem Leben wichtig ist, dann ist das schon ein wenig armselig.« Trümmer möchten mehr als tanzen. Diskussionen über Haltung, Wünsche und Standpunkte sind ein essentieller Bestandteil dieser Band. »Aber das ist auf Dauer auch anstrengend,« sagt Paul und Max fügt hinzu: »Natürlich können wir uns nicht den ganzen Tag lang so ernst nehmen. Manchmal blödeln wir auch einfach stundenlang herum.« Es wird viel geredet in unserem Bus. Die Gespräche pendeln dabei ständig zwischen Albernheit und Ernsthaftigkeit hin und her. Mal sprechen Trümmer über die irgendwann im Herbst anstehende Produktion ihres Debütalbums, oder über Leidenschaft, Kunst und ihre Produktion. Dann wiederum diskutieren sie die


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Frage, welche Sprüche mögliche Trümmer-Actionfiguren können müssten. Henning dazu: »Pauls Figur müsste auf jeden Fall rufen: Wir stehen kurz vor der Revolution!‹« Let there be Rock!

Wo ist die Euphorie? Hier!

Wenig später kommen wir am Eingang der Stadt aus Eisen an. Unser Sprinter rollt durch das Tor und dann vorbei an immer mehr Menschen, die in Richtung Gelände wandern. In der Ferne sehen wir die riesigen Tagebaubagger, die diesem Ort seinen Namen gegeben haben. Obwohl die am Tag ein wenig bedrohlich wirken, bricht die Band nicht in Nervosität aus, was vielleicht auch daran liegt, dass sie am mittlerweile dritten Tag unserer Festival-Reise einigermaßen abgekämpft wirkt. Nachdem die Bändchen und die Essensmarken eingesammelt sind und die Band ihre Instrumente ausgeladen hat, gehen die Lichter im Intro-Zelt des Melt Festivals an. Trümmer betreten heute als erster Act diese Bühne. Die Rahmenbedingungen sind eigentlich mies. Die Festivalbesucher sind mittlerweile seit zwei bis drei Tagen vor Ort und verkatert. Außerdem brennt die Sonne auf das Zelt. Dementsprechend leer ist das Gelände aktuell noch. Ohnehin hat Musik, wie Trümmer sie machen (ohne Synthesizer und stampfende Beats), auf dem Melt einen schweren Stand. Es überrascht kaum, dass sich nur knapp  Menschen versammelt haben, als Trümmer auf die Bühne treten. Trotzdem spielen Paul, Tammo und Max hier den besten Auftritt des ganzen Wochenendes. Im Vergleich zum Auftritt vom Freitag hat sich Einiges geändert. Als Paul das Publikum begrüßt, wirkt er gerade zu überschwänglich. Zwei Tage zuvor hatten Trümmer auch dem Deichbrand, einer riesigen Rock-Veranstaltung bei Cuxhaven, gespielt. Ein Festival, bei dem gefühlt jeder auftreten darf, der eine Gitarre halten kann. Zwischen den Sportfreunden Stiller, In Flames und den Toten Hosen wirkten Trümmer etwas fehl am Platze. Die Mischpult-Männer versuchten das Publikum mit Ballermann-Schlager bei Laune zu halten, das Gelände war ein hässlicher, brauner Acker und zig Jauche-Trecker fuhren hinter den Bühnen hin und her, um die   Gäste vor dem Ersticken in Exkrementen zu bewahren. Es war Tristesse Royale und eine ungewohnte Situation für die Band, die sie absolvierte, in dem sie eine vornehme Distanz zum Publikum wahrte. Das ist heute anders. Paul fühlt sich auf der Bühne merklich wohler, er interagiert stärker mit dem Publikum. Nach dem Song »Schutt & Asche« (der »von dem Tag handelt, an dem die Liebe uns besiegt hat«) fragt er das Publikum, ob sie Wasser brauchen. Das klingt merkwürdig, schließlich sind wir erst seit zwei Tagen unterwegs, doch es wirkt als hätte Paul sich als Performer verändert.

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Inspiriert dazu hat ihn möglicherweise ein gewisser Dirk von Lowtzow. Ursprünglich meinte Paul, er wolle sich seinen Zuhörern nicht unnötig anbiedern. Doch auf dem Deichbrand spielten Tocotronic direkt im Anschluss an Trümmer auf der selben Bühne. Und die Tocos waren vielleicht die erste Band, die Paul in seiner Jugend etwas bedeutete. Als seine Familie plante, mit ihm umzuziehen, da protestierte er, in dem er sich in seinem Zimmer verschanzte und den Song »Alles was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben« auf Schleife laufen ließ. »Ich drehte den Song immer lauter auf, bis mein Vater mir irgendwann den Strom abdrehte« hatte mir Paul nur Stunden vorher, auf der Fahrt nach Cuxhaven, mit einem Lächeln im Gesicht erzählt. Der von ihm bis heute sehr geschätzte Dirk von Lowtzow meisterte die schwere Aufgabe Deichbrand, in dem er das Publikum mit großen Gesten und vielen freundlichen Worten auf seine Seite zog. Paul zeigte sich von der Offenheit und Freude, mit der Tocotronic ihrem Publikum begegneten beeindruckt. Am nächsten Tag sagt er, er sei immer noch berührt von gestern und fängt im Bus an »Die letzte Adresse«, einen ruhigen, wehmütigen Song der Band, der bis heute nur als Demo aus den späten Neunzigern vorliegt, zu singen. Wie bereits erwähnt – es wäre ein Leichtes mit dem Auftauchen von Trümmer die Renaissance der Hamburger-Schule auszurufen. Tatsächlich trägt die Band eine Attitüde vor sich her, dich ich als Berliner als irgendwie Hansestadt-typisch identifiziere. Wenn mich Trümmer bei unserem ersten Treffen im Saal  beinahe komplett in schwarz gekleidet, Kippe rauchend und Pastis trinkend an einem Holztisch, über dem ein Bild des verstorbenen Malers und Songwriters Nils Koppruch hängt, erwarten, dann bestätigt das freilich auch ein Klischee. Trümmer scheinen sich bewusst in diesem Umfeld zu bewegen, vielleicht gibt er ihnen Sicherheit und Orientierung. Dennoch suchen sie offensichtlich nach eigenen Wegen und Antworten. Die Hamburger Indie-Kreise sind für sie nie nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt einer Reise. Auf dem Melt fragt Paul gerade Existentielles: Wo ist die Revolte und was wurde eigentlich aus den Träumen? Er räumt Fehler ein, spricht von richtig und falsch, überhaupt von den ganz grundsätzlichen Dingen. Es geht um das Verloren gehen in der Welt und die Antwort darauf: Die Revolte. Das Schöne an Songs wie diesem ist, dass Pauls weiche Stimme die Schwere der angerissenen Inhalte der Songs angenehm kontrastiert. Es geht um die ganz großen Fragen, ja. Aber vorgetragen werdrn sie erneut mit einer romantischen Jugendlichkeit, die den Hörer nicht lähmt, sondern beflügelt. Zeilen wie »Eine Generation – eine Bombe, die nicht zündet« sind so schlank und klar formuliert, dass sie nicht anders können als Funken zu schlagen.

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Auf die »Revolte« folgt ein Song, der inmitten des aktuellen Trümmer-Sets vergleichsweise deutlich heraus sticht. Sein Beat drückt etwas stärker, die Gitarren und der Bass flirren härter. »Der Saboteur« heißt er. Trümmer haben ihn vor ein paar Tagen erst geschrieben und spielen ihn an diesem Wochenende zum ersten Mal. Paul hat ihn seufzend mit den Worten »das nächste Lied handelt von dem Monster, das man in sich trägt« angekündigt und meint damit vielleicht sich selbst. Geld Essen Am Abend zuvor waren wir in Ingolstadt. Das Festival hieß Taktraum, hübsche, junge Frauen in wallenden Hippie-Kleidern hatten es organisiert und Caipirinhas, sowie Ingwer-Schnäpse kosteten uns keinen Cent. Die Sonne schien den ganzen Tag über, das Catering schmeckte gut, im Backstage stand ein Planschbecken. Als Trümmer am späten Nachmittag auf der Bühne standen, waren zwar noch deutlich zu wenig Menschen auf dem Festival-Gelände, ansonsten begann der Tag jedoch perfekt. Kurz nach dem Auftritt hatten Tammo und ich uns per Shuttle zum Hotel fahren lassen. Die anderen blieben da und fingen an zu trinken. Als wir eine Stunde später wieder auf dem Gelände eintrafen, waren Max und Paul spurlos verschwinden, dabei wollten sie eigentlich nur eben Kippen holen. Trotzdem dachte man sich: Ein alkoholisches Kaltgetränk kann man sich jetzt schon mal gönnen. Dann ging es relativ schnell, zumindest verlor man jegliches Zeitgefühl. Ein Caipi, dann noch einer, das können doch eigentlich nur zehn Minuten gewesen sein? Jedenfalls standen Max und Paul plötzlich wieder vor uns. Sie grinsten. »Wir waren an der Donau und dann Kippen holen, aber der Automat hat gesponnen. Paul hat erst versucht den Schein mit der Hand aus dem Automaten zu ziehen, blieb kurz hängen, aber hat es dann doch geschafft den Schein herauszuholen. Dann hat er ihn gegessen«, erzählte Max. Ich wusste nicht, ob ich das wirklich glauben sollte, lachte aber trotzdem. Wenig später erklärte mir Tammo: »Das ist nicht das erste Mal, Ich habe ihn schon Fünfziger essen sehen.« Eine eher krude Form des Widerstandes gegen die kapitalistische Realität, aber nach drei Drinks und zwei Schnapps fanden wir die natürlich zugleich romantisch und unterhaltsam. Als wir später weiter tranken, begannen wie gewohnt die Erlebnisse der weiteren Stunden zu einem zähen Brei zu verschwimmen. Es wurde viel gegrinst, Menschen umarmten sich, Quatsch wurde gesprochen. Heute noch sehe ich Paul vor mir, wie er im Backstage auf einem Trampolin herum springt und dann das Planschbecken um wirft. Ich sehe eine dubiose Rap-Cypher, zwei angebissene Bananen und viele, leere Schnapps-Gläser. Und irgendwann ein Taxi, das uns

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zurück zum Hotel brachte. Vor fünf Minuten versprühte Paul noch pure Energie, nun war er ein anderer. Traurigkeit war sein Name. Unscharf bleiben die folgenden Erinnerungen, ich weiß nur noch von Tränen, Steinen, Selbsthass, Freundschaft und, schließlich, meinem Bett. Dann wache ich auf. Eigentlich stehe ich immer noch im Intro-Zelt auf dem Melt Festival. Gerade singt Paul: »Wenn es dunkel wird, dann klopft er an die Tür und ich öffne willenlos und kann gar nichts dafür. Aus dem Nichts steigt er auf und er kennt meinen Namen. Er macht mich zum Publikum meiner eigenen Taten.« I n All Di es en Nächten So schön unwirklich und poetisch diese Zeilen im Gewand eines Popsongs klingen, so real war dieser Saboteur noch gestern Nacht. Doch in Momenten wie diesen vergisst man so etwas schnell. Gerade spielen Trümmer »Scheinbar«, einen immer lauter werdenden, direkten Song über das nur trügerische Wohlbefinden unserer Generation. Auf ihn folgt die Ankündigung des letzten Tracks des Abends: »In All Diesen Nächten«, das bislang einzige, im Netz abrufbare Lebenszeichen dieser Band. Der Song war und ist ein Aufruf zum Aufbruch. Zeilen wie »Wir verlassen die gemäßigte Zone, es ist vorbei, niemand darf sich mehr schonen« bringen den inneren Aufruhr, für den Trümmer stehen, auf den Punkt. »In All Diesen Nächten« hat eine Qualität, die man entweder als ungestüm oder, weniger wohlwollend, als naiv bezeichnen könnte. Mit vermessenen Aussagen wie »Wir werden niemals alt, wir bleiben so für immer« kommt man eben nur davon, wenn man noch in seinen Zwanzigern steckt und seine Ideale noch intakt halten konnte. Der Song kann als radikale Absage an die Gegenwart gelesen werden und trägt einen juvenilen Wahrheitserkennungsanspruch (»Unsere Lügen sind wahrer als das, was ihr uns auftischt«) in sich, ist aber auch eine zutiefst romantische Abhängigkeitserklärung an die Suche nach dem Sinn hinter all dem Mist. Die Aufbruchsstimmung ist spürbar, insbesondere in diesem Moment. Es ist kurz vor sechs auf dem Melt Festival, als die letzten Töne des Songs erklingen. Wohin die Reise von Trümmer von diesem Punkt an gehen wird, ist nicht absehbar und ich glaube das ist etwas Gutes. Vor uns, wie auch vor dieser Band, liegt noch immer so viel mehr, als wir bisher hinter uns gebracht haben. Allen Dämonen, allen Widrigkeiten zum Trotz.

i l l u s t r a t i o n A n n a Va h e h o h a Text Sasch a Eh lert

Textskizzen (Tinte und Kugelschreiber auf Papier) der Gruppe Zucker! (Pola Lia Schulten, Christin Elmar Schalko)

TEIL 1


Da H I EgRo bI Se Tr tE S

Repor N tOaTgI Z e

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sie suchen das problem? Text

Pau l P ö t s c h

notiz

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der Titel auf mich zunächst wie der von einem billigen Ratgeber. Da ich jedoch kaum einen Bogen um Worte wie »Widerstand«, »Rebellion« und »Revolte« machen kann, habe ich das Buch gekauft, mich auf den Text eingelassen und ihn innerhalb kürzester Zeit komplett gelesen. Der Autor Welzer ist vieles: Journalist, Sozialpsychologe, Dozent und Mitbetreiber der »Stiftung Zukunftsfähigkeit«. Eine Vergangenheit in der Ökobewegung der er-Jahre hat er ebenfalls vorzuweisen. Im vorliegenden Buch gibt er allerdings den smarten Analytiker der Jetztzeit und arbeitet dabei nicht wie ein Wissenschaftler, sondern gründet seine Behauptungen auf Selbstbetrachtungen. Anders gesagt, seine Anleitung zum Widerstand bringt eines der Probleme unserer Zeit auf den Punkt: Wir sind es selbst. K eine Wünsche und Flucht in die Wiederholung

· » i f y o u w a n t t o f i g h t t h e s y s t e m , y o u h av e t o f i g h t y o u r s e l f « ·

hier ist es. Ich habe mich in den letzten Wochen mit verschiedensten Büchern und Themen beschäftigt. An dieser Stelle möchte ich kurz von einem erzählen. Ich möchte dabei nicht den Inhalt des Buches wiedergeben, sondern viel mehr beschreiben, was ich beim Lesen gedacht und gefühlt habe. Es wird auch mir nicht möglich sein, auf all die verschiedenen Aspekte einzugehen, die das Buch abdeckt.

Ich möchte vor allen Dingen darüber schreiben, wie sehr ich beim Lesen daran denke musste, dass meine Generation und ich sich selbst nicht mehr ernst nehmen können. Das blau-weiße Cover von Harald Welzers »Selbst denken – Eine Anleitung zum Widerstand« ist eigentlich eine Zumutung, sprang mich aber penetrant aus dem Regal einer Hamburger Buchhandlung an. Auch wirkte

Eigentlich sollte die Gegenwart für uns das sein, was bunte Knete für Kinder ist: Eine Masse, die wir allein durch unsere Wünsche und unsere Vorstellungskraft formen können.Das zur Verfügung stehende Material wäre in unserem Fall: Zeit, Vertrauen, Ideen, Liebe, Wut und Enthusiasmus. Leider ist so oft das Gegenteil der Fall. Gestaltbarkeit jedweder Art verschwindet und nichts scheint so unzeitgemäß wie das Formen. Oder sagen wir besser: das Wünschen. Alles ist so, wie es ist. Die Gegenwart erscheint uns einfach nicht mehr als ein Ausgangspunkt einer wie auch immer gearteten Zukunft, sondern als das Ende der Geschichte. Heute, gestern und morgen verschwimmen zu einem nicht mehr erkennbaren Brei. Die Utopien – gesellschaftlich und privat – sind verschwunden, aller Schwung ist dahin und was bleibt ist das immer gleiche, weiße Rauschen. Wer ernsthaft über Utopien redet, macht sich lächerlich. Von verbindlichen Motiven, die unser Handeln bestimmen oder, sagen wir es ganz idealistisch, einem Anliegen wähnen wir uns meilenweit entfernt. Jugend wirkte auf mich immer wie ein Synonym für Aufbruch, Wagnis, Veränderung. Doch heute steht es zunehmend für eine Flucht in das leere Versprechen der Ironie oder die immer gleiche Wiederholung der einen, großen Party, die seit Jahren vorbei ist. Die Themen, die uns und die Welt zerrütten, liegen offen auf der Straße. Jeder kennt sie. Ein Blick in die Zeitung müsste genügen, um für die nächsten hundert Jahre in Rebellions-Bereitschaft zu sein. Denn es ist ja eben nicht so, dass wir es nicht besser wüssten. Wir sind ja nicht dumm. Aber wir tun einfach nicht das, was wir tun könnten, um etwas zu ändern. Doch warum ist das so? Und muss das so bleiben?

hier ist es

Wi r tragen Utopi en i n uns Nachdem Welzer ein paar biographische Details verrät, sich selbst verortet, und etwa vom Zukunftsoptimismus des Wohlstandswunders erzählt, den er als Kind noch mitbekommen hat, geht es direkt ans Eingemachte: »Nichtinstrumentelle Beziehungen von Menschen untereinander sind prinzipiell Widerstandsnester«, steht da beispielsweise geschrieben. Als Popkultur-Mensch würde man vielleicht einfach »Love is the answer« sagen. Trotzdem: Der Spruch bietet sich nicht nur als Parole für W G-Küchen oder U-Bahnhöfe an; für mich als Sänger einer Band ist er regelrecht ein gefundenes Fressen. Ich sehe die Gründung von Bands, Künstlergruppen, Clubs, Festivals und Ähnlichem, aber auch die Kräfte Freundschaft und Liebe als Ausgangsorte dessen an, was zum Widerspruch einer krassen Verwertungslogik besteht oder zumindest bestehen sollte. Anders gesagt: Jedes Mal, wenn Menschen miteinander etwas tun, das nicht darauf beruht, den anderen für einen Zweck zu missbrauchen oder sich gemeinsam für einen solchen missbrauchen zu lassen, entsteht ein Forum, an dem sich Gedanken und Ideen frei entwickeln können, die sich jenseits von derzeit herrschenden Idealen abspielen. Und das bringt mich beim Lesen des Textes zu einem Kerngedanken: Wir müssen uns und unser Umfeld ernst nehmen. Wir müssen verstehen, dass das, was wir denken, erleben, erzählen und entscheiden, unsere eigene Geschichte darstellt und reale Folgen für uns und die Welt hat. Wir müssen erkennen, dass die Utopien nicht verloren gegangen sind, sondern das wir als fühlende und denkende Wesen als ihr Ausgangspunkt fungieren, denn wir tragen die Utopien in uns. Welzer unternimmt in »Selbst denken« einige Ausflüge in die Soziologie, zum Beispiel spricht er den »Nachhinkeffekt«, einen Begriff, der von Norbert Elias entwickelt wurde, an. Gemeint ist folgendes Phänomen: Alles spricht gegen ein System, zum Beispiel eine bestimmte Form zu Wirtschaften. Überall wird es marode, beginnt zu bröckeln und wird von verschiedenen Krisen erschüttert., so wie wir es in den  und dem westlichen Europa täglich erleben. Doch der Mensch ändert seinen Habitus nicht, er verharrt in einem Gefühl von historischer Bedeutsamkeit à la »Wir sind doch wer! So einfach geht das Schiff nicht unter!« Der Nachhinkeffekt beschreibt die Zeit, die Menschen brauchen, bis sie realisieren, dass sie nicht mehr das sind, was sie zu sein meinen. Dieser simple Selbstschutzreflex will verhindern, dass man sich selbst so sehr infrage stellt, dass man eigentlich alle Prinzipien über Bord werfen müsste. Setzt die Reflexion jedoch ein, ist es meistens schon zu spät und ein System


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hat sich überlebt. Ein schönes Beispiel gibt die »Anleitung zum Widerstand« mit den Wikinger-Stämmen, die untergingen, weil ihre Fischgründe überfischt waren. Sie kamen zu spät auf die Idee, dass man sich auch von anderen Dingen ernähren kann. Hier verflechten sich wieder der Text und mein eigenes Gefühl der Welt gegenüber: Auch ich habe oft und sehr stark das Gefühl zwischen dem Vergehen der einen und dem Einbruch einer anderen Zeit zu leben. Konkret zeigt sich das für mich beispielsweise am Wissen darum, dass die Ressourcen endlich sind, ich aber trotzdem von einer Welt umgeben bin, die so tut, als wäre dem nicht so. Als wäre es immer noch das höchste aller Ziele, jede erdenkliche Ware permanent zur Verfügung zu haben. Welzer beschreibt dies als eine »-«-Philosophie, die expansiv funktioniert und alles zu Waren machen muss, um sich selbst aufrecht zu erhalten. Ein Mosaik der u n b e q u e m e n E i n z e l tät e r Diese bewegt sich angesichts der Ressourcenknappheit zielsicher auf ihr Ende hin, denn irgendwann wird all das, woraus wir Waren herstellen und Energie gewinnen, aufgebraucht sein. Das Absurde daran ist, dass das ständige Herstellen, Verkaufen und die damit verwundene Weckung des Bedürfnisses nach neuen Dingen die Grundlage jener Philosophie ist. Anders gesagt: Wir fressen uns selbst auf, und merken es noch nicht einmal. Ein Mosaik der unbequemen Einzeltäter. Beim Lesen von Welzers Text fühle ich mich zum Teil bestätigt in Dingen, die ich selbst denke, aber auch ertappt und angestachelt. Sicherlich bin ich als jemand, der sich mit Kunst beschäftigt, in einer privilegierten Situation. Schließlich kann ich frei bestimmen, was ich ausspreche und kann damit eher einen Hang zur Revolution entwickeln als jemand, der so sehr in den Alltag eingebunden ist, dass er sich eine Welt, die anders funktioniert, gar nicht vorstellen kann. Das Wünschen und das Sehnen sind sehr starke, menschliche Grundkräfte, die leider oft in den Strukturen der Realität verblassen und schließlich ganz vergehen. Ich selber wünsche mir den großen Knall, den Richtungswechsel, da ich erkenne was falsch läuft und nicht länger Bestandteil dieser Realität sein möchte. Die Vorteile, die mir das System anbietet, erkenne ich nicht als Vorteile an, sondern als kurzzeitige Betäubungen, als Belohnung für meine Unterwerfungskompetenz. Ich wünsche mir das Ende der derzeitigen Gesellschaftsform und empfinde mich als im Widerspruch zur ihr lebend.

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Ich muss mich selbst ernst nehmen. Das Gefühl des Widerspruchs ist kein vorbeifliegender Schatten, sondern mein Vorgriff auf das, was kommen wird und auch mein Antrieb für das Texten und Musikmachen. Denn das, was hier und heute ist, kann nicht alles sein. Es ist eine Variation dessen, was sein könnte. Eine Möglichkeit unter vielen. Und mit Sicherheit nicht die beste. Daher finde ich es befreiend zu lesen, wenn jemand wie Jonathan Meese davon spricht, dass in  Jahren vielleicht die Tiere die Welt regieren werden. Ganz einfach deshalb, weil es einen entlastet, wenn man das derzeitige Funktionieren oder viel mehr Nichtfunktionieren der Welt als endgültigen Ausdruck menschlichen Schaffens begreift. Der große Knall, das Umdenken kann statt finden, wenn jeder Einzelne sich in seinem Wirkungskreis ernst nimmt. Die Revolution wäre dann ein Mosaik aus Einzeltaten, die Welt ein Mosaik aus einzelnen Orten. Dadurch macht man sich selbst nicht nur handlungsfähiger, sondern befreit sich auch von dem überambitionierten Ziel, die »Welt zu retten«. Wir sollten also weniger Waren verbrauchen, herstellen und die bestehenden länger benutzen und miteinander teilen. Doch ich möchte hier nicht als Prophet oder Ratgeber auftreten. Ich möchte nur beschreiben, wie mich unter anderem dieses Buch dazu brachte, meine Gefühle, meine Wünsche, meinen Protest und meine Leidenschaften nicht mehr wie einen Witz vom Tisch zu fegen. Wir wissen es besser, also sollten wir es auch besser machen. Es gibt keine Feindbilder mehr, also muss man akzeptieren, dass man selbst der Form nach das System geworden ist, das man bekämpfen möchte. Dieses Eingeständnis von Bequemlichkeit, bei gleichzeitiger Aufwertung der eigenen Lebensrealität und des eigenen Handlungsspielraumes – egal, in welchem Feld man tätig ist – kann dem Gefühl der Ohnmacht etwas entgegensetzen. Das Ganze soll man bitte nicht als plumpe Kapitalismuskritik verstehen. Es ist nur so: Durch das Fehlen eines Gegengewichts im Weltgefüge behauptet sich die Gegenwart als Ende der Geschichte. Dadurch wird das Denken jenseits der Grenzen unserer Gesellschaft entsetzlich schwer. Es ist so einfach, sich dem Rauschen hinzugeben und kein Störfaktor zu sein. Widerspruch ist anstrengend, schließlich stellt er infrage, was ist, und führt zu Erklärungsbedarf. Sich erklären müssen ist schwerer, als einfach selbstverständlich zu sein. Allerdings geht es auch nicht darum, sofort Antworten parat zu haben, sondern viel mehr darum mutig unbequeme Fragen zu stellen. Das Gefühl der Unbequemlichkeit müssen wir aushalten können. Es geht auch nicht darum, sofort Antworten parat zu haben sondern viel mehr darum, mutig unbequeme Fragen zu stellen. Das Gefühl der Unbequemlichkeit müssen wir aushalten können.

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hier ist es


D La FgRoEbDe rhti l s b e r g A

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R Ge Ep o S PrRtÄa Cg H e

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Wir erwarten Alfred Hilsberg mit laufendem Motor vor seiner Haustür. In den letzten zwei Jahren haben wir öfter hier gestanden, gewartet, um schließlich in immer wieder neuen chinesischen Restaurants akute Probleme und die Musikwelt als solche zu diskutieren. Auch heute führt uns der Weg in ein solches Etablissement. Alfred Hilsberg, Gründer des Labels ZickZack und seit nunmehr 30 Jahren im Musikbusiness aktiv, scheint eine seltsame Vorliebe für asiatisches Essen zu haben, soviel ist uns klar. Tammo Kasper und ich, Henning Mues, haben zwei Jahre lange gemeinsam mit Alfred bei ZickZack gearbeitet. Unzählige Male haben wir uns in dieser Zeit zu langen und intensiven Gesprächen getroffen. Ganze Wochenenden in der Einöde haben wir damit verbracht, den Zustand der Popmusik in Deutschland auszuloten. Während wir vor unseren noch leeren Tellern sitzen schalte ich das Aufnahmegerät ein.

alfred hilsberg · Viel zu ruhig hier ! ·

»Warum soll ausgerechnet ich dazu etwas sagen?«

ALFRED HILSBERG


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»Popmusik ist überflüssig « Was hältst du von der Idee im Jahr  ein Musikmagazin neu zu gründen – ist das anachronistisch? A Gegenfrage: Warum soll ausgerechnet ich dazu was sagen? Dann kannst du mich auch fragen: Was hält man denn im Jahr  von der Musikwirtschaft, oder von Musik, Popmusik. Solche Fragen kannst du heute überhaupt nicht mehr schlüssig beantworten.

verschütt gegangen. Popmusik erscheint zumindest hierzulande weitgehend losgelöst von gesellschaftlichen Konflikten. Ich finde es erstaunlich, dass es hier und auch in anderen Ländern Europas – trotz aller zu Tage tretenden offensichtlichen Widersprüche – viel zu ruhig ist. Das ist erschreckend. Die Leute sind so beschäftigt mit sich selbst, dass sie möglichst nicht gestört werden wollen. Das Konsumklima in Deutschland ist so gut wie seit  Jahren nicht mehr. Dass gerade alles am Kippen ist, das interessiert die Leute nicht, solange sie nicht direkt betroffen sind.

Warum nicht? A Weil das alles Fragen nach Elementen sind, die vielleicht mal wichtig waren, aber meiner Ansicht und Erfahrungen nach immer unwichtiger werden.

» K e i n e M a r k d e r P l at t e n i n d u s t r i e «

Popmusik ist also  überflüssig? A Sie hatte jedenfalls mal eine viel größere Bedeutung. Man sollte das nicht verwechseln mit dem kollektiven Massenwahn bei Festivals oder irgendwelchen anderen Großereignissen. Das mag ja immer noch zur kollektiven Willens- oder eben Nichtwillensbildung beitragen – in erster Linie ist es aber immer konsumgeprägt, trägt also zur Stabilisierung des Systems bei.

Du hast ja in deiner Geschichte als Labelbetreiber von ZickZack diverse Entwicklungen in Musikdeutschland mitgemacht. Von den Befreiungsschlägen der Punkbewegung Anfang der er-Jahre, bis hin zu der Entstehung einer – vermeintlich – politischen und reflexiven deutschsprachigen Popmusik circa zu Beginn der er-Jahre, die häufig unter dem Sammelbegriff Hamburger Schule beschrieben wurde. Wie bewertest du das rückblickend?

Es gab also eine Zeit, in der Popmusik weniger konsumorientiert war beziehungsweise sein konnte? A Das war sie immer dann, wenn gesellschaftliche Konflikte aufbrachen, die von Musik befördert werden konnten. Wie schon in den er-Jahren mit Rock’n’Roll oder meinetwegen auch in der Hippiezeit. In solchen Phasen hat Popmusik viel mehr zu tun gehabt mit gesellschaftlicher Veränderung, mit Kämpfen, die die Leute ausgetragen haben. Gegen Konventionen, gegen Unwissen, gegen Unterdrückung.

A

Birgt die Gesellschaft heute kein Konfliktpotenzial mehr? A Doch, aber dieses vielschichtige Potenzial ist durch Individualisierung und zunehmende Konsumorientierung weitgehend

Zum Beispiel mit der schon wiederholten Korrektur eines Irrtums. Auch Blumfeld waren, in Bezug auf ihren gesellschaftlichen Einfluss, völlig überschätzt, auch aus Sicht der Band. Die Wirksamkeit einer Band wie Blumfeld war nie so gegeben, wie das manche Medienleute vielleicht angenommen haben. Meiner Ansicht nach war das eher ein großer Hype, der durch die Inszenierung mit dem Begriff »Hamburger Schule« befördert worden ist. Auch wenn die Band und ZickZack als Label sich von dieser Vermarktungsschublade anderer distanziert haben. Die meisten Leute hatten gar nicht verstanden, was Herr Distelmeyer gesagt hat, oder was er wollte. Es ging auch zu der Zeit, wie fast immer bei Popmusik, um das Dabeisein. Man wollte Teil einer Jugendbewegung sein. Was auch immer in den Texten

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an persönlichen Problemen und gesellschaftlichen Verwerfun- Wurde durch die Neue Deutsche Welle auch die ursprüngliche Idee des gen formuliert wurde – es hat sich schnell herausgestellt, dass Independent Labels beschädigt? Die Idee von ZickZack, Atatak, Zendie meisten Leute kaum die zugegebenermaßen höchst intelli- sor und vielen anderen? genten Texte verstanden und statt dessen eigene Erkenntnisse A Nein. Abhängig waren diese Labels immer. Nach allen Seiten. Weil und Konflikte auf die Person des Messias Distelmeyer projiwir unsere Auflagen innerhalb weniger Tage ausverkauft hatten, zierten. Oder auf Herrn von Lowtzow. Oder in Niedersachsen weil wir keine großen Promotionkosten hatten, weil viele Musiauf den sehr betroffenen Thees Uhlmann. Die Toco-Slogans ker die erstmals verfügbaren Vierspurgeräte für ihre Produktion funktionieren ja als Identifikationsangebote. Und Trost könnutzten und wir und viele andere Beteiligte uns selbst ausbeutenen heutzutage von Kettcar bis zu Tim Bendzko viele anbieten. ten, konnten wir uns unabhängig aufführen. Das war aber nur Inszenierung. Das war ein Spiel, das wir gespielt haben. Und irMan könnte sagen: Die Haltung der »Hamburger Schule-Bands« lag gendwann gab es ja auch ein böses Erwachen. Wir wachten auf im Trend? und hatten Schulden. A Man hat die Zeitschriften gelesen, die Blumfeld Raum gegeben haben. Man hat sich untereinander verständigt, aber größtenteils Der Begriff Independent ist ein Relikt dieses Spiels? darüber, dass man eine Blumfeld-Platte zu Hause im Regal stehen A Das war schon korrekt aus der gesellschaftlichen Situation abhatte. Manche Leute haben sicher auch über die Inhalte diskutiert, geleitet und nach angloamerikanischen Vorbildern organisiert. aber das Ausmaß der gesellschaftlichen Wirkung wurde überschätzt. Gemeint war schon, weitestgehend unabhängig von vorherrschenden kapitalistischen, kulturellen Strömungen etwas Neues Was hätte passieren können? Welche Reaktionen, welche Handlungen schaffen zu wollen. Das ist nur im Ansatz gelungen. Wir hatten hattet ihr erwartet? damals so einen selbstironischen Spruch: Keine Mark der PlatA Es ging nicht um Handlungsanweisungen, sondern um Distenindustrie. Gemeint war: Wir wollen alles. kussionsprozesse. Der sogenannte Diskurs, der immer wieder beschworen wurde, fand nur in ganz kleinen Zirkeln statt. Mal abgesehen von dem wirtschaftlichen Misserfolg. Leider haben es Man hat eine Zeit lang wirklich gedacht, dass die Musik der nur wenige dieser frühen er-Jahre Bands geschafft, ihre WahrnehHamburger Schule einen gesellschaftlichen Aufbruch mit sich mung in der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten und weiterzumachen. bringen würde. Dem war leider nicht so. Das lag zum Teil auch Ich denke da zum Beispiel an die Einstürzenden Neubauten. War das daran, dass die Protagonisten dieser Szene geglaubt haben, dass für dich enttäuschend? ihre Musik für sich spricht. Diese Haltung hat nicht wie erhofft A Das ist richtig, von denen ist kaum jemand kommerziell erfolgfunktioniert. Viele Bands haben sich dann bewusst auf ihre Etareich geworden. Gerade die wenigen, die von größeren Firmen blierung konzentriert und sich stärker für ihre Eigenvermarkfür damals gutes Geld und viele Versprechungen übernomtung, als für bisherige Positionen interessiert. men wurden, ich nenne hier nur Abwärts, Wirtschaftswunder und Palais Schaumburg, sind an falschen Erwartungen, IllusiAnfang der er-Jahre, als du ZickZack gegründet hast, gab es eine onen, aber auch an persönlichen Konflikten gescheitert. Die ähnliche Aufbruchsstimmung im Untergrund – experimentelle Muvon ZickZack, und anderen getragene subkulturelle Alternasik, deutschsprachige Texte. Doch diese Euphorie hielt nicht lange an, tive wurde von kulturell normal ausgerichteten Leuten kaum wurde schnell von großen Companies aufgesogen. Wenn man über die wahrgenommen worden. Das war nur eine dünne Schicht von Bedeutung dieser Zeit spricht, neigt man da nicht zur Glorifizierung? jüngeren Menschen, überwiegend Intellektuellen, die damit A Es war eine bis dahin unvergleichliche Aufbruchsstimmung, aufgewachsen sind. Und die haben das auch wieder vergessen, die schon Ihren Einfluss hatte, sonst wären viele experimenweil durch die Neue Deutsche Welle alles diskreditiert wurde, telle, radikale Ansätze, die im Ausland bis nach Japan Beachwas damals passiert war. Man wollte damit nichts zu tun haben tung und Anerkennung fanden, nicht entstanden. Und ohne und hat auch das, was vorher entstanden war, zerstört. Das ist diese Underground-Bewegung wäre auch die ganze Neue schade drum, natürlich. Das ist unverdient. Das sieht man an Deutsche Welle nicht passiert. Aber die hat entscheidend dem Erfolg von Palais Schaumburg heute. Lass uns nicht so dazu beigetragen die Underground-Bewegung wegzuspülen. groß über die Neubauten reden, das ist ein spezielles Thema. Dass es die überhaupt noch gibt ist eine Ausnahme, die ich


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aber auch akzeptiere, weil es eine der wenigen Bands ist, die schaffen hat, dass gleichermaßen begeistern und schockieren durchgehend selbstbestimmt gearbeitet haben. Die haben es kann. Anders haben es Blumfeld gemacht. Die Zielsetzung der verstanden, die Zeichen der Zeit für sich richtig zu werten und Band war klar: Positionen im Kulturbetrieb erobern, im Radio zu nutzen. Sie haben auch als eine der ersten nicht nur eine Bassist  gespielt werden und die von kommerzialisierten Projekten beerfunden, sondern eben auch das Internet für sich inszenieren Schorschesetzen Medienkanäle mit eigenen Gedanken füllen. Das erforkönnen. Die haben das nicht auf Deutschland bezogen, sonderte natürlich Zugeständnisse in Sachen Chart-Tauglichkeit dern von vornherein global gearbeitet. Das ist schon eine herund Radio-kompatiblen Texten. Ich halte jedoch den von Canausragende Leistung. delilla praktizierten Ansatz für interessanter, als den Versuch mit eingefahrenen Mitteln Erfolg zu haben. Außerdem: Was Eine Band hat sich der Fremdbestimmung dadurch entzogen, dass sie ist Erfolg? Woran misst sich der denn? An Verkaufszahlen, an sich selbst professionalisiert hat? Videoklicks im Netz? Was ist da der Gradmesser? Für manche A Klar! Genau diese Selbstbestimmung, von der Covergestaltung, Leute ist es eben immer noch der Traum von der Goldenen über die Produktionsweise, bis zu den Finanzen, war ja eine Schallplatte. der wesentlichen Ideen bei der Selbstorganisation der Underground-Kultur. Anspruch und Erfolg Woran würdest du denn Erfolg messen – ganz persönlich? A Daran, dass in den Medien öffentlich gestritten wird. Nicht Ich glaub dieser Ansatz ist heute interessanter denn je, weil mit dem nur von ein paar Feuilleton-Journalisten, sondern in einer gröInternet für jede Band die Möglichkeit zur kompletten Selbstinszeßeren Debatte über etwas, dass aufregend erscheint, lange vernierung besteht. Auch Produktions- und Vertriebswege werden durch schwiegen wurde oder ekelerregend ist. Gerade in der Berliner digitale Techniken vereinfacht. Braucht es da heutzutage eigentlich Rapszene gab es da in der jüngeren Vergangenheit einige pronoch ein Label? minente Beispiele. Man kann von manchen Texten und AktioA Die grundlegende Frage steht noch davor: Braucht man heunen halten was man will, aber die Inszenierung als wandelnder te überhaupt noch eine Platte? Aber zurück zu den Labels: Ja, Widerspruch haben da einige Acts schon clever hinbekommen. ich glaube schon, dass es Firmen geben sollte, die dazu in der Lage sind, mit Künstlern gemeinsam an ihrer Inszenierung und Muss Musik den Anspruch haben, gesellschaftliche Wirkung zu entWahrnehmbarkeit zu arbeiten. Die Möglichkeiten zur Selbst- wickeln? darstellung haben sich vervielfacht, nur nutzt sie natürlich heu- A Das ist nach meinem Verständnis auf jeden Fall ein entscheite jeder. Die millionenfache Präsenz von Musik im Internet dendes Kriterium: Von Texten angeregt zu werden, positiv oder erfordert, dass man Ideen hat, die andere nicht haben. So sehr negativ. Durch Provokation, eine starke Aussage, eine These, es ja ein nachvollziehbarer Anspruch ist, die Arbeitsteilung zu eine Antithese. Ich weiß allerdings nicht, was du heute mit überwinden: Die nötige Professionalisierung erfordert auch die Text noch machen kannst, um überhaupt wahrgenommen zu Einbindung spezieller Kenntnisse. werden. Bands wie Messer, Trümmer, Zucker,  oder Candelilla zeigen aber, dass es auch  immer noch zig verschiedene Gerade Bands, deren Anspruch an Musik über reine Unterhaltung hiArten und Weisen gibt, Songtexte zu schreiben. Auch wenn sie nausgeht, stehen oft vor folgendem Problem: Sich an Hörgewohnheiten sich dabei natürlich an Dagewesenem orientieren. anpassen zu müssen, um eine große Menge an Menschen zu erreichen. Oder sich in der eigenen Radikalität mit einer kleinen Hörerschaft Was ist für dich ein guter Text? abfinden. Liegt die Wahrheit womöglich dazwischen? A Ich finde solche Texte interessant, die nicht eindeutig sind, A Ich denke, da muss jeder Künstler seinen eigenen Weg finden. sondern die Hörer zum Denken und Deuten auffordern, die Wichtig ist, dass Musik die Menschen überraschen und übernicht sofort die richtige Antwort auf alle Fragen geben. Zum rumpeln kann. Ich denke zum Beispiel an die Band Candelilla, Beispiel bei Jens Friebe: Bei aller Eingängigkeit seiner Musik, die in ihrer Verknüpfung von Musik, Performance und Politik bieten die Texte seiner Alben auch immer eine Herausfordeein ganz eigenes subversives und radikales Bandkonzept gerung an die eigene Fantasie. Ich bin mehr als gespannt, wie

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Bassist Schorsche

D i e g o l d e n e S c h a l l p l at t e

»Ich finde solche Texte interessant, die nicht eindeutig sind, sondern die Hörer zum Denken und Deuten auffordern, die nicht sofort die richtige Antwort auf alle Fragen geben. Zum Beispiel bei Jens Friebe: Bei aller Eingängigkeit seiner Musik, bieten die Texte seiner Alben auch immer eine Herausforderung an die eigene Fantasie.«


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sich Jens in diesen Zeiten von harmlos-betroffen-besoffenem Songwriter-Unwesen behaupten kann. Aber ich bin sicher, seine subversive Beobachungsgabe wird mehr gebraucht denn je.

aus der öffentlichen Wahrnehmung. Das ist auf Dauer jedoch ein untragbarer Zustand. Die Auseinandersetzung mit Integration birgt großes Potenzial für gesellschaftliche Konflikte und Diskussionen. Das hat sich ja in den letzten Augusttagen wieder massiv in Berlin gezeigt.

Ist Neuartigkeit für dich ein Thema? Müssen alle neuen Dinge sich zwangsläufig von dem vorher Dagewesenen abgrenzen? A Eigentlich wurde ja in der Popmusik schon alles gesagt und Und Popmusik kann etwas dazu beitragen, diese gesellschaftlichen gemacht. Deswegen ist mir vermeintliche Neuartigkeit oder Konflikte zu verhandeln? Innovation weniger wichtig. Ob Musik aus Tönen besteht, die A Im besten Fall fördert sie die Auseinandersetzung mit diesen andere Leute schon gespielt haben, oder aus Worten, die anThemen und bringt die Menschen zum Überdenken ihrer eindere schon gesagt haben, ist eher zweitrangig. Was zählt ist die gefahrenen Positionen. Sie soll Räume öffnen, in denen Dinge Haltung einer Band. Ihre einzigartige Position innerhalb des neu gedacht und neue Fragen gestellt werden können. Wenn musikalischen Referenzrahmens. Eine aussagekräftigte Band ich mich in der deutschen Poplandschaft umschaue, sehe ich entzieht sich erstmal allen Vergleichen und kann nicht probviele Künstler, die ganz bewusst mit Themen wie Revolution, lemlos in eine Schublade gesteckt werden. Umsturz und Veränderung umgehen. Ich denke, daran lässt sich schon ein gesellschaftliches Klima ablesen. Doch, wie gesagt: Die eigentliche Wirkkraft von Popmusik ergibt sich erst Die Revolution und ihr Sound im Zusammenspiel mit realen, gesellschaftlichen Ereignissen. Wenn wir nochmal zurück an den Beginn unseres Gesprächs gehen: Besteht die Chance, dass die Gesellschaft aus ihrem Dornröschenschlaf Alfred, eine letzte Frage: Der Kulturpessimismus scheint ja das tragende erwacht? Was muss geschehen? Element deiner Weltsicht zu sein – oder? A Es müsste eigentlich ein gesellschaftlicher Krach passieren! Es A Nein, ich versuche nur die Dinge immer skeptisch zu betrachmüsste klar werden, dass Konsum keine Sicherheit mehr beten. Ich bemerke, dass es heute scheinbar schwerer geworden ist, deutet, dass die Ansammlung von irgendwelchen Gütern den klare Positionen zu beziehen. Es herrscht eine OrientierungsloLeuten keine Befriedigung bringen kann. Die Grenzen des Kasigkeit unter den Menschen. Jugend- oder Subkulturen gibt es pitalismus zeichnen sich ja in der jüngsten Vergangenheit in vienicht mehr und das Informationsangebot ist unüberschaubar. len europäischen Staaten ab. Gesellschaftliche Probleme werden Nehmen wir doch wieder das Beispiel Popmusik. Früher haben außerdem zunehmend globaler: Konflikte in Südamerika oder die Leute in ihren Wohnzimmern ein paar Kassetten aufgeAfrika berühren ganz direkt auch unseren Alltag. nommen und die wiederum an ein paar Leute geschickt. Heute kann jeder seine Musik an die ganze Welt rausschicken. Aber Ist denn die arabische Revolution nicht genau so ein Anlass? Die Auswer soll das alles hören? Die Leute brauchen eine Hilfestellung, wirkungen sind gerade in Deutschland bisher kaum wahrnehmbar. eine Art Navigator oder besser noch: Lotsen. Das war im popkulturellen Bereich lange Zeit die Spex. Und da kommen wir A Noch nicht, nein. Wenn die Leute massenhaft aus ihren Heidoch zurück an den Beginn unseres Gesprächs: Vielleicht kann matländern flüchten, dann schon. Wenn Menschen über das und will ja dieses neue Magazin zu einer solche Orientierung Mittelmeer nach Europa kommen und in Flüchtlingslagern zuin Sachen Popkultur und Gesellschaft beitragen, sozusagen ein sammengepfercht werden, dann verschwinden sie weitgehend nötiges Leuchtfeuer sein.

f o t o s a b i n e S c h wa b r o h i n t e rv i e w h e n n i n g m u e s & ta m m o k a s p e r

r e p o rtag e

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Dagobert


Bernd Höhne

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portrait

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bernd Höhne

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· Eine schöne Geschichte ·

bernd höhne hört auf

Wie bescheuert das mit der Coolness doch eigentlich ist. Als junger Mensch, ganz besonders als Pop-Verrückter, verbringt man so viel Zeit damit ihr nachzurennen und vergisst dabei irgendwann, wie schön es ist eine Band, ein Buch, eine Jacke einfach nur für das zu schätzen, was sie ist. Anstatt dessen setzt man sich und seinen Geschmack ständig in Bezug zu dem, was andere, »coolere« Menschen schick, richtig und toll finden. Das es auch anders geht hat mir Bernd Höhne gezeigt.

Es ist ein Tag im Juni und ich bin in Berlin. Das Wetter ist gut, die Sonne scheint und ich bin spät dran, weil ich nicht rechtzeitig aus der Straßenbahn gestiegen bin. Ich habe mein ganzes Leben in Berlin verbracht doch hier, irgendwo im Niemandsland zwischen Lichtenberg, Hohenschönhausen und Marzahn, war ich noch nie. »Dabei ist es doch eigentlich ganz schön hier«, denke ich, als ich endlich die Straße herunter laufe, die mich zu meinem Ziel führen wird. Ich wandere durch ein typisches Ostberliner NeubauQuartier, ein gemütliches allerdings. Die Platten haben hier nur vier, fünf Stockwerke und sind umrahmt von Wiesen oder Hecken. Auf einigen der Balkons stehen ältliche Menschen, die mich, den Eindringling, den Reporter, kritisch beäugen. Ich kann sie ja verstehen. Ich glaube nicht, dass ich so aussehe, als würde ich hierher passen. Trotzdem fühle ich mich nicht unwohl. Zum ersten Mal seit Langem spiele ich nicht bereits in meinem Kopf die Gesprächssituation durch, die mir kurz bevor steht. Ich bin seltsam gelassen. Die Hausnummer , endlich. Gleich bin ich da. Ich blicke nach vorne und sehe in einigen Metern Entfernung wieder einen kleinen Mann auf einem dieser eigentlich zu kleinen Balkons. Er winkt mir zu. Das muss Bernd sein! Ja, er ist es. »Na toll«, denke ich. Das mit der professionellen Distanz kann ich eigentlich direkt vergessen, wenn der da sich so offensichtlich freut mich zu sehen, obwohl wir bislang nur ein mal telefoniert haben. Ich grinse. Von diesem Bernd, Höhne heißt er mit Nachnamen, hörte ich das erste Mal durch einen Freund. Der spielt in einer Band und kennt Bernd, weil dieser immer zu deren Auftritten in Berlin und

Potsdam kommt. Tatsächlich hatte auch ich ihn zu diesem Zeitpunkt bereits zwei, drei mal bei Konzerten gesehen. Wenig verwunderlich – dieser unscheinbare Mann fällt auf. Zumindest auf Konzerten, auf denen eigentlich nur Menschen zwischen  und  herum hüpfen. Denn Bernd ist wesentlich älter. Man schätzt ihn, dank seiner grauen Haare, auf ungefähr Sechzig. Tatsächlich hat Bernd sogar noch mehr Jahre auf dem Buckel, als man glauben würde. Dank eines steten Lächelns auf seinen Lippen und der sympathischen Grübchen im Gesicht hat er trotzdem immer noch etwas irgendwie Kindliches an sich. Auf Konzerten sieht man ihn fast immer in einer der ersten Reihen und stets im richtigen Bandshirt. Die lässt er selbst bedrucken. Bernd Höhne ist ein so umtriebiger Herumtreiber, dass ihn in den richtigen Kreisen beinahe jeder kennt. So erklärte man mir: »Der Band, der hat eine spannende, aber auch traurige Lebensgeschichte. Der ist ein Spitzentyp. Du musst ihn kennen lernen!« Nun stehe ich also im Eingangsbereich seiner Wohnung im ersten Stock dieses schmucklosen, aber blitzsauberen Blocks. Meine dünne Sommerjacke hängt an der Garderobe aus typisch deutscher Buche und ich blicke in das kleinbürgerliche Wohnzimmer eines modernen Rentners. Auf dem Flachbildfernseher, der jetzt angeschaltet ist und es auch während unseres Interview bleibt, zeigt Viva die neuesten Videos der Pop-Chefetage. Hier das Relikt aus der alten Zeit der Popkultur, schräg gegenüber der Computer, seine Schaltzentrale, sein Arbeitsplatz, wie Bernd mir erklärt. Wir nehmen auf der Couch Platz, auf dem Wohnzimmertisch liegen Kartei-Kärtchen bereit, die Bernd nun an sich nimmt.


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Wir sind übrigens direkt auf der Du-Ebene, wie selbstverständlich. Ich beglückwünsche Bernd zu seiner schönen Wohnung. Das sage ich nicht nur aus Höflichkeit. Der gemütlichen -Zimmer-Wohnung fehlt zwar jegliche Form von Altbau-Schick und DesignerMöbel oder ähnliches Geschmackvolles findet man hier natürlich auch nicht. Diese Wohnung ist nicht im klassischen Sinne stilvoll eingerichtet. Hier steht auch ein digitaler Bilderrahmen herum, auf dem eine Slideshow abläuft. In meinem Alter glaubt man ja, man könne sich solche geschmacklichen Ausrutscher nicht leisten, dennoch wirkt diese Wohnung auf mich wahnsinnig gemütlich. Sollte ich in  Jahren in so einer Bude leben, dann habe ich zumindest nicht alles falsch gemacht. Bernd jedenfalls erzählt mir, er habe mit dieser Wohnung tatsächlich großes Glück gehabt. Eigentlich gehöre sie seiner Tochter und ihrem Mann. Sie haben die gekauft und an ihn für wenig Geld weitervermietet. Bernd Höhne hat übrigens zwei Kinder, beides Mädchen. Eine seiner Töchter wohnt in Berlin, die andere in Leipzig. Ich will nun beginnen, am Besten ganz am Anfang, also frage ich Bernd, ob er in Berlin geboren ist. »Nein, nein. Ich komme aus Sachsen-Anhalt, aus der Gegend um Halle. Ich bin erst mit  nach Berlin gekommen,« sagt er und fügt hinzu: »Ich bin hier geblieben, bis ich  Jahre alt war. Dann ging ich runter ins badische Land, weil dann, sagen wir es mal so, hier alles aufgelöst wurde und es dort Arbeit gab. Außerdem wohnte meine Schwiegermutter da. Über sie bekam ich eine Stelle in einem Kraftwerk am Rhein.« Ich glaube zu erkennen, dass Bernd ziemlich nervös ist. Nicht nur, weil er sich während unseres Gespräches an seinen Karteikarten fest hält, als könnte er ohne sie seine Geschichte nicht erzählen, sondern auch, weil er häufig rasante Zeitsprünge vollzieht. Ich muss einen Schritt zurück gehen und nachhaken. »Bernd, wie war das, als du in der DDR gelebt hast?« »Ich bin  nach Berlin gegangen. Dort habe ich am Lehrstuhl für Leninismus und Marxismus im Archivwesen gearbeitet, weil dort auch meine Frau war. Dann kam die NVA und danach habe ich wieder an der Uni, bei meiner Frau, gearbeitet. Und das haben wir dann gemacht, ja, bis zum Schluss. Meine Frau ist dann  runter gezogen, ich schließlich ein Jahr später. So war das.« Nachdem er das gesagt hat macht er zunächst eine lange Pause und berichtet dann von seinen Schwierigkeiten, sich an das Leben in Süddeutschland anzupassen. Die Menschen, das große Wirtschaftsunternehmen, das Kraftwerk,

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das waren zunächst alles große Unbekannte für Bernd Höhne. Dann macht er wieder so einen Zeitsprung, dieses mal zurück in die Vergangenheit. »Oh, ich habe ja auch mal drei Jahre lang gelernt die Geräte im Braunkohle-Tagebau zu führen. Da, wo die jetzt noch stehen, da machen die Leute ja jetzt Musik, son großes Festival. Oh, dahin habe ich es auch noch nicht geschafft, da will ich auch noch hin. Ja, genau. Aber dann sind wir da unten gewesen, im Dreiländereck. Die Sprache da unten, mein lieber Scholli! Da hat sich alles gemischt, das Badensische, das Elsässische und das Schwiizerdütsche,« erzählt er mir in atemloser Geschwindigkeit. Bernd Höhne fühlte sich in seiner neuen Heimat sehr wohl. Er liebte es, näher an der Natur zu leben und unternahm mit Kollegen und seiner Frau viele Ausflüge in die Berge, mal nach Locarno, mal in die Vogesen. Er gewöhnte sich durch seine vielen Schweizer Kollegen einen leichten Akzent an. Zu beklagen hatte er irgendwann nur eines: Dort unten war in der Woche nach Feierabend tote Hose, keine Discos, keine Konzerte. Zum Anfang störte ihn allerdings selbst das kaum. Denn Bernd Höhne war damls noch in erster Linie Schlager-Fan (»Das ist jetzt vielleicht ein bisschen kurios.«), hörte viel Manfred Schöbel oder Manfred Krug. Mit seiner Frau besuchte er damals einige Schlagerkonzerte am Bodensee, doch die richtig große Leidenschaft für Musik, die sollte ihn erst später packen. Danach erzählt er mir von der Arbeit seiner Frau, zunächst völlig ruhig, doch dann beginnt er zu stocken: »Dann hat sie noch mal eine Schulung gemacht und ist dann zur oberbadischen Zeitung gegangen. Dort hat sie bis zu letzt..,« kurz versagt ihm seine Stimme, »oh, das war eine Zeit.« Seine Frau bekam Krebs,  war das. Drei Jahre lang pflegte Bernd sie von zu Hause aus. Zumindest konnte er damals bereits Altersteilzeit beantragen. Erst kam die Therapie, nach der es seiner Frau eine Zeit lang wieder besser ging, dann jedoch baute sie rapide ab.  wurde schließlich seine Betriebswohnung, in der die beiden lange gelebt hatten, aufgrund einer Fusionierung mehrerer Kraftwerke verkauft. Über den Tod seiner Frau schweigt Bernd und ich traue mich nicht, ihn darauf anzusprechen. Ich kann es nicht leugnen, die Geschichte berührt mich. Vielleicht ist es gut so, dass Bernd den tragischsten Teil der Geschichte auslässt und lieber damit fort fährt, wie er nach Rheinfelden zog und plötzlich wahnsinnig viel Zeit hatte. Er war ein alleine stehender Rentner und hatte nichts zu tun, er langweilte sich.

» Die Sprache da unten, mein lieber Scholli! «

Seine Band-Shirts entwirft Bernd Höhne selbst. (Foto: Sascha Ehlert)

Bernd Höhne


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»So Papa, du bleibst jetzt da oben!« Wie wohl viel zu viele in seinem Alter. Da hat man vierzig Jahre lang gearbeitet und dann steht man plötzlich alleine, ohne Aufgabe und ohne Ziel da. Deprimierende Vorstellung, aber hierzulande scheinbar eher Regel als Seltenheit. Viele finden bis zu ihrem Lebensende nicht mehr raus aus diesem Loch. Bernd Höhne allerdings suchte sich eine neue Aufgabe: Musik. Zunächst durch das Fernsehen, wenig später dann immer mehr auch mit Hilfe des Internets, begann er sich immer stärker für Popmusik zu begeistern. Er, der die letzten  Jahre nur Schlager und Klassik gehört hatte. Dementsprechend klein fing er an, so banal und zugleich folgerichtig wie nur vorstellbar, also mit den Castingshows Deutschland sucht den Superstar und Popstars. Ja, wirklich. Damit gewinnt er freilich keinen einzigen Preis für Coolness. Aber wie hätte er auch cool sein können. Wir alle haben uns im Laufe unserer Jugend das Wissen antrainieren können, mit dem wir heute entscheiden, was guter und was schlechter Pop ist. Auf gewisse Weise macht uns das unfrei, schließlich wird es mit immer umfassenderen Wissen stetig schwieriger, Dinge einfach unbedarft zu feiern, ohne sie direkt kulturell einzuordnen oder entscheiden zu müssen, ob man diesen oder jenen Künstler nur ironisch oder sogar ernsthaft feiern darf. Aber dadurch, dass Bernd Höhne die vergangenen Jahrzehnte im Schlagerland verbracht hatte, war er in Sachen Pop-Verständnis noch ein Kind. Und genau mit einer solchen Begeisterung, wie sie nur Heranwachsende an den Tag legen können, widmete er sich anfangs auch den Kommerz-Maschinen  und Popstars. Der erste Musiker, für den sein Herz entflammte, hieß Max Buskohl, ein für das Casting-Universum erstaunlich »rockiger«, junger Mann. Buskohl stieg  zwar kurz vor dem Finale bei  aus, doch da war Bernd bereits Fan und wusste, dass Max nebenbei schon länger in einer Band sang – sie hieß Empty Trash. Wenig später begann er immer häufiger nach Berlin zu reisen. »Easyjet kennste, oder? Ich hatte ja Zeit, also konnte ich immer auf die günstigsten Preise warten.  Euro, hin und zurück,« erklärt er mir. Irgendwann fuhr Bernd so oft nach Berlin, dass seine Tochter ihn darauf ansprach. »Sie hatte gemerkt, dass ich aus der Stadt, ich hatte ja auch einige Freunde dort, immer glücklich zurück kehrte, während ich in meinem Zuhause immer so traurig wirkte. Irgendwann sagte sie: So Papa, du bleibst jetzt da oben!« Im Februar  wurde Bernd Höhne schließlich zum zweiten

Mal Berliner. Er zog in die Wohnung, in der ich gerade mit ihm sitze und genoss es sehr, dass um ihn herum endlich wieder mehr passierte. Im selben Jahr lernte er unter anderem Niklas Dennin kennen, der damals gemeinsam mit Elif Demirezer (die es heute als Elif mit ernst zu nehmendem Songwriter-Pop versucht) an der Duett-Ausgabe von Popstars teilnahm und den zweiten Platz belegte. »Da haben sie die beiden schon betrogen. Das habe ich dem Dee auch mal gesagt,« erzählt Bernd. Ebenfalls  begann er, in Berlin immer häufiger zu Konzerten zu gehen, vor allem zu denen seiner Lieblingsband Empty Trash. Zu Bernds Bedauern löste sich die Band bereits Anfang  auf. In der Rückschau war das jedoch vielleicht das Beste, was ihm passieren konnte. Denn erst nach dem letzten Konzert von Empty Trash begann Bernd Höhne so richtig in die deutsche Rock/Pop-Szene einzutauchen. Immer häufiger ging er auf Konzerte, manchmal drei, vier mal pro Woche. Er hat zwar nie Englisch gelernt, dennoch schaute er sich auch immer mehr junge Bands an, die in der ihm fremden Sprache sangen. Regelmäßig besuchte er Newcomer-Veranstaltungen, zum Beispiel im Dunker Club in Prenzlauer Berg, im Magnet Club in Kreuzberg oder im Waschhaus in Potsdam. So lernte er so unterschiedliche Bands und Acts wie Golden Pony Boy, Mega Mega, Vierkanttretlager, Casper, die Smokin Thompsons, Bakkushan und die Killerpilze kennen. Wie gesagt, eine Unterscheidung in cool und uncool, authentisch oder konstruiert, nimmt Bernd Höhne nicht vor. Findet er eine Band sympathisch ist er Fan, ganz einfach. Mit der Zeit lernte Bernd so viele Künstler kennen, dass er ein System entwickeln musste, um nicht den Überblick über all die Pflichtveranstaltungen zu verlieren. Zunächst legte er sich einen Leitz-Ordner zu, in dem er von nun an alle anstehenden Events archivierte. Er zeigt mir nun, mittlerweile wirkt er deutlich entspannter, einen besonders fettes Exemplar, in dem ich mich durch Dutzende, ausgedruckte und nach Monaten sortierte FacebookEvents durchblättere. Als Nächstes drückt Bernd mir eine Box mit Karteikarten in die Hand. In ihr stehen alle Bands, die er als die »seinen« bezeichnen würde. Ich sehe zwischen vierzig und fünfzig Kärtchen mit Namen, unter denen die jeweiligen Bandmitglieder aufgelistet sind. Wir blättern die Box gemeinsam durch. Ab und zu kommentiert er eine mit einem langgezogenen »ohhh«, wenn sich besagte Band mittlerweile aufgelöst hat oder mit einem kurzen Satz. Zum Beispiel: »Gott oh Gott, Mikroboy. Nicht so gut.«

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Für Bernd Höhne ist das mit der Musik mehr als nur ein Hobby. Es ist seine Lebensaufgabe geworden. Nur, warum? Woher nimmt ein Rentner die Motivation seine Abende regelmäßig in verrauchten, kleinen Clubs mit einer Horde junger Menschen und einigen Nachwuchs-Bands zu verbringen? »Ich weiß nicht. Früher, als meine Töchter so etwas gehört haben, dachte ich ja immer: Wie kann man nur so eine Buschmusik hören?«, lacht Bernd laut und fügt wenig später hinzu: »Ich finde es einfach immer schön, wenn ich so junge Leute eine Zeit lang ein bisschen auf ihrem Weg begleiten und mal mit ihnen reden kann. Ich suche auch nach den Konzerten oder per Facebook und Myspace immer den direkten Kontakt zu den Kids. Große Bands wie die Toten Hosen interessieren mich nicht so sehr. Die sind ja irgendwie schon an andere vergeben.« Zudem habe er durch die Musik seine Mädels, wie er sie nennt, kennen gelernt. Andrea und Alex, zwei eigentlich schon längst erwachsene Frauen, heißen die beiden. Sie begleiten Bernd Höhne zu vielen Konzerten. Zudem haben sich zu einigen »seiner Jungs« echte Freundschaften entwickelt. Von manchen Künstlern kennt er gar die Eltern. Schlechte Erfahrungen mit jungen Bands, die sein Interesse für ihre Kultur amüsant finden, habe er nie gemacht, versichert er mir. Im Gegenteil. Er werde sogar ab und zu gefragt, ob er nicht mal mit auf die Bühne kommen oder in einem Video mitspielen möchte. Ich muss zugeben, ein wenig zweifle ich noch immer. Eigentlich muss es doch Menschen geben, die Bernd Höhne nur an sich heran lassen, um sich mit ihm, dem ewig gutgläubigen, einen Spaß zu erlauben. Aber vielleicht, denke ich gleich, ist das auch nur mein innerer Pessimist, der nicht so recht glauben will, dass diese Musiker Bernd in ihren Reihen akzeptieren, ohne es merkwürdig zu finden, dass er ein halbes Jahrhundert älter ist als sie. Vielleicht ist das ohnehin egal, so lange Bernd die Aufmerksamkeit genießt, die man ihm zu Teil werden lässt. Und das tut er. Stolz berichtet er, dass er kaum über die Oberbaumbrücke Richtung Magnet laufen könne, ohne von irgendjemandem angesprochen zu werden. Viele Berliner Veranstalter würden ebenfalls wissen, wer er ist und die Musiker kennen ihn sowieso. Was mich dann doch auch interessiert: Ob es Musik gibt, die Bernd Höhne überhaupt nicht mag. Schließlich erscheint sein Bandgeschmack so vielseitig, wie ungewöhnlich. Da lacht er wieder: »Hier, diese Metal-Geschichten, die mag ich gar nicht, da könnt ich mir den Kopp abreißen. Rapper mag ich auch nur, wenn sie nicht so schnell sprechen. Vielleicht habe ich das nur noch nicht lange genug gehört, aber bei Prinz Pi zum Beispiel war ich mal bei einem Konzert

und das ist gar nicht mein Fall. Da komme ich nicht mit.« Das ist vielleicht das Schönste an Bernds Geschichte. Das er nicht vorgibt, alles zu verstehen. Er lernt eben immer noch, arbeitet sich mit großer Begeisterungsfähigkeit voran und behält sich jene kindliche Naivität im Umgang mit populärer Kunst bei, die so viele von uns längst verloren haben. Wir reden mittlerweile seit weit mehr als einer Stunde. Ich brauche eine kurze Gesprächspause, also entschuldige ich mich und verschwinde kurz auf Toilette. Ich kehre zurück, trinke einen Schluck Cola und spreche Bernd auf den eigentlichen Anlass unseres Gespräches an. Bernd hat nämlich angekündigt, im Herbst diesen Jahres, kurz nach seinem nächsten, runden Geburtstag, die Bandshirts an den Nagel zu hängen und aufzuhören. Ich frage ihn, warum er sich dazu entschieden hat: »So langsam muss ich halt auch mal Stopp sagen, das wird mir irgendwie alles zu viel. Und am . September organisiert meine Schwester für mich eine Party mit ganz vielen Freunden und Bands in der Kulturkantine Prenzlauer Berg. Ich weiß nicht, ob ich das wirklich will aber, hm, irgendwann muss man einfach mal einen Schlussstrich ziehen. Viele glauben mir das ja nicht, weil ich immer so cool wirke, aber ich bin ja schon echt alt. Ich bin einfach jung geblieben,« sagt Bernd. Ich frage ihn, woran das liegt. Er antwortet: »Ich war einfach noch nie jemand, der gerne auf der Couch rum hängt. Früher war ich immer im Schwarzwald Wandern, jetzt bin ich eben in Berlin unterwegs. Ja, wir werden sehen, hach,« beendet er die Aussage mit einem tiefen Seufzer. Mir fällt eine unlogische Stelle in Bernds Plan auf. Ich bitte ihn, noch mal den Ordner mit den Veranstaltungen heraus zu holen. Vorhin hatte er mir noch ein Facebook-Event von einer seiner Bands gezeigt, die ihm November ihr letztes Konzert spielen wird. Also zwei Monate nach seinem angedachten Abschied. Wir stellen fest, dass Bernds Konzertkalender bereits bis zum . Dezember  geht. »Da siehste es. Ich widerspreche mir schon wieder.« Bernd Höhne grinst mich an und ich kann nicht anders, als zurück zu grinsen. Nun sind alle meine Fragen beantwortet. Ich spreche noch kurz mit Bernd über sein zweites Hobby, Bücher, fotografiere ihn auf seinem Balkon in seinen Bandshirts, bedanke mich für ein schönes Gespräch und nehme Abschied. Ich komme aus dem Haus, laufe ein paar Schritte und blicke dann noch mal zurück. Da steht Bernd natürlich bereits wieder auf seinem Balkon und lächelt. Er winkt, ich winke unweigerlich zurück und denke mir: »Was für eine schöne Sache Musik doch ist.« Und dann gehe ich los.

Text Sasch a Eh lert


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· Ta n z e n d e K i n d e r ·

chuckamuck Draußen mag es regnen, schon seit Tagen. Doch im Keller des Molotow Club spielt das für eine knappe Stunde keine Rolle. Denn hier ist Geisterstunde, oder auch: Chuckamuck-Konzert. Denn als die Band mit umgeschnallten Gitarren die Bühne betritt, trägt einer, Lorenz heißt er, ein Gespensterkostüm. Wenig später schrammeln die Gitarren los und vermischen sich zu einem wenig filigranen Soundbrei. Leadsänger Oskar klingt irgendwie besoffen, jedenfalls versteht man schon seine kurze Begrüßung nicht so richtig. Also doch: Chuckamuck eine Schülerpunkband? Ja und nein. Einerseits erzählen die Texte von Chuckamuck tatsächlich in erster Linie von Leichtgängigem, von Spaß, Sorglosigkeit und Mädchen. Manchmal aber auch von Geistergirls, Dana Scully, Karl Egal und Bill McGrill. Erwachsen klingt definitiv anders. Und genau deswegen sind Chuckamuck eine gute Band. Denn andererseits macht die textlich ausgelebte Mischung aus Kindlichkeit und Jugendlichkeit vollkommen Sinn. Denn Chuckamuck kommen aus Berlin, also so richtig, seit ihrer Geburt. Und so erzählen die Songs auf »Jiles«,

der hervorragenden, zweiten Platte der Band, von der Natur und dem Land, kurz: Von einer Idylle, die man selten erlebt, wenn man in einer Stadt der Millionen groß wird. Nicht falsch verstehen: Die Jungs mögen Berlin, doch in ihrer Musik geht es häufig in erster Linie um Dinge, die ihnen fehlen. Chuckamuck wollen nicht nach Berlin, sie wollen weg, raus. Irgendwo hin, wo es romantischer ist, also irgendwie. Die Sehnsucht kennzeichnet »Jiles«, eine Platte, die manchmal wirkt wie ein Gegenentwurf zu durchdachtem DiskursRock. Wer ist diese Metaebene? Nach etwas mehr als einer Stunde beenden Chuckamuck ihren Auftritt im Molotow. Einige Minuten später spreche ich Oskar an. Wir sind zum Interview verabredet. Drummer Jiles kommt mit, der Rest der Band bleibt vorm Molotow stehen, um ein paar kühle Bierchen zu trinken und Freunde zu herzen. Wir hingegen schlendern zu dritt zur nächsten Straßenecke, biegen ab, passieren die Kiez-Tanke und setzen uns schräg gegenüber auf einen großen Stein. Ich lege das iPhone neben mich. Und Play!

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skar

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Seid ihr eine Deutschpunk-Band?  Ne, auf gar keinen Fall. Wir sind schon eine Punk-Band, aber eher leider in Deutschland geboren. Wobei, eigentlich sind wir einfach eine Rock-n-Roll-Band. Wir mögen natürlich assige Punk-Songs, aber wir wollen auch mal romantische Liebeslieder schreiben dürfen. Und Jiles sagt sowie so immer, dass er nicht zwei mal den selben Beat spielen will. Wenn wir früher meinten: »Ey, hier, spiel doch mal so: Dünk-Düsch-D-DünkDünk-Düsch, meinte er immer nur ›Niemals‹« (lacht).

Wie bist du an den Film geraten? O Der Metal-Kumpel, mit dem ich meine erste Band hatte, war totaler Beatles-Fan. Ich selbst war damals vor allem begeistert von den Black Lips und wollte eigentlich Musik machen wie die. J Ich wollte einfach Schlagzeug spielen, ich hatte keine Band im Kopf. Ich habe einfach so frei Schnauze losgelegt. O Aber du warst damals großer Libertines-Fan. J Das stimmt. Ich schätze man kann gar nichts dagegen machen, dass so etwas einen beeinflusst.

Chuckamuck existieren mittlerweile schon eine ganze Weile. War das eure erste Band? O Ne, also Lorenz war früher in einer Acid Jazz-Band. Und ich habe vorher in einer totalen Kack-Band gespielt.

Für die Black Lips durftet ihr vor einiger Zeit auch den Support spielen. O Stimmt, das war schon cool. Aber, auch wenn es scheiße ist so etwas zu sagen, die waren früher echt besser. Ich habe sie mal  oder  im King Khan und im West Germany gesehen. Das war so beeindruckend damals, da haben sie noch bei ihren Konzerten auf der Bühne gepisst und gekotzt. Ich war gerade  und durfte denen danach dabei helfen ihr Schlagzeug in den Bus zu tragen und so. Mich hat das damals sehr beeindruckt. Aber als wir mit denen gespielt haben, da kamen sie so müde und gelangweilt rüber. Diese krasse Energie ist mittlerweile einfach weg.

Warum habt ihr Chuckamuck gegründet? O Also ich wollte unbedingt in einer Band spielen, seit dem ich »A Hard Day’s Night« gesehen habe. In dem Film gibt es diese Szene, in der die ganzen Mädchen den Beatles hinterher rennen. Das hat mich damals total geflasht. Das wollte ich auch!


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Manche Leute behaupten, bei Chuckamuck ginge es nur um Freibier und Mädchen. Stimmt das? O Es geht uns auf jeden Fall um Mädchen! J Und um Freibier! (lacht) O Trotzdem: Wir nehmen das, was wir tun, sehr ernst. Alle sagen immer, wir würden unsauber spielen, dabei haben wir zwischen dem ersten und dem zweiten Album wirklich hart an unserer Performance gearbeitet. Allerdings wollen wir auch auf gewisse Weise unsauber und roh klingen. J Aber irgendwie haben die Leute schon recht. Wir lieben das Leben einer Rockband schon sehr. Wenn wir in der Fremde ein Konzert spielen, dann wollen wir nach der Show auf jeden Fall noch was erleben. Das ist manchmal allerdings schwierig. Dann ist die Stadt tot und dann stehste halt da: »Und, was machen wa jetzt?« Was war euer bestes Provinzerlebnis? J Wir sind mal irgendwo in Belgien im Keller eines Antiquitätenladens aufgetreten. O Das war verrückt. Überall drum herum waren nur Kühe und so … J Und dann haben sich die Leute dort total gehen lassen. Die haben sich ausgezogen und mit irgendwelchen Dildos herum gespielt. Ging da nicht auch die ganze Zeit so ein Topf mit Gras herum? Also dis war einfach total abgefahren. O Uns ist es wirklich wichtig, unsere Fans kennen zu lernen. Das ist sowieso das Geilste daran, in einer Band zu spielen: Wir sind ständig auf Reisen und lernen ganz unterschiedliche Menschen kennen. Zum Beispiel hat uns der Soundmann vom Molotow eben gefragt, ob wir auf seiner Hochzeit spielen wollen. Natürlich wollen wir! Solche Sachen finden wir immer am Besten. Wir wollen nicht nur in Clubs spielen, sondern eigentlich überall! Ihr habt mal gesagt, ihr macht Musik in erster Linie für Zwölfährige. O Ja, genau. Wir wären sehr gerne eine dieser Bands, die andere Kids dazu motiviert, selbst Musik zu machen. Mit zwölf Jahren nimmt man Rockbands noch sehr, sehr ernst. Diesen Bezug verliert man leider immer mehr, je älter man wird. Nimm zum Beispiel die Black Lips. Als ich  war, da waren die für mich die Größten. Ich möchte, dass wir Jugendlichen auch so viel bedeuten. Außerdem sind Kids häufig das beste Publikum. Die haben noch wirklich Lust zu tanzen und auszuflippen.

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»Jiles« klingt nach Sommer und Meer. Dabei ist in Berlin doch eigentlich immer Winter. Wie kommts? O Ich glaube wir haben ziemliches Fernweh und fühlen uns in Berlin nie zu  wohl. Während der Aufnahmen für »Jiles« haben wir Urlaub in so nem Dorf namens Ringenwalde gemacht. Wir waren viel Angeln und sind sogar auf dem Dorffest aufgetreten. Das ist eigentlich viel eher nach unserem Geschmack. J Wir sind da irgendwann mal mit Leuten von dort ins Gespräch gekommen. Die haben uns dann erzählt, dass sie am selben Abend in so einer Scheune ein kleines Festival veranstalten. Dann haben wir da gespielt und es war spitze. Das war so wie ein in Erfüllung gehender Traum, von dem man gar nicht wusste, dass man ihn hat. Gibt es eigentlich einen Plan B zu Chuckamuck? J Ne, dit iss es einfach und dit muss auch klappen! O Wir haben uns ja auch schon mit  den Bandnamen auf die Brust tätowieren lassen. Das ist was fürs Leben.

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Dabei könnte er euer Vater sein.. O Schon. Er hat es auch voll drauf eine Band zu motivieren. Gleichzeitig war er dann auch wieder total albern, wie ein -Jähriger, der im Körper eines -Jährigen steckt. J Und ein mieser Buffer ist er auch (alle lachen). Als ihr euer erstes Album rausgebracht hat, wurdet ihr überall als die ständig betrunkenen Rotzlöffel vorgestellt. Findet ihr das noch geil? O Nicht wirklich. Aber wir waren ja auch selbst daran Schuld, dass es so gekommen ist. Wir sind schon voll die Alkis und Kettenraucher, aber natürlich auch mehr als das. Ihr wollt als Künstler ernst genommen werden? O Klar. Für mich war übrigens das ganze Odd Future-Ding ein großer Einfluss. Einfach, weil die von den Artworks, bis zum Merchandise und den Videos alles selbst machen. Ich habe alles, was die machen, in den letzten Jahren mit einer Mischung aus Neid und Faszination verfolgt. Die haben so ein riesiges Managment und machen trotzdem alles genau so, wie sie das wollen. Als ich das erste mal das Earl-Album gehört habe, habe ich mich auch gefühlt, als wäre ich wieder . Odd Future sind auf gewisse Weise ja auch eine Punk-Crew.

Staatsakt schreibt ja, die letzten von euch hätten erst im vergangenen Jahr ihr Abi gemacht. Wie alt seid ihr eigentlich? O Also das ist Quatsch. Niemand von uns ist so jung, ich weiß nicht. Ich glaube Staatsakt steht darauf, aus uns eine Schüler- Du gestaltest ja alle eure Plakate, Artworks und T-Shirts. Willst du band zu machen (lacht). das noch ausbauen? O Auf jeden Fall. Bettwäsche, Unterwäsche, das kommt alles Aber ihr ward schon wirklich mit Moses Schneider im Studio? noch. (lacht) J (lacht) Das schon, ja. Macht ihr eure Musikvideos eigentlich auch selbst? Was ist das für ein Typ? O Jo, die schneidet und filmt Lorenz meistens. Das GeistergirlO Ein Super-Typ, ein totaler Freak. Als Staatsakt uns ihn vorgeVideo haben wir in seiner Wohnung gedreht. schlagen hat waren wir erstmal skeptisch und eingeschüchtert. Aber dann kam Moses bei uns vorbei und war einfach sehr Seid ihr also die deutschen Odd Future? sympathisch. Wir haben in der Musikindustrie sehr viele, äl- O Öhm, also, ja. Wir sind die deutschen Odd Future! tere Leute kennen gelernt, die so komisch kumpelhaft mit einem reden. Moses war anders. Er hat auf Augenhöhe mit uns gesprochen. J Er wirkt so cool und ungekünstelt. Als er uns im Proberaum besucht hat, kam er einfach rein, setzte sich auf die Couch, rauchte erstmal entspannt ne Kippe und guckte sich an, wie wir so arbeiten. O Er wollte von Anfang an, dass wir unsere Anlage aus dem Proberaum in sein Studio schleppen. Außerdem erzählte er uns was von den Dead Kennedys und wie wir in seinen Augen klingen I l l u s t r a t i o n e n O s k a r Wa l d I ntervi ew Sasch a Eh lert müssten. Das kam schon irgendwie alles sehr cool.

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D a g toebielr t 2


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ich will nicht, dass

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ihr meine lieder singt

Deutscher Straßenrap gehört nicht in die Charts. Er gehört nicht ins Fernsehen, gehört nicht ins Radio und in keine Tageszeitung. Ich bin nicht der Einzige mit dieser Meinung. Anders als die meisten, möchte ich mit ihr jedoch keinen mahnenden, moralischen Zeigefinger heben, sondern mich ganz im Gegenteil vor eine Kultur stellen, die schlicht nicht dafür gemacht ist, in der breiten Öffentlichkeit stattzufinden.

· Chabos, Babos und goldene Rehe ·

Denn ich liebe deutschen Straßenrap. Das tue ich wirklich und ohne ironisches Augenzwinkern. Ich liebe die markigen Sprüche eines Haftbefehl, die wahnwitzigen Aufzählungskünste von Celo und Abdi, die detaillierte Ortsbeschreibung, die Olexesh vom Darmstädter Stadtteil Kranichstein liefert und wie Veysel »Gauloises-Kippe« sagt. Außerdem bin ich von der Bi-Sprache der Bonner »Alles Oder Nix«-Crew ebenso begeistert, wie von dem rauen Charme und dem rohen Slang der Hamburger »-Straßenbande«. Wann immer ich das in der Öffentlichkeit bekunde, erhalte ich von dem einen oder anderen einen schrägen Blick. Ich könne das doch unmöglich ernst meinen. Häufig gerate ich dann in Erklärungsnot, meine Argumente, die in einer beizeiten stürmischen Liebesbekundung münden, wollen nie ausreichen.

Und da sind wir bereits am Kern des Problems angekommen. Die breite Öffentlichkeit blickt argwöhnisch auf deutschen Straßenrap. Man assoziiert mit ihm uralte Stereotype und tut ihn ab. Das ist zunächst mal jedoch gar nicht schlimm, mir ist die Zwiespältigkeit der Thematik durchaus bewusst. In der Vergangenheit konnten sich Mainstream und Straßenrap getrost fern von einander halten, für die Rap-Künstler macht das keinen großen Unterschied, wie aktuelle Verkaufszahlen und Chartplatzierungen zeigen. Leider Gottes war es gerade jener rege Zuspruch der eingeschworenen Fans, die sich am Veröffentlichungstag kauffreudig in den Elektronik-Märkten aufstellen, der die Massenmedien auf den Plan rief. Unlängst verkauften etwar die Herren Kollegah und Farid Bang in der ersten Woche   Einheiten und gingen wenig


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später Gold – die großen Medien wurden erst nach diesem Überraschungserfolg überhaupt auf das Duo aufmerksam. Ab diesem Punkt wurden nun plötzlich moralische Maßstäbe angelegt, die die Rapper ohne eine, durch die Medien stark vergrößerte, Öffentlichkeit nie hätten erfüllen müssen. Dem geübten Rap-Hörer muss keiner weiter erklären, dass es sich bei den Songs auf »Jung, Brutal, Gutaussehend «, dem Erfolgsalbum von Kollegah & Farid Bang, um verbale Actionfilmsequenzen handelt. Die allermeisten Zeitungs-Leser jedoch sind nicht mit den sprachlichen und inhaltlichen Eigenheiten des Straßenraps vertraut. Ihnen erscheint das Gerede von Müttern und Muskeln verständlicherweise neu, fremd und gefährlich. Augenscheinlich treffen hier zwei Welten aufeinander, die einfach nicht miteinander harmonieren können. Symbol der ewigen Missverständnisse ist immer noch ein unseliges, goldenes Reh. Als Bushido  auf dem roten Teppich einer bekannten, deutschen Preisverleihung auftauchte, hatte das maßgeblich zwei Gründe. Erstens war da die deutsche Öffentlichkeit, repräsentiert durch den Helmut Burda-Verlag, der sich mit dem zweifelhaften Ruf des Rappers schmücken wollte, um für sich selbst und die eigene Veranstaltung aufregende Schlagzeilen zu generieren. Bushido selbst erhoffte sich von der ganzen Sache einen befreienden Einzug in die gesellschaftliche Mitte vor den Augen der Öffentlichkeit. Zwei völlig gegenläufige Interessen.Weil das mit den Schlagzeilen (wie immer bei Bushido) freilich tadellos gelang, zog der Künstler hier gewissermaßen den Kürzeren. Auf die soziale Anerkennung, mit der der vergoldete Paarhufer eigentlich dotiert war, wartet er bis heute. Der Schluss, den man daraus ziehen muss, ist klar: So groß eine Öffentlichkeit auch sei und so bereitwillig sie auch mit dem Verteilen von mehr oder minder gut gemeinten Lorbeeren umgehen mag, wenn aus ihnen nicht der nötige Respekt spricht und ihre Intentionen von gönnerhafter, eigennütziger oder gar ironischer Natur sind, dann hat der Künstler verloren. So auch Bushido, der spätestens seit dem Tag, an dem Peter Maffay (!) eine Laudatio auf ihn hielt, in der Falle steckt. Den Geschäftsmann Anis Ferchichi dürfte das nicht allzu sehr schmerzen, schließlich hat der noch immer die Schlagzeilen im Griff wie kein zweiter. Ein, zwei geübte

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Handgriffe und schon rufen die Zeitungsjungen in der ganzen Republik mal wieder seinen Namen. Das der Künstler Bushido sich heute wieder so klar auf der Gegenseite positioniert und mit groben Parolen um die Ecke kommt, liegt allerdings wohl nicht nur an marketingstrategischem Kalkül, sondern ist auch eine musikalische Verzichtserklärung auf alle vergangenen und kommenden Preise des gesellschaftlichen Mainstreams. Bushido wollte dazu gehören, sich in höheren Kreisen einnisten, man ließ ihn nicht. Man führte ihn vor, nun dreht er diesen Menschen den Rücken zu. Das ist verständlich. Dass er ihnen zudem den Stinkefinger zeigt ist Geschmackssache. Es gibt Dinge, die gehören nicht zusammen. Ein Mensch, der den Geist und das kreative Potential der HipHop-Szene nicht zu schätzen weiß, der sollte sich über sie informieren oder sich von ihr fern halten. Beides ist legitim. Gönnerhaftes Schulterklopfen jedoch ist genau so fehl am Platze wie ironische Zustimmung. Am Ende des Tages gilt es festzuhalten: Viel mehr als für seinen unternehmerischen Ehrgeiz und seinen marketingstrategischen Weitblick schätze ich Bushido für sein Talent als Entertainer, seine Eloquenz und eben seinen sprachlichen Wahnwitz und Hang zum Absurden (zuletzt: »Ich stehe ganz allein auf der Spitze eines Bergs/ Und du machst weiter Ayran aus der Wichse eines Pferds«, aus: »So mach ich es«). Ich wünsche mir, dass man Bushido irgendwann wieder mehr mit solchen Sätzen in Verbindung bringt, als mit dummen Schlagzeilen in schwarz und rot. Denn die sind immerhin noch Geschmackssache. Das einseitige Vorführen eines Künstlers hingegen ist es nicht. Zu guter letzt ist eine weitere Gefahr für künstlerische Identitäten der Mainstream, insofern er die Kanten eines Künstlers abschleift, um seine Arbeit für die breite Masse verständlich zu machen. Was dann, den so wunderbar wahnsinnigen Aussagen beraubt, übrig bleibt, sind schließlich nur die unreflektiert vorgeworfenen Stereotype. So setzt sich der Künstler schließlich der Gefahr aus, sich selbst vorzuführen. Hoffen wir also besser, dass das PreisKomitee des Burda-Verlags nie erfährt, wer denn nun dieser Babo ist, von dem die Kids alle sprechen, ihm zuliebe.

Max LeSSmann

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älter werden mit no age

· » A n O b j e c t « i m Z e i ta lt e r s e i n e r t e c h n i s c h e n R e p r o d u z i e r b a r k e i t ·

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philipp wulf

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Das Duo No Age aus Los Angeles verharrt im Spagat und renoviert dabei ganz unaufdringlich den Punk. Ihr neues Album »An Object« ist gerade auf dem Label Sub Pop Records erschienen und zeigt die Band von einer experimentelleren Seite als bisher. Bleibende Melodien, Punkattitüde und Coolness enthält die Platte aber genau so – und das obwohl No Age über Coolness gar nicht mehr nachdenken wollen.

»I'm a punk and I rebel against people telling me what's right and Band No Age, die neben ihm nur noch aus dem Schlagzeuger und wrong.«, sagt Randy Randall ineinem seiner scheinbar nie endenden Sänger Dean Allen Spunt besteht, tatsächlich ist. Wenn Randall von Redeflüsse. Der Geist von Negative Approach winkt aus der Vergan- Punk spricht, dann meint er damit offenbar keine Traditionshöriggenheit – das mag man nicht ins Deutsche übersetzen. Aber handelt keit, sondern eine ganz individuelle und zeitgemäße Interpretation es sich nicht um eine dieser Plattitüden, die schon seit viel zu vielen jener Formen und Inhalte seiner musikalischen und persönlichen Jahren wiedergekaut werden? Das könnte man meinen. Hört man Sozialisation. Es sei immer besser nach Vorne zu schauen, anstatt in Randall aber eine Weile zu, so wird deutlich, wie tief er diese Hal- der Vergangenheit zu verweilen, sagt Randall und formuliert damit tung eingesogen hat und wie handlungsleitend sie für ihn und seine womöglich das künstlerische Credo von No Age.


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»Wir mache n d a s all es nicht, um Geld zu ve rdie ne n. Wir könne n unse re Miete z ahl e n und hab e n g e nug zu esse n. « Denn auf ihr neues Album, das in diesen Tagen erschienen ist, trifft diese Aussage allemal zu. Vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Veröffentlichungen zeigt sich »An Object« experimenteller und zum Teil auch wieder rauer, wie ein Blick auf die (nicht mehr ganz so junge) Geschichte der Band illustriert: Als Nachfolger ihrer vorherigen Noise-Hardcore-Band Wives hatten sich Spunt und Randall im Jahr  als No Age neu formiert. Ihr erster Langspieler »Weirdo Rippers«, eigentlich eine Versammlung selbst veröffentlichter Vinylsingles, verschaffte ihnen dann  größere Beachtung. Wenig später verpflichteten sie sich, ihre weiteren Platten beim Label Sub Pop zu veröffentlichen – der Ritterschlag. Es folgten die allseits gelobten und geliebten Alben »Nouns« im Jahr  und »Everything in Between« im Jahr , die ihrem stürmischen ZweiMann-Krach zuletzt auch eine unleugbar poppige Note verliehen. Zwischen diesen Alben erschien die «- »Losing Feeling«, die nicht unterschlagen werden sollte, ist sie doch für viele das größte Juwel im No Age-Œuvre. Im Anschluss hob sich »Everything in Between« wohl am Stärksten ab, da hier die Stücke durchdachter als sonst erschienen und über die energetische Rauheit hinausgingen. Man glaubte der Platte ihren einjährigen Entstehungszeitraum. Zur Bandhistorie gehört jedoch immer auch dies: Der Zuspruch von Pitchfork, dem großen Monopol des internationalen Musikjournalismus, war ihnen immer gewiss. Die Türen, die sich ihnen damit öffneten, wussten sie stets zu nutzen, um ihren eigenen Weg noch konsequenter beschreiten zu können. Nicht immer fiel es ihnen aber leicht, in diesem Spagat zwischen -Kultur und internationalem Erfolg die Balance zu halten. Letztendlich, so Randall, seien sie jedoch immer ihrer Intuition gefolgt. Dabei hätten sie permanent aus ihren Fehlern lernen müssen. Längst nicht alles ist Gold, das glänzt, meint Randy. Wieder so eine banale, große Weisheit. Von Anfang an seien sie sich bewusst gewesen, dass ihre Musik nicht jedem gefallen könne, aber Menschen zumindest den prinzipiellen Zugang zu ihrer Musik zu verschaffen, sei ihnen immer wichtig gewesen: Ein eigenartiges Verhältnis von Pragmatismus und Idealismus. Schon häufiger folgten sie zum Beispiel Konzerteinladungen, die bei einer reizvollen Gage eine kostenfreie »all ages«-Show versprachen. Wurde der Konzertvertrag mal nicht aufmerksam gelesen, waren sie umso überraschter, ihr Equipment vor dem Poster einer Tabak-, Alkohol- oder Bekleidungsmarke aufbauen zu müssen, für die sie ihren Namen eigentlich nicht hergeben

wollten. Das würden sie jetzt tunlichst vermeiden, meint Randall und fügt unschuldig hinzu: »Wir machen das alles nicht, um Geld zu verdienen. Wir können unsere Miete zahlen und haben genug zu essen.« Es gehöre nicht zu ihren Aufgaben, Alkohol zu verkaufen, das tue der ja schließlich von selbst. »Wir wollen einfach nur Shows spielen.« Spunt singt im Albumopener dazu: »I don't work for you / You have no clue / Of my goals or aspirations / Who do you think I am? / I'm not involved with them.« Auch musikalisch meint man diesen Balanceakt ausmachen zu können. So halten Spunt und Randall immer ausreichend Distanz zu dem Moment, in dem ein Stück in den Pop zu kippen droht. Der Klang bleibt bis heute einer gewissen Lo-Fi-Ästhetik verschrieben, durch die man sich bisweilen erst durcharbeiten muss, um an die Schönheit der Songs zu gelangen. Lo-Fi meint hier aber keinesfalls eine halbherzige oder billige Produktion. Die Mühen, die auf das Finden des Sounds verwendet werden, sind zu jedem Zeitpunkt präsent. Das Fehlen des Basses, es muss thematisiert werden, es ist niemals eine Not, sondern eine Tugend, denn man vermisst ihn nicht. Die Überraschung mag deswegen jetzt umso größer sein. Ihr neues Album wird von dem Stück »No Ground« eröffnet; nach kurzem, traumartigem Gitarrengeklirre ertönt ein Bass. Dean Spunt, der schon bei den »Wives« den Bass spielte und sich für No Age erstmals an ein Schlagzeug setzte, trommelt hier nicht. Auch wenn man das Schlagzeug erst im nächsten Stück erwarten darf – der Opener geht unmittelbar nach vorne, es entsteht ein Rhythmus. Wodurch, das wird nicht ganz klar. Längst nicht alle Geräusche, die in »No Ground« und auf dem Rest der Platte zu hören sind, lassen sich ohne Weiteres zuordnen. Die Materialität von Musik wird ausgestellt, nicht über das Feiern von seltenem Vintage-Equipment, sondern – nur vermeintlich paradox, tatsächlich ungeheuer konsequent – durch den verstellten Blick auf das verwendete Werkzeug. Im Pressetext liest man von präparierten Kontaktmikrofonen, doch auch mit dieser Information bleiben die Sounds mysteriös. In der Verwunderung über die Klangherkunft tritt die Musik in ihrer Gemachtheit zutage. Wie bewusst dieser Schritt vollzogen wurde, betont Randall mehrmals. Anfang  hätten sie begonnen, an neuen Stücken zu arbeiten, aber schnell sei ihnen bewusst geworden, dass sie kreativ stagnierten und eigentlich nur »Everything in Between« fortschrieben. »Wir wollten nicht länger die gleiche Methode benutzen wie zuvor, denn sie

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führte uns zwangsläufig zu den gleichen Resultaten.« Sie begannen also zu experimentieren, doch auch das förderte zunächst nur unbrauchbare Ergebnisse zutage. Erst im September  gingen sie ins Studio, wo die Stücke ihre entscheidenden Wendungen nahmen. Abgesehen von »C'mon, Stimmung«, der seine Form weitestgehend behielt, wurden hier alle Songs noch einmal überarbeitet, neu geschrieben oder neu arrangiert. Erst jetzt passierte der Großteil jener Arbeit, die heute auf »An Object« hörbar ist. Bis März dauerten die Aufnahmen an, am Ende hatten sie  Stücke oder Songskizzen aufs Band gebracht, aus denen sie auswählten. Das fiel ihnen nicht einmal besonders schwer. Die meisten Stücke, sagt Randall selbstkritisch, seien nicht gut genug gewesen, um auf dem Album Platz zu finden. Auch für zukünftige Veröffentlichungen oder Überarbeitungen schließt er sie deswegen gegenwärtig aus. Lieber möchte er immer neue Dinge ausprobieren. Der Fortschritt interessiere ihn mehr, als das selbst erschaffene Archiv. Nicht nur dieses bewusste Durchschreiten der Formen, die Vielseitigkeit des Albums – zum Beispiel mit Blick auf die Streicher bei »An Impression« oder die Melancholie von »Running from AGo-Go«, die beiden Stücke, die zusammengenommen den Ruhepol der Platte markieren, auch nicht allein die vielen synthetischen Klänge und gesampleten Schlagzeugbeats machen »An Object« zu einem gewaltigen, ästhetischen Statement. Das hier geschaffene Objekt lässt sich tatsächlich als ein Gesamtkunstwerk beschreiben. So verbrachte die Band unzählige Stunden damit, die erneut vom langjährigen Kollaborateur und mittlerweile Grammy-Nominierten Brian Roettinger gestalteten Cover in Handarbeit zu falten. Ein noch so ausgeprägter -Idealismus mag bei einer Erstauflage von   Kopien schon mal an seine Grenzen geraten. Es sei ihnen aber wichtig gewesen, alle Schritte in der Albumproduktion selbst zu betreuen, sich der verwendeten Produktionsmittel bewusst zu werden und persönlich so weit wie möglich involviert zu bleiben. Der Künstler könne genauso Produzent wie Fabrikant sein und sie würden eben gerne hart arbeiten, sagt Randall ohne dabei prätentiös zu klingen. Vor allem habe das immer auch etwas mit ihrer Neugierde zu tun. Doch mag man in dieser Entscheidung auch etwas Politisches entdecken. Die Warenförmigkeit der Schallplatte wird kenntlich

gemacht und in der Handfertigung auratisch überhöht. Für Spunt und Randall ist die Auseinandersetzung mit Produktionsbedingungen sowieso schon länger ein wichtiges Thema. So spielten sie zum Beispiel ein Anti-Walmart-Benefiz oder unterbrachen ein von Converse gesponsertes Konzert, um ein selbst zusammengeschnittenes Video abzuspielen, das Bilder, der vom Konzern eingesetzten Kinderarbeiter zeigte. Auch wenn der Veranstalter für einen verfrühten Abbruch sorgte, die Aktion initiierte Diskussionen. No Age entpuppen sich damit als eine politische Band, die ihre Politik außerhalb der Musik oder zumindest außerhalb ihrer Texte verhandelt. Eine allzu klar formulierte, politische Aussage in der Kunst fordert Affirmation ein und verspielt damit ihr emanzipatorisches Potential. Über die eingangs berührte Frage (»what's right and wrong«) kann also nur in der eigenständigen Auseinandersetzung entschieden werden. Was bei anderen zu blindem Opportunismus führt, wird von No Age in Aktion verwandelt: Es gäbe eben Dinge, die sie nicht verantworten könnten. Gleichzeitig seien sie nicht darauf aus, Menschen zu etwas zu überzeugen. Das sei bei dem, von beiden Musikern gelebten, Veganismus auch so. Auf YouTube kann man ihnen beim genüsslichen Verzehr von Tofu-Burgern zuschauen, einen Appell leiten sie daraus nicht ab. Und so scheint es auf sie anwendbar zu sein: Das Politische liegt in der Form. No Age erschaffen einen offenen Klangraum, der nicht durch geläufige Produktionsverfahren oder mühevoll erlernte Spielweisen begrenzt wird. Ihre Stücke zeugen von der Liebe zu einer direkten Energie, zelebrieren die Hingabe zur Rockmusik – und dekonstruieren sie zugleich. Diese prinzipielle Offenheit lässt ihnen viele Möglichkeiten. Auf die Frage nach der musikalischen und persönlichen Zukunft und nach der anstehenden Geburt seines ersten Kindes, antwortet Randall gelassen. Er freue sich auf alles, was kommt, und sei über die neuartigen Aufgaben nicht besorgt. Früher habe er Angst davor gehabt, dass die Jugend und das allein ihr gehörige Gefühl verschwinden und er damit etwas verpassen könne. Jetzt aber sei ihm klar, dass er nichts verpasst habe. Er sei allenfalls ehrlicher zu sich selbst und nicht mehr so bemüht darum, cool auszusehen. Über den von No Age beschrittenen und immer noch andauernden Weg resümiert er: »I realize it's a cool party with all the cool people.« Auch das mag man nicht übersetzen.

»Wi r w ol l te n ni cht l ä ng e r di e g l e i che Metho d e b e n u t z e n w i e zuv or, d e nn si e f ührte un s zwang sl äuf i g zu d e n g l e i che n Resul tate n . «


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Der Glamour ist in Kreuzberg angekommen. Seit dem Deutschlands schönster Bezirk nicht mehr direkt hinter einer Mauer liegt, fühlen sich in ihm längst nicht mehr nur Migranten und junge Menschen mit Flausen im Kopf wohl. Die Urbanität versprechende, oberirdische U-Bahn-Linie U1, die nie schlafenden Straßenzüge, die allgegenwärtige Marihuana-Duftnote, die Begrenzung durch Landwehrkanal und Spree, sowie die Mischung aus Gründerzeit-Altbauten und Nachkriegs-Wohnblöcken zogen immer mehr Menschen an, die den Begrenzungen der Kleinstadt entkommen wollten. Spätestens heute ist Kreuzberg selber eine. Oder besser gesagt: Zwei. Da ist die alteingesessene Bevölkerung, größtenteils mit Wurzeln im Ausland, die sich ohnehin das Dörfliche im Großstädtischen erhalten hat. Und dann sind da die Massen, die irgendwie kreativ arbeiten und sich auch irgendwie alle kennen. Ihnen hängen jene am Rockzipfel, die der Sexyness des Künstlerischen nachrennen, sowie die von Jahr zu Jahr größer werdenden Touristenmassen auf der Suche nach dem Geist Kreuzbergs. Doch dieser läuft Gefahr, so langsam in selbstherrlicher Dekadenz an der eigenen Coolness zu ersticken. Oder?

Es läuft ein Musikvideo. Wir sehen Palina Rojinski, ihres Zeichens -Pin Up-Girl, Promi- und noch einiges mehr, vor der Kamera. Während sie die Lippen zu den Lyrics des Songs »Lila Wolken« von Marteria, Yasha und Miss Platnum bewegt, tänzelt sie sich durch eine Wohnung, in der sie immer mehr Freunde trifft. Auf der Toilette sitzt  Fitti, hinter dem Duschvorhang steht eine Frau, Marteria wirft mit Konfetti. Im Wohnzimmer pokert der Berliner Rapper Megaloh mit Freunden, an der Bar werden Drinks ausgeschenkt und immer mehr Menschen versammeln sich. Die Atzen kommen vorbei, sie bringen einen aufblasbaren Riesen-Penis mit. Es ist eine ganz große Gaudi, bei der Sinn und Verstand keine Rolle spielen. Es wird viel geherzt und gelächelt in diesem Video, alle scheinen Teil einer ganz großen, Alkohol-seligen Familie zu sein. Dabei sehen sie sich gar nicht ähnlich. Was verbindet sie also? Die banale Antwort: Ein Name, ein Slogan, er prangt unter anderem auf Palinas Brust: »doesit!« Wenn man in einem der Berliner Innenstadtbezirke wohnt, kennt man diese Formal vermutlich, schließlich kann man ihn seit einigen Monaten an jeder Laterne, an jedem Späti und auf jeder versifften Club-Toilette entdecken. Die einfache Formel ist einem Rap-Text entlehnt. Einst behauptete ein hervorragender : »Eazy duz it« und meinte damit sich selbst. Die Wahlfamilie doesit sieht das ähnlich und es fällt schwer ihnen zu widersprechen. Die Familie ist eigentlich eine Firma und produziert sehr erfolgreich Videos unterschiedlichster Art. Ihre Arbeiten haben häufig einen sehr konkreten Kreuzberg-Bezug. Ob sie nun mit lauten Bildern den Verlauf eines Open Airs des Clubs Watergate nacherzählen, für ein Musikvideo der Berliner Untergrund Rap-Ikone Mach One am Kottbusser Tor drehen oder Marteria mitsamt Freunden im Späti filmen – Berlin spielt stets eine Rolle. Mit all diesen Drehorten

kann man wohl selbst etwas anfangen, wenn man noch nie mehr als  Stunden in Kreuzberg verbracht hat. Denn die Clubs und Plätze, an denen sich die jungen Menschen im Bezirk tummeln, sind heute beinahe allgemeingültiges Kulturgut. Seit dem sich in der Gegend immer mehr Werber und Filmmenschen aufhalten, sind sie medial omnipräsent und wurden zu Klischees. Dadurch wirkt es manchmal wirklich so, als würde sich das Leben in Kreuzberg heute einzig um das Nachtleben drehen. Kunst, Denken, Machen – alles vorbei? Nicht, wenn es nach doesit geht, die zwar mit ihren Arbeiten das leichte, verantwortungslose Kiez-Leben feiern, in Berlin aber dennoch mehr sehen als nur einen riesigen Abenteuerspielplatz. Kreuzberg am Meer Um  Uhr mittags ist das Kottbusser Tor fast ein idyllischer Ort. Vor den Cafés, Kiosken und Imbissen sitzen Menschen, Mütter gehen mit ihren Kindern einkaufen, zwielichtige Gestalten laufen geschäftig umher, die Alkies und Junkies halten ihren üblichen Treffpunkt besetzt. Knappe  Fußminuten vom Herz Kreuzbergs entfernt liegt das Büro von doesit im obersten Stockwerk eines alten Industriegebäudes. Dort hin hochgehievt wird man von einem alten Lastenaufzug, der gefährlich rumpelt und knarzt. Nachdem sich die Türen geöffnet haben, wird man mit einem abgewandelten Drake-Zitat begrüßt: »Started From The Bottom, now you're here!« Geht man nun nach rechts, steht man direkt im Büro der Designagentur Cheesecake Powerhouse, engen Freunden der -Crew. Mit ihnen teilt man sich die Räumlichkeiten und teilweise auch größere Aufträge. Drei, vier Leute arbeiten hier an lang gezogenen Tischen an ihren iMacs. Dieser erste Bereich ist durch einen Durchgang mit einem zweiten, größeren verbundenen, in dem einen

ein ähnliches Bild erwartet. Hier begrüßt mich zunächst Maxim Rosenbauer – Skater, -Gesellschafter und sympathischer Flausenkopf in Personalunion. Er führt mich eben durchs Büro. »Hier, das da links haben wir Saddam geklaut«, sagt Maxim und meint damit eine Reihe große Spinde, die sie mal bei einem Dreh in der verlassenen Botschaft des Iraks entdeckt und schließlich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit dem Auto abtransportiert hatten. Ein paar Meter weiter arbeitet der Rest des -Teams gerade an mehreren Videos gleichzeitig, an der Wand hängen ausgedruckte Video-Stills. Dann geht es ums Eck in den Wohn- und Küchenbereich des geräumigen Büros. Auf einer weißen Couch liegt einer und schläft. Maxim kommentiert mit einem Achselzucken: »Das ist Che, der Chef von Cheesecake Powerhouse. Wir haben natürlich keine geregelten Arbeitszeiten. Da kann es auch passieren, dass hier mal einer rum liegt und ein Mittagsnickerchen hält.« Im großen Kühlschrank mit Glasfront liegen in erster Linie Soft-Drinks und Wodka-Flaschen. Oben drauf steht eine Magnum-Flasche Goldkrone. Während Maxim uns einen Kaffe kocht, entdecke ich an

der Wand ein Toast, das mit dem -Logo gebrandet ist. Solche hatte die Gang zur offiziellen Firmengründung im Frühjahr  hundertfach an Kumpels und Kollegen verschickt, um zu einem sonntäglichen Brunch zu laden. Aktionen wie diese und ihre, im Kreuzberger Stadtbild omnipräsenten, Logo-Sticker prägen das Image von doesit als Spaß-betonter, cooler Verein, der gleichzeitig, in dem man »geilen Scheiß mit Kumpels« macht, die Miete von mehr als einem Dutzend Menschen sichert. Auch wenn der Backlash mittlerweile da ist, nicht jedem gefällt es, wie offen und ausgiebig  die Nacht, das Leben und sich selbst feiern – zu diesem Erfolg kann man die Jungs und Mädels nur beglückwünschen. Allzu viele Kreative, insbesondere in Berlin, lassen sich von Arbeitgebern und Kunden für einen Hungerlohn ausnutzen, um zumindest die Miete für ein Altbauzimmer in guter Lage einzuspielen, doesit haben sich nun eigene Strukturen geschaffen, mit denen sie sich selbst finanzieren und zudem Freunde mit Jobs als Statisten oder im Catering unterstützten können. Bei doesit bleibt das Geld in der selbst gewählten Großfamilie.


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jetzt mal wieder dick Kohle für ein neues Auto. Wir kommen alle mit dem Fahrrad zur Arbeit. Hätte eine Firma wie EASYdoesit in einer anderen Stadt auch funktioniert? S Ich glaube nicht. Hier in Berlin existieren nebeneinander viele unterschiedliche Szenen, die sich gegenseitig befruchten. HipHop und Graffiti, Skaten, Musik – in jedem Bereich passieren spannende und coole Dinge. So einen Ort gibt es in Deutschland kein zweites mal. Aber auch anderswo in Europa kenne ich keine Stadt, in der man so gut miteinander vernetzt ist. Ich habe das Gefühl, dass die Szene-Strukturen in Städten wie London und Paris viel autarker funktionieren. M Mir wollte mal jemand weiß machen, dass es in Berlin so läuft: Man gibt fünf Jahre lang richtig Gas und dann wird es sich irgendwann richtig lohnen. Da könnte etwas dran sein. Viele Skate-Firmen und so haben fünf Jahre lang keinen Cent verdient, bis dann irgendwann Red Bull in sie investieren wollte oder so und plötzlich lief der Laden. Wenn man Freunde hat, gemeinsam an etwas glaubt und eben nicht jeden Scheiß mit macht, sondern sich treu bleibt, dann wird sich das irgendwann auszahlen. Man verdient zwar lange Jahre wenig und investiert viel, aber am Ende fährt man damit trotzdem besser, als wenn man versucht, um jeden Preis schnelles Geld zu verdienen.

… Bis zur Sykline

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Mit dem Kaffee in der Hand steigen wir dem doesit-Büro aufs Dach. Durch eine Luke geht es rauf und in die Sonne über Wo zieht ihr die Grenze? Kreuzberg. Im Westen sieht man das Springer-Haus, im Nor- M Wir wollen uns nicht für irgendwelche ekligen Projekte an die den die Sozialbauten am Kottbusser Tor. Ich nehme mit Maxim Industrie verkaufen. Wir müssen jeden Auftrag vor uns selbst und Sebastian von Gumpert (kurz: Sebi), ebenfalls Gesellschafrechtfertigen können. ter bei doesit und im Vergleich zu Maxim ein ruhiger Zeit- S Ich glaube Maxim würde zum Beispiel nicht sein Archivfootgenosse, auf Liegestühlen Platz. Wir fangen an zu reden, streiage der letzten zehn Jahre für einen Werbespot an Vodafone fen die HipHop-Backgrounds der Leute, die hier arbeiten, reden verkaufen. über aktuelle Video-Projekte, die Triple-Feier der Bayern und M Eigentlich denken wir wenig an Geld. landen schließlich bei der Frage, ob es Auftraggeber gibt, an die S Natürlich müssen wir alle irgendwie leben, aber.. doesit ihre Arbeitskraft nicht verkaufen würden. M Wir sitzen jetzt nicht herum und denken uns, wir brauchen

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im Monat gelebt. Nebenbei habe ich mir den ganzen Filmkram beigebracht. So ein Leben kannst du dir anderswo gar nicht leisten. Meine alten Freunde sind alle Lackierer, Tischler und so. Die stehen alle um sechs auf. Ich kenne hier in Berlin niemanden, der so früh aufsteht. Da sagen dann wiederum Leute, wir hier in Berlin würden alle auf der faulen Haut liegen, aber das stimmt einfach nicht. Wir arbeiten halt immer nachts. Wir kennen diese Vorwürfe ja aus erster Hand. Meine Tante aus Bochum hat mich auch immer gefragt: 'Was ist denn das für Arbeit?' Aber ich glaube am Ende des Tages arbeiten wir mehr als sehr viele andere. Die Leute machen sich ja gerne über die Berliner mit ihren ganzen Projekten lustig, aber wir wissen eben, dass es sich auszahlt, wenn man jahrelang Energie in etwas Eigenes investiert. Hier hat man außerdem mehr Spaß, weil die Leute sich gegenseitig helfen. Wenn man hier jemanden fragt, ob er noch mal schnell eine Farbkorrektur dazwischen schieben kann, dann macht er das halt. Das hat etwas mit Gegenseitigkeit zu tun. Eine Hand wäscht die andere. Man hilft einander gerne, fühlt sich gut an. Wenn man miteinander freundschaftlich umgeht, dann fördert das auch die Kreativität. Akzeptable Mieten sind auch sehr wichtig. Ich glaube, es schadet der Kreativität, wenn man hohe Fixkosten begleichen muss, deshalb versuchen wir, die möglichst gering zu halten. Jeder, der bei uns mit macht, kann gut davon leben und wir können es uns auch mal leisten, Sachen auszuprobieren – nicht für das Geld, sondern weil sie uns Spaß machen. Das würde nicht funktionieren, wenn wir krass hohe Kosten hätten.

Also läuft es schon über Jahre-langes Netzwerken? M Schon, dein Umfeld definiert dich ja auf gewisse Weise. Ohne die Leute um uns herum könnten wir nie so gute Arbeit abliefern. S Weißt du, was auch krass ist? Das wir eigentlich alle Berliner sind. Aber auch Kreuzberg verändert sich. Wird auch hier der Platz für ExM Außer ich. perimente irgendwann verloren gehen? S Okay, du bist mit  nach Berlin gekommen. Ich hasse auch S Die Gefahr besteht. diesen Zugezogenen-Nazi-Quatsch, wir haben ja mit Jesper M Jetzt nicht für uns und wir kennen auch relativ viele, Fotograauch einen Dänen in unserem Team, aber irgendwie macht uns fen aus Spanien und so, die es ziemlich schnell schaffen hier auf das vielleicht auch zu etwas Besonderem. Vielleicht haben wir die Füße zu kommen. auch genau deswegen so gute Connections. Die Kontakte, die S Andererseits gibt es auch viele, bei denen es nicht läuft. Die erwir hier haben, die kann man sich eben nicht innerhalb eines trinken dann in ihrer -Bowle. Natürlich kannst du nach Jahres aufbauen. Berlin kommen und dir denken, dass du hier schon an Erfolg M Natürlich spielt es auch eine Rolle, dass man hier billiger als kommst, wenn du nur dein Ding machst. Wenn man dann anderswo überleben kann. Ich bin Jahre lang nur geskatet, ohne aber nur im Kater Holzig rumhängt, dann wird das natürlich festen Job oder so. Manchmal habe ich noch die Pfandflaschen nichts. Man muss schon Biss und Ambition mitbringen, aber vom Skate-Spot mitgenommen und von ein paar hundert Euro dann kann es hier immer noch jeder schaffen. Text

Sasch a Eh lert


bitte kein bier

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b it e k ein bier t

Bietet mir kein Bier an. Ich weiß mehr über das Biertrinken als alle Biertrinkenden. Bier ist das leichte Narkotikum der Sklaven. Die seitgescheitelten Archäologen fragten sich, wie konnten diese genialen Ägypter nur die Pyramiden erschaffen? Nun, das Planen und Konstruieren war sicher nicht leicht. Aber wieviel millionfach schwerer als das Planen war die Umsetzung. Sklaven haben die Pyramiden errichtet, Sklaven sind zu Tausenden dabei in den Tod gegangen. Die Frage ist nicht: Wie konnten die Sklaven das schaffen? Denn es lassen sich schwerste Steine versetzen, wenn nur genügend zur Arbeit gepeitschte Menschenleiber, deren Leben nichts wert ist, zur Verfügung stehen. Die Frage ist: Warum haben die Sklaven nicht rebelliert? Warum haben sie nicht die zahlenmäßig unterlegenen, ägyptischen Soldaten und Adligen überrannt? Dabei wären vielleicht weniger von ihnen gestorben, als bei der Schinderei des Steineschleppens… Die Antwort ist: Bier. Dieser Trunk hat sie gefügig gemacht. Bier macht dich schläfrig, Bier besänftigt. Es gibt dir Kraft – es ist nahrhaft. Es macht trunken auf eine sanfte Art. Es unterdrückt Aufstände. Die Sklaven meckern über ihre Herren beim Bier, doch jene spendieren ihnen auch den Trunk. Das machen sie noch immer so. Beide Seiten. Die Sklaven sitzen in ihren Eckkneipen, Trinkhallen oder Wohnzimmern und meckern über »die da oben«. Das Bier ist der Schmierstoff, der die unförmigen Räder der Arbeitermaschine ineinanderfassen lässt. Bier schmiert. Erst kommt das Bier als Start-Flüssigkeit. Danach folgen Schweiß, Sperma, Kotze, Blut – egal in welcher Reihenfolge. Sie sind die anderen Flüssigkeiten, in denen sich die Biertrinker suhlen, wie die Schweine im Dreck. Bietet mir kein Bier an. Ihr beleidigt meinen geschmacklichen Adel.

Text

Felix Eule

r e p o rtag e

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·HINTERLAND· ·HINTERLAND·

TB EE MRB 2013 E R 2013 27. 27. S E PS TEEPM

· H· IHNI TNETRELRALNADN TDO TU OR U2R0 1240· 1 4 · 06/03 S A ASRABARR ÜBCR KÜ EN RK ERK 06/03 C K· EE-W N ·EE-W 11/03 HAN R · ESR W ·I SSSWLIISFSE LHI A L LH A L L 11/03 HNAOV N NEOV FE 13/03 E R F U R T · S TA DTG A R T E N 13/03 E R F U R T · S TA DTG A R T E N 14/03 M Ü N C H E N · Z E N I T H 14/03 M Ü N C H E N · Z E N I T H 15/03 L E I P Z I G · H AU S AU E N S E E 15/03 L E I P Z I G · H AU S AU E N S E E 17/03 F Ü R T H · S TA DT H A L L E 17/03 F Ü R T H · S TA DT H A L L E 18/03 O F F E N B AC H · S TA DT H A L L E O FAFRETN·BSAC DT 19/0318/03 S T U T TG C HHL E· YSETA RH A LHLAEL L E 19/03 S T U T TG A R T · S C H L E Y 21/03 H A M B U R G · S P O R T H A L LEER H A L L E S PLO R THH 22/03 D21/03 O R TMHUANM DB· UWREGS T· FA EN AA L LLEL E 22/03 N DC H ·W E LSITNFA L EANLH ALLE 04/04 B E R LDIO N R· TM M AUX-S ME G -H LE

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Dagobert


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die froschmänner

Hier war wirklich niemand. Ein Strand aus feinem, weißen Sand, Der Strand war berühmt für sein klares Wasser. Wenn man weit das türkis schimmernde Meer – und keine Menschenseele außer heraus schwamm, konnte man am Boden noch die Korallenriffe Jana. Sie stützte sich auf den linken Unterarm, mit der rechten und bunten Fischschwärme erkennen. Manchmal fuhr Jana mit Hand schirmte sie die hellen Strahlen der Sonne ab und sah auf einem Boot aufs Meer hinaus, ließ ihren Kopf über den Rand das glitzernde Wasser. Vermutlich war sie kurz eingenickt, denn die hängen und blickte stundenlang auf den Grund. Es war, als würde Sonne war seit ihrer Ankunft in der Mittagszeit ein ganzes Stück man durch eine hauchdünne Glasscheibe blicken, die nur hin und nach rechts gewandert. wieder von leichten Wellengang erschüttert wurde und alles ganz Und noch irgendetwas hatte sich verändert. Still war es am seltsam verzerrte. Strand schon vor ihrem Nickerchen gewesen, aber jetzt schien Wie sie so darüber nachdachte, fegte ein leichter Hauch über es als wären alle Geräusche an diesem Ort isoliert worden – ja, die Wasseroberfläche hinweg. Sandkörner rieselten über die Seite so als hätte jemand die Tonspur einfach runtergedreht oder ihr des Buches, das Jana in den Händen hielt. Es fröstelte sie ein wenig. Watte in die Ohren gestopft. Jana kniff erneut die Augen zusam- Sie schüttelte den Sand aus dem Buch und blickte auf das endlose men und blickte auf das Meer. Die Wasseroberfläche war ruhig. Blau vor ihr, welches nur am rechten Rand von einer kleinen FelIn den vergangenen Wochen hatte der Wind nur einige, weni- senformation geschnitten wurde. ge Male behutsam über das das Wasser gehaucht – aber selbst Wasser, hatte Jana einmal gelesen, hat die Eigenschaft, alle Fardann schwappten nur vereinzelt kleine Wellen an den Strand. ben bis auf Blau zu verschlucken. Das Blau wird reflektiert und

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zurückgeworfen und gibt dem Meer seine Farbe. Nur war das Wasser jetzt nicht mehr blau und klar und durchsichtig. Stattdessen schimmerte das Meer in der Bucht in einem satten Türkis, umrahmt vom gelben Sand. Je länger Jana auf dieses tiefe Türkis starrte, desto dunkler verfärbte sich das Wasser. Die Sonne schob sich hinter eine Wolke und der Wind schob die schwarzen Fransenschatten über das Wasser vor Jana. Dann bildeten sich an einigen Stellen kleine Strudel. Von ganz weit weg vernahm Jana ein leises Rauschen. Tiefschwarz türmte sich das Wasser an drei oder vier Stellen auf, gluckerte leise, drehte sich ineinander – solange, bis sich in der Mitte eine weiße, feste Gischt bildete, deren Flocken im Inneren der Strudel hinabstürzten. Jana fröstelte und beobachtete gebannt, wie sich an immer mehr Stellen das Wasser auftürmte und in sich zusammenfiel. Sie wollte aufstehen, ihre Sachen packen und heimgehen. Es würde sicher gleich regnen. Aber sie konnte nicht. Sie saß einfach da und starrte auf diese dunkle Wasseroberfläche. Und dann glitten plötzlich die Köpfe aus dem Wasser. Es waren von schwarzem Gummi umhüllte Köpfe. Dort, wo man die Augen vermutete hätte, waren nur beschlagene, dunkle und großflächige Brillengläser zu sehen. Vom Mund aus führte ein daumendickes Rohr am Ohr vorbei bis über den Kopf. Es waren unzählige Taucher, die dort aus dem Wasser stiegen. Taucher, die in schwarzen Anzügen steckten. Selbst an den Händen trugen sie eng anliegende Handschuhe, ihre Füße steckten in riesigen Flossen. »Froschmänner« wurden Kampftaucher früher genannt. Und genau so sahen die Gestalten aus, die rein gar nichts mit den Sporttauchern zu tun hatten, die hier im Hafen mit großen Booten in Gruppen zu zehn Leuten herausfuhren. Es waren unheimliche Geschöpfe, die ab der Hüfte im Meer zerflossen. Ihre tiefschwarze, feuchte Haut glänzte kalt unter dem Licht, das ab und an noch durch die Wolken brach. Die Taucher stiegen langsam aus dem Wasser. Es waren so viele von ihnen, das Jana sie nicht mehr zählen konnte. Schritt für Schritt kamen sie näher, bis Jana von diesem Pulk aus Froschmännern umgeben war. Es waren große Männer, unter deren Taucheranzügen sich breite Schultern, kräftige Arme und starke Beine abzeichneten. Dicht gedrängt standen die Froschmänner stumm um Jana. Sie atmeten leise ein und aus, ganz gleichmäßig. Dabei sogen sie die Luft durch ihre Schnorchel ein und pusteten sie auch dort wieder hinaus. Das gleichmäßige Röcheln kroch in Janas Gehörgang und schwoll zu einem unerträglichen Rauschen an.

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Panisch blickte sie in die Masken der Männer, die immer noch näher kamen und sich über sie beugten. Sie suchte nach einer Regung, irgendetwas Echtem. Nichts. Wie gelähmt lag Jana da, dann beugte sich einer der Männer zu ihr, streckte einen seiner langen Gummiarme wie in Zeitlupe aus und bewegte seine Finger auf ihr Gesicht zu. Unerträglich langsam kam dieser dunkle, lange Arm näher und umschloss Janas Hals. Es war kein fester, aber ein bestimmender Griff. Der Froschmann drückte Janas Kopf in den weichen Sand, der unter dem Druck noch ein Stück weit nach gab und sich dann verhärtete. Jana spürte die kleinen Steinchen auf ihrer Kopfhaut. Dann legte der Mann seine andere Hand über Janas Augen und ihre Nase. Sie wurde panisch, schnappte durch den Mund nach Luft. Durch die Nase sog sie nur noch diesen scharfen Geruch des Gummis ein. Jana wollte schreien, aber in diesem Moment drückte der Mann seine andere Hand auf ihren Mund. Sie roch das beißende Gummi, atmete es ein, schmeckte das Salzwasser und als sie versuchte, dem Mann in die Hand zu beißen, klebte ihre Zunge an seinem Gummifinger und hinterließ einen pelzigen Geschmack, der sich sofort in der gesamten Mundhöhle verteilte. Alles wurde ganz trocken. So trocken, dass Jana nicht mal mehr schreien konnte. Dann merkte sie, wie die anderen Männer sich ebenfalls zu ihr herunterbeugten und begonnen, sie anzufassen. Am ganzen Körper spürte sie das raue Gummi und den Wiederstand auf der Haut, als die Finger über ihre Knöchel, Hüfte und die Schultern glitten. Die groben Berührungen, das harsche Tasten und die drängenden Bewegungen brannten auf ihrem Körper. Ihr war, als klebten diese neugierigen Finger an ihrer Haut. Jedes Drücken, jedes Ziehen und jedes Quetschen glühte und brannte unerträglich. Jana strampelte mit den Beinen, aber jedes Zucken wurde sofort mit einem kräftigen Griff unterbunden. Heftig schüttelte sie den Kopf hin und her. Für einen Moment erhaschte sie einen Blick auf die tastenden und fühlenden Männer. Keiner achtete auf sie. Alle hatten ihre prüfende Blicke auf ihre Brüste, ihre Handgelenke und ihre Beine gelegt. Eine Hand senkte sich wieder über Nase, Mund und Augen, dann wurde sie bewusstlos. Als Jana wieder zu sich kam, schien alles wie vorher. Ein Strand aus feinem, weißen Sand, das türkis schimmernde Meer – und keine Menschenseele außer Jana. Nur die grünen und blauen Flecken am ganzen Körper und die gewaltigen Schmerzen im Unterleib, die waren vorher noch nicht dagewesen.

Jan Weh n


teil 3

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die unsichtbaren · Songtexte von Hendrik Otremba ·

Gelegentlich muss sich die Popkritik den Vorwurf gefallen lassen, ist. Es sollen die geschriebenen Zeichen zählen, obwohl bereits es ginge ihr allzu häufig um Texte, jedoch zu selten um die Musik das erste Stück des Albums appelliert: »Schmeiß den Stift weg, an sich. Hier soll es aber genau darum gehen: Die Lyrics der zwei- bitte sprich.« ten »Messer«-Platte ohne Musik aufzunehmen, keinesfalls vorher Im Folgenden werden, in der Hoffnung, dass sie im Leser ethineinzuhören in den Nachfolger zu »Im Schwindel«. Dies ist was auslösen, zunächst die zehn Song-Texte abgedruckt. Im Anohnehin unmöglich, schließlich erscheint »Die Unsichtbaren« schluss offenbaren schließlich die Musiker Kristof Schreuf und erst im kommenden Winter. Vor dem Hören kommt der Text, Pola Lia Schulten, sowie der Literaturkritiker Jan Drees ihre Geso wie vor dem Singen der Text in der Produktion entstanden danken zu den neuen Texten von Hendrik Otremba.


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Angeschossen

Werde nichts mehr in den Strudel werfen Alles kommt von dort zurück Meine Kleidung ist so schmutzig Und die Nächte sind so heiß Oberfläche zeichnet ein Gesicht Doch du weißt das bin nicht ich Es geht um Zeichen und es geht um Bilder Schmeiß den Stift weg, bitte sprich Denn die Straßen tragen keine Schilder Und alles dreht sich wie im Kreis Bitte sprich, oh sprich mit mir Ein Karussell, die Nacht so heiß Ein altes Zimmer, wilder Garten Der Himmel weiß die Welt am Draht Gehe ich zum Tor und blicke wartend Doch keiner kommt der davon weiß Worte finden heut kein Ende Und kein Mensch ahnt was Stille heißt Bitte sprich, oh sprich mit mir Ein Karussell, die Nacht so heiß Bitte sprich, oh sprich mit mir Auf der Flucht vor der Verachtung Bitte sprich, oh sprich mit mir Und es gibt nichts anderes hier

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r eoptoi zr t a g e n

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Die kapieren nicht

Er braucht es wie die Luft zum Atmen Trink die Nacht, trink die Luft der Nacht Wie ein großer Vogel über der Autobahn Lässt er sich herab Sie kennt die Leute, sie kommt hier immer hin Trink die Nacht, trink die Luft der Nacht Wie eine Spinne Von einer Lampe Lässt sie sich herab Schmeiß die Pennies Gegen die Wand Vom Dunst verschluckt verschwindet sie Wie ein Tier im Wald springen sie davon Trink die Nacht, trink die Luft der Nacht Dann kippt der Film, zur Wende hin Kippt zu uns herab Er schaut sie an, sie schaut ihn an Trink die Nacht, trink die Luft der Nacht Wie eine Spinne Von einer Lampe Lässt sie sich herab Schmeiß die Pennies Gegen die Wand Vom Dunst verschluckt verschwindet sie

D a gmoebs es r er t


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T O L LW U T ( M I T S C H AU M V O R D E M M U N D )

Während ich nach der Vergangenheit grabe Passiert soviel damit Während ich nach all den Fragen frage Nimmt mich nichts mehr mit Während ich dir dann die Wahrheit sage Gehst du den nächsten Schritt Warmes, trübes Wasser Während ich noch nach der Wahrheit grabe Passiert soviel damit Während ich noch das Verlangen habe Bist du schon auf dem Trip Während ich das alles nicht ertrage Machst du schon deinen Trick Warmes, trübes Wasser Während ich den Knall vernommen habe Kommst du schon nicht mehr mit Während ich dich durch die Straßen trage Passiert soviel damit Während ich dich nach dem Abgrund frage Machst du den letzten Schritt Warmes, trübes Wasser

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S TAU B

Staub setzt sich auf allem ab Und irgendwann auf jedem Alles was sich nicht bewegt Verschwindet aus dem Leben Und bleibt doch ewig Staub markiert den Stillstand Zeigt dass etwas liegen bleibt Gleicht Erinnerung Vergessen an Verschwindet aus der Zeit Und bleibt doch ewig Dann passiert etwas Einer sucht etwas Dinge ändern dich Türen öffnen sich Helligkeit trifft auf Dunkelheit Der Staub verwischt Und die graue Schicht Wirbelt auf und tanzt im Licht

Ein anderes Leben Beginnt zu strömen Ein Mensch kommt herein Sein Schatten färbt den Schein Staub hängt in der Luft Staub an seinen Fingern Der Staub wird heut zur Kluft der Zeit in all den Dingen Dann passiert etwas Einer sucht etwas Dinge ändern dich Türen öffnen sich Helligkeit trifft auf Dunkelheit Der Staub verwischt Und die graue Schicht Wirbelt auf und tanzt im Licht Dann passiert etwas Einer sucht etwas Dinge ändern sich Türen öffnen dich Helligkeit trifft auf Dunkelheit Der Staub verwischt Und die graue Schicht Wirbelt auf und tanzt im Licht


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DAS VERSTECK DER MURÄNE NEONLICHT

Durch die Risse im Beton Steigt gelber Dampf empor Ein Zischen ist zu hören Was haben sie heut’ vor Von unten hört man Stimmen Und ein Kind das leise lacht Doch die Worte sind verschwommen Hinter Mauern streng bewacht

Und das Neonlicht Es blendet mich Es zeigt mich bleich Wenn’s in den Augen sticht Ja das Neonlicht Das sich im Fenster bricht Es zeigt mich bleich Wenn’s in den Augen sticht

Und das Neonlicht Es blendet mich Es zeigt mich bleich Wenn’s in den Augen sticht Ja das Neonlicht Das sich im Fenster bricht Es zeigt mich bleich Wenn’s in den Augen sticht

Ein Lichtertanz im Schattenland In einer Ecke, an einer Wand Ich lass mich fallen, such deine Hand Kann dich nicht spüren, bin ausgebrannt Die weißen Fliesen sind so kalt Mit Dreck bespritzt, ein Donner halt Das Wasser läuft den Schacht herab Im Neonlicht nehme ich die Maske ab

Ich brauche einen Schutzhelm Für meine Nerven, ihre Macht Sagt sie und verschwindet In den Schluchten jener Nacht Was wollte sie mir sagen Was haben wir nur gemacht Ich hebe meinen Kopf Doch nichts in mir erwacht

Dieser Klang ist so tief Dass man die Geister hören kann Ihre Stimmen sind so kalt Sie zerstören dich als Mann Alles was du bist Im Chlorgeruch Schießt mit schmerzhaftem Eifer In ein weißes Taschentuch Im Rausch die Idee Und im Schmerz dann dieser Text Gießt du Öl ins Feuer und erschrickst Dich vor den Flammen Alles was du bist Im Chlorgeruch Schießt mit schmerzhaftem Eifer In ein weißes Taschentuch Im Rausch die Idee Und im Schmerz dann dieser Text Gießt du Öl ins Feuer und erschrickst Dich vor den Flammen Dieser Klang ist so tief Dass man die Geister hören kann Ihre Stimmen sind so kalt Sie zerstören dich als Mann

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E S G I B T E T WA S

T I E F E N R AU S C H

Irgendwo zwischen  Uhr nachts Und dem neuen Morgen Kommt ein Traum mit ganz viel Macht Er stammt aus meinen Sorgen Ein Wesen aus der Vergangenheit Ich weiß dass es nicht mehr lebt Spricht mich an und ich gehe mit Einfach nur weil es so einfach geht Alles ist wieder wie es niemals war Und es wird auch nie so werden Ich kenn dich nicht mehr doch ich habe Angst Du könntest wieder sterben

Ich hörte mal von einem Der anders war als ich Und bekam es mit der Angst zu tun Denn das bist du nicht Sagte ich zu mir Und empfand als lächerlich Und empfand als lächerlich Was ich eigentlich längst wusste Und ich nahm mich an die Hand Und ich wurde mich nicht los Sagte „Bitte nur, verlass mich nicht“ Versetzte dir den Stoß Und am Ende dieser Worte Werde ich damit sterben müssen Dass ich der bin der ich bin Und ich werde es bleiben wissen Denn es gibt etwas in mir Das brauchst du gar nicht wissen Und du wirst es nie erfahren Wirst es nie erfahren müssen

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suesser Tee P L AT Z P AT R O N E N

Platzpatronen Wie verschwommene Stimmen Millionenspiel Tote Fische schwimmen Die Stadt im Sommer Die Stadt im Regen Wasser auf Asphalt Der Geruch von Leben Träum mich in eine Welt Die ich nicht haben kann Hol mich einfach hier raus Und hilf mir irgendwann Platzpatronen Der Geruch von Leben

Jetzt wird es dunkel Kann nichts mehr sehen Jetzt wird es dunkel Muss weitergehen Nebel auf Wasser Im grünen Licht Dein süßer Tee Den du versprichst Jetzt wird es dunkel Kann nichts mehr sehen Jetzt wird es dunkel Muss weitergehen Nebel auf Wasser Im grünen Licht Dein süßer Tee Den du versprichst Mein Mantel absorbiert das Licht Und der Regen, er interessiert mich nicht Mein Hut hält die Gedanken ab Und die Schwerkraft zieht mich zu dir herab

Dein süßer Tee Jetzt wird es dunkel Du wartest schon Mit deinen Koffern Im Zug nach Interzone Ich lass mich nieder Greife zum Tisch Dort steht der Tee Den du versprichst Das Leben wird zur Kleinigkeit Und der Tod gerät in Vergessenheit Ein Schatten hinter einer Tür Er lacht mich an, zeigt mir den Weg zu dir Dein süßer Tee Der süße Tee


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f r ü h e r b e g a n n d e r ta g m i t e i n e r s c h u s s w u n d e

h e u t e au c h n o c h

»Werde nichts mehr in den Strudel werfen« , schreibt der Sänger Hendrik Otremba. Stünde ein »Ich« davor, würde sich der Satz noch mehr wie ein Bekenntnis lesen. Aber die auslassende Formulierung wirkt wie etwas, was sich jemand beiläufig an Erledigungen für den Tag notiert. Tatsächlich ist es die erste Zeile im ersten Stück »Angeschossen« auf »Die Unsichtbaren«, der neuen Platte der Band »Messer«.

Lied, im Zentrum der Bestürzung, die Zeit nehmen muss, um sich wieder aufzurichten. Und sei es, um weiter singen zu können. Um zu zeigen, dass man kein Gott, kein Halbgott und auch keine Kunstfigur ist, sondern einer von uns. So dürfen wir den Angeschossenen nennen, denn wir sind die, die ein Satz im Text mit dem Protagonisten verbindet. Der Angeschossene hat sich zu ihm durchgerungen: »Das bin nicht ich.«

Was sind nochmal Sänger? Leute, die etwa exaltiert, romantisch oder vom Berg runter davon berichten, was sie tun. Manchmal auch Leute, für die sich das Leben schon einiges geleistet hat, bevor sie damit begannen, Worte dafür zu finden. (In diesem Fall Hendrik Otrmeba, vorausgesetzt, dass es sich bei ihm um den Angeschossenen im Text handelt.)

So hat ein Satz ja auch durchaus populäre Qualitäten. Er ist die Fahne, die wir alle vor uns hertragen. Sie gemahnt des größten Horrors: Meine Güte, bin ich er?! – Nein, »das bin nicht ich.«

Erst hat es sie mit Wassern gewaschen, dann mit Teer übergossen und auch noch mit Federn beworfen. Das, was bisher zum Leben dazuzugehören schien – die ganzen Bescheidenheiten, die vielen Meinungen und Meinungsangebote – entfernt sich. Im Fall des Angeschossenen ermöglicht dies, dass er Anlauf nimmt und von diesem Planeten abhebt. Jetzt kann er fliegen. Seine Verwundung hat ihm seine neue Fähigkeit verliehen. Während er die Arme ausbreitet und sich Eindrücken hingiebt, sieht er, wie alles, was in den »Strudel« gerät, wieder »von dort zurück« kommt. Es landet aber nicht irgendwo, sondern fällt auf ihn zurück: »Meine Keidung ist so schmutzig.« Verschwitzt ist er auch, denn »die Nächte sind so heiß«. Der Angeschossene bekommt also schon vom Anfang der Platte an wenig Gelegenheit, eine gute Figur zu machen, und es soll noch dicker kommen. Es liegt auf der Hand, dass der Angeschossene in den Strudel geraten ist, weil er etwas rauskriegen, eine Spur finden wollte, etwa der Wahrheit, der Liebe, der Musik, der beruflichen Aussichten oder der Antwort auf die Frage, was das große Ganze soll. Doch so einsatzfreudig er sich dafür auch vom »Strudel« durcheinanderwirbeln ließ – von der Außenwelt, vom bewusstseinsbestimmenden Sein, vom Brummen in seinen Eiern oder den Sonnenstrahlen in seinem Arsch – er blickt auf etwas Glattes: »Oberfläche zeichnet ein Gesicht«. Er hat ein dünnes Brett gebohrt, er hat nur am Rand gekratzt, er ist nicht sehr weit gekommen. Er hat nicht sehr tief gegraben. Erfahrung, Lebensklugheit oder auch nur der »Check«, den manche zu haben behaupten, stehen nicht zur Verfügung. Das Drama bleibt profan, die Tragödie spielt sich bloß in den Gesichtszügen ab.

Der Angeschossene kommt mit dem Notieren kaum nach, die Ereignisse hetz- und treibjagen alles voran. Dringlichkeit befiehlt: » Schmeiß den Stift weg« und »bitte, sprich«. Zwei Vermutungen: Entweder wird der Angeschossene jetzt selbstbewusst, indem er, wie zum ersten Mal, den Mund aufmacht und Worte über den Kiefer nach vorne schiebt. Oder er hofft, jemandem zu begegnen, der ihm solange ein Klavier ins Trommelfell »spricht«, bis ihm Hören und Sehen und Schreiben vergangen ist. Den Angeschossenen hat der »Strudel« an einen Ort gezogen, den er nicht kennt: »Die Straßen tragen keine Schilder.« Er findet sich jetzt in einer Gegend, in der sich noch kein Signifikant über ein Signifikat geschoben hat. Da gibt es für Hauptpersonen und für Sänger noch einiges zu tun, auf den Punkt oder auf den Begriff zu bringen. Oder auf ein Vorhaben. Denn ob er »ein altes Zimmer« besichtigt, ein »wilder Garten« seinen Weg kreuzt oder er »zum Tor« geht und dort »wartend« blickt, der Angeschossene befindet in recht malerischen Thetaterkulissen »auf der Flucht vor der Verachtung«. Das ist das Thema des Liedes. Es geht um die Haltung des Sängers zur Haltung beim Gesang. Alles, was der Angeschossene auf der »Flucht vor der Verachtung« zu tun hat, ist – noch mehr Gründe zu finden, um sich zu verachten. Und das heißt, weiter singen zu können. Daher seine Aufforderung: »Sprich«. Und fordernder: »Sprich mit mir«. Und sehnsüchtiger: »Oh, bitte, sprich mit mir.« Singen ist der Schritt raus aus der »Stille«. Singen ist rot werden mit Worten. Singen ist Flirten mit Lautstärke. Singen ist der dritte Akt. Singen ist Schämen. Das ist eine Menge und das ist gut. Hendrik Otremba hat in »Angeschossen« nicht weniger als den Anfang allen Gesangs am Wickel. Und das ist, wie gesagt, nur das erste Stück auf der Platte.

Die berühmte »Oberfläche«. Das Gesicht ohne Seele. Das Land, über das wir angeblich seit Langem schlittern und, wie es Neo-Existentialisten raunen, noch lange weiter schlittern müssen. Die Entdeckung dieser »Oberfläche« setzt so zu, dass man sich nun, mitten im Kristof Schreuf zum ersten Stück »Angeschossen«

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ANGESCHOSSEN Jan Drees: Das Wort Messer kann nicht stechen, das sagt sich so leicht. Es geht ums Schießen, angeschossen sieht sich das lyrische Ich der Welt gegenüberstehen, in einem Zustand der Ermattung. »Werde nichts mehr in den Strudel werfen/Alles kommt von dort zurück«, die moderne Reformulierung des biblischen Satzes: »Der  hat‘s gegeben, der  hat‘ genommen« aus Hiob .. Heute nimmt das Netz (auch im Sinne des textus, des Gewebes) alles in sich auf, wir sind von Wörtern umzingelt, die sich im Strudel, im schnell drehenden Diskurs bewegen, »ein Karussell, die Nacht so heiß«, heißt es im Lied, sehnsuchtsvoll geht der Blick zurück in den »alten Garten«, oder ist dieser doch nur ein »totgesagter Park?« Die Zeiten, als Retro unbekannt, Retweets keine Vision gewesen sind, scheinen versunken wie tausendjährige Gewissheiten über den Bilder zerreißenden Säbelzahntiger Schrift. »Worte finden heut kein Ende«, da ist Sehnsucht, vom Fixierten ins Flüssige zurückzugehen, in nicht archivierbare, trotz des Sprechens nicht abhörbare Räume: »Bitte sprich, oh sprich mit mir/Und es gibt nichts anderes hier.«

Die kapieren nicht Jan Drees: »Schmeiß die Pennies gegen die Wand.« Ist das eine Hin- oder Abwendung vom anglo-amerikanischen Verweisraum der Popmusik? Professor Moritz Baßler, bei dem Messer-Dichter Hendrik Otremba über den »Retrodiskurs« promoviert, hat kürzlich in einem Vortrag über die emanzipatorische Haltung im deutschenglischen »Nur ein Traum« der -

Band Trio gesprochen (dreißig Jahre vor dem austro-amerikanischen Album »  « von Ja, Panik). Letztere haben sich mit Pennies der Hamburger-Schule entzogen, denn nur wer die Leute kennt, die immer hierhin kommen, der weiß, dass es darum geht: »Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit.« Wie eine Spinne kommt er auf uns nieder, mit Pennies allein können wir ihn besiegen, indem wir uns dem Verstehen entziehen – das ist schon nah an Heideggers Esoterik, nur wenn es heißt »Die kapieren nicht« scheint die Wahrheit nah. Pola Lia Schulten: Es eigentlich besser wissen, um es dann genau so zu tun wie immer. Das ewige Repeat der Nacht: StopRewind-Play-it-again. TOLLWUT (MIT SCHAUM VOR DEM MUND) Jan Drees: Ein Text, ins Wasser geschrieben, »während ich dir dann die Wahrheit sage/gehst du den nächsten Schritt«, das Phänomen von »Angeschossen« einmal umgedreht, denn alles fließt hinab. Worin wir uns einzuschreiben versuchen, ist Qwarmes, trübes Wasser« nicht mehr, es sind »Die Unsichtbaren«, die mit Schaum vorm Mund aus den Archiven schöpfen: »Während ich nach de Vergangenheit grabe/Passiert so viel damit«. Wobei zu fragen wäre, ob hier im Blick zurück die Dinge (neu) entstehen, oder es nicht doch ein Phänomen der Jetzt-Zeit ist, dass alles Suchen in dunklen Ecken abgebrochen wird durch stete Erleuchtung. Man kommt weder dem Zeitgeist hinterher, noch den Interpretationen über Vergangenes: »Während ich dich nach dem Abgrund frage/Machst du den letzten Schritt.«

Pola Lia Schulten:  Grad im Urmeer.  Grad in unseren Körpern. Warmes, trübes Wasser. Die Sehnsucht danach.

s tau b Jan Drees: Geisteswissenschaftler lernen seit Jahren die Gesetze der Thermodynamik, ohne sie zu verstehen. Am häufigsten zitiert wird das Phänomen der Entropie, gegen die man wieder nur Beerdigungssentenzen bemühen mag: »Erde zu Erde! Asche zu Asche! Staub zu Staub!», als hoffendes Zurückgehen in den Urzustand, wie in der Genesis verkündet: »Gott, der , pflanzte einen Garten in Eden, im Osten. Dorthin setzte er den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der , ließ aus der Erde alle Bäume wachsen. Sie waren schön anzusehen und gut zum Essen. Mitten im Garten war der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.« In welchem Zustand passiert nun etwas, wie nennt man es (Aufklärung?) wenn ein Mensch hereinkommt und »sein Schatten färbt den Schein (...) Der Staub verwischt/Und die graue Schicht/Wirbelt auf und tanzt im Licht.« Man möchte bei diesem epiphanischen Bild ausrufen: in dubio pro disco! Denn nur dort ist es eben so: »Die graue Schicht/Wirbelt auf und tanzt im Licht.« Pola Lia Schulten: Ist vieles mit allem verbunden?

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auf weißen Fliesen sitzt jemand dort, wo man einen Schutzhelm braucht, im Guantanamo der Liebesnot. Es ist die Klage des Verlassenen, der seine Umwelt als Gegensatz des klassischen locus amoenus entwirft: Stechendes Licht, kein beruhigendes Plätschern, es ist dunkel, nirgendwo hell, und kalt, »das Wasser läuft den Schacht hinab«. Pola Lia Schulten: Es ist . England. An einem Pier fährt ein gewisser Ian mit seiner Band vor. Es wartet Annik. Die Unmöglichkeit ihrer Liebe umweht den Moment. Es läuft dieses Lied.

Es ist: Ein Wesen aus jener Vergangenheit, die in dem Album immer wieder als Problem beschrieben wird. Dieses Mal geht, »einfach nur weil es so einfach geht« jemand mit. »Alles ist wieder, wie es niemals war/Und es wird auch nie so werden.« Pola Lia Schulten:

ES GIBT ETWAS

Jan Drees: Das ist besser als nichts. Der Sänger wird zum Hörenden und erschrickt DAS VERSTECK DER MURÄNE über das, was er zu hören bekommt. Nur von wem? Denn es geht um einen, »der anJan Drees: Jetzt sind auch die Stimmen kalt ders war als ich«. Ein Eifersuchtsanfall? Zuund wo im Lied zuvor ein Kinder noch rückgeworfen auf sich selbst, nimmt sich leise lacht, steigen Geister empor. Da ist da jemand an die Hand und hofft, sich jemand ganz tief gefallen: »Ihre Stimmen nicht selbst zu verlieren: »Und am Ende sind so kalt/Sie zerstören dich als Mann.« dieser Worte/Werde ich damit sterben Kann das schon der anti-feministische Im- müssen/Dass ich der bin der ich bin/Und petus sein, »im Rausch die Idee«, oder ist es ich werde es bleiben wissen.« Eine Furcht im Rausch der Idee, wo sich zwei Lager in vorm griechischen Gnothi seauton?, zuFlammen gegenüberstehen und die andere rückgeworfen auf sich selbst, in einem letz»gießt Öl ins Feuer und erschrickt.« ten Akt der Autonimie dann dieser Trotz: »Denn es gibt etwas in mir/Das brauchst Pola Lia Schulten: Hallo Riff, hallo Energie. du gar nicht wissen/Und du wirst es nie Mit diesem Song möchte ich einen Raum erfahren/Wirst es nie erfahren müssen.« betreten (um mir erst dann den Text genau anzuhören). Pola Lia Schulten: Die Flecken, die Abgründe ohne Namen in jedem.

Jan Drees: Es gibt einerseits das Neonlicht des Goose- und Klaxons-New Rave-Kosmos‘ und es gibt ein Neonlicht im entgegengesetzten Raum: streng bewacht,

Geruch von Regen«, das sind klassische Liebesliederzeilen, das Anrufen der Unerreichbaren: »Träum mich in eine Welt/Die ich nicht haben kann/Hol mich einfach hier raus/Und hilf mir irgendwann.«

Süsser Tee Jan Drees: »Nebel auf Wasser«, trifft mit dem alles verschwindenden Dunst aus »Die kapieren Nichts«, der in »Staub« kein Dunst ist, sondern dust. »Jetzt wird es dunkel«, das lyrische Ich »kann nichts mehr sehen«. Es ist ein Am-Abgrund-Stehen, alles findet im Nahbereich statt, im interzone wird das Leben zur Kleinigkeit, »und der Tod gerät in Vergessenheit/Ein Schatten hinter einer Tür/Er lacht mich an, zeigt mir den Weg zu dir.« Das ist die Inszenierung eines paralogischen Raums, eines magischen Zwischenreichs, in grünes Licht getaucht: Nebel auf Wasser, ein stetes Hinabziehen, jetzt wird es dunkel. War es das, was Orpheus dachte, bevor er in die Unterwelt stieg, ein Sänger und Dichter übrigens – das kann kein Zufall sein. Gelockt wird er, der selbst die Sirenen übertraf, vom süßen Tee zu nippen. Der Mythologiegelehrte weiß, dass allein bei Marcel Proust Erinnerung mit süßem Tee aufkommen kann. Im Blick zurück vergehen die Dinge, davon erzählt »Die Unsichtbaren«, mögen auch die toten Fische wieder schwimmen, es ist nicht mehr als: »Ein Lichtertanz im Schattenmeer«. Pola Lia Schulten:

TIEFENRAUSCH NEONLICHT

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P L AT Z P AT R O N E N Jan Drees: »Irgendwo zwischen  Uhr nachts« – hier ist das Setting komplett ver- Jan Drees: Pop ist alles, was knallt, doch schoben, denn aus Raum wird Zeit, im was ist, wenn dieses Knallen nur aus PlatzDazwischen kommt der Traum, entge- patronen kommt? Summer in the City, die gen seines Wesens »mit ganz viel Macht«. Stadt im Sommer, die Stadt im Regen, »der


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herausgeber & chefredakteur Sascha Ehlert

artdirektion & layout Anne Stiefel & Hanna Osen

redaktionelle mitarbeit Max Lessmann

anzeigen anzeigen@daswetter.de

texte Jan Drees, Felix Eule, Tammo Kasper, Max Lessmann, Henning Mues, Hendrik Otremba, Paul Pötsch, Christin Elmar Schalko, Kristof Schreuf, Pola Lia Schulten, Jan Wehn, Philipp Wulf

fotografien & illustrationen Laura Brichta, Olaf Heine, Max Lessmann, Anna Vaehaeoja, Oskar Wald

anzeigen anzeigen@wetteristimmer.de

verlag »Das Wetter – Magazin für Text und Musik«, c/o Sascha Ehlert, Dehnhaide ,  Hamburg. »Das Wetter – Magazin für Text und Musik« erscheint im Selbstverlag.

druck

Oktoberdruck , Berlin – www.oktoberdruck.de

kontakt Das Wetter – Magazin für Text und Kultur Sascha Ehlert Dehnhaide ,  Hamburg redaktion@wetteristimmer.de www.wetteristimmer.de twitter.com/wetteristimmer  Das Wetter – Magazin für Text und Musik Der Nachdruck unserer Artikel und Bilder – auch im Internet – ist nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages gestattet. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Verlagshauses oder der Redaktion wieder. Für unverlang Eingesandtes können wir keine Haftung übernehmen. Aufträge zur Erstellung von Fotos und Texten werden schriftlich erteilt.

vertrieb »Das Wetter« ist zum Start online auf www.wetteristimmer.de und www.krasserstoff.com erhältlich. Alle Informationen über künftige Verkaufsstellen finden sie auf der Website. Sie können das Heft auch per Mail an dasheft@wetteristimmer.de bestellen.

Hendrik Otremba: »Kasper« (Aquarell/Tusche auf Büttenpapier, , x , cm), 

die nächste ausgabe von »das wetter« wird im januar erscheinen.

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