Es war einmal ein Märchen.

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Märchen sind für Jeden. Walt Disney


Vorwort

Märchen begeisterten mich von Anfang an. Ich erkannte schnell, dass es nicht bloß um die Geschichte geht, die man liest oder hört – man muss genauer schauen oder auch hören um den wahren Kern zu erfassen. Was wollten uns die Gebrüder Grimm sagen? Und wenn man einmal zu suchen beginnt, stößt man schnell auf weitere spannende Märchen, Sagen und lokal erzählte Geschichten. Ihre Entstehung sagt doch viel über die damalige Zeit, über Moral und die damaligen Werte aus. Und so ist es wie bei jedem Thema, mit dem man sich näher befasst. Man taucht einfach in eine neue Welt.


S. 5

Erzähl mir doch [k]ein Märchen! Beate Walter

S. 13

Was fasziniert den Menschen an Märchen?

S. 29

Dieter Frey, Paula Münster

S. 23

Der Tod im Märchen, ist er wirklich so brutal?

Märchen sind Chancen für eine bessere Welt? Dieter Frey, Paula Münster

S. 37

Ich glaub ich bin im Märchen. Zeitschrift „Kids und Co“ Interview mit Oliver Geister

Interview mit Anni Mathes Sarah Wehinger

S. 44

Eine kurze Auszeit vom Alltag Sarah Wehinger

Die fremden Texte wurden frei angepasst und teilweise in der Wortwahl leicht verändert.

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Erzähl mir doch [k]ein Märchen.

Definition des Wortes Märchen Aus dem mittelhochdeutschen Wort „maere“, was Kunde, Gerücht oder auch Bericht bedeutet, leitet sich der geläufige Begriff des „Märchens“ ab. Ursprünglich sagte man „mär-lein“ – die Verkleinerungsform änderte sich aber so, dass die heutige Bezeichnung „Mär-chen“ entstand. Märchen wollen nicht als Erzählungen von wahren Begebenheiten verstanden werden, sie erzählen eine fantastische Geschichte. Märchen als literarischer Gattungsbegriff entwickelte sich erst mit dem Schaffen und Wirken der Gebürder Grimm, deren Kinder- und Hausmärchen 1821 das erste Mal erschienen. Hypothesen über den Märchenursprung Über den zeitlichen Ursprung von Märchen lassen sich nur Vermutungen anstellen. Märchen wurden mündlich überliefert und erst viel später in Sammlungen verschriftlicht. Märchenartige Grundelemente und einige uns heute noch geläufige Motive finden sich jedoch bereits in mythischen Erzählungen, die schon vor über mehr als 2000 Jahre vor Christus niedergeschrieben wurden.

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Märchen wollen nicht als Erzählungen von wahren Begebenheiten verstanden werden, denn sie erzählen immer eine fantastische Geschichte.

Märchen und Mythen haben Gemeinsamkeiten: so sind beide leicht nachvollziehbar, spielen sowohl im Diesseits als auch im Jenseits und verfügen über Helden, die ihnen auferlegte Prüfungen erfüllen müssen. Stehts endet das Märchen mit einem versöhnlichen, glücklichen Ende. Im Gegensatz dazu kann ein Mythos jedoch auch ein tragisches Ende nehmen. In der Romantik wurden Märchen als herabgesunkene Mythen verstanden. Das gute Ende im Märchen ist vorhersehbar, die Helden werden stets belohnt. Merkmale der Märchen In der Welt finden sich unzählige Geschichten mit Märchenmotiven. Unabhängig von Entstehungszeit und dem Ursprungsland weisen alle Märchen die gleichen charakteristischen Merkmale auf. Diese beziehen sich dann im Wesentlichen darauf wie die Geschichte aufgebaut ist und auf die Stilmerkmale sowie die Sprache. Der Aufbau von Märchen Häufig besteht das Märchen aus mehreren Episoden, erzählt eine erfundene, fantastische Geschichte und ist gekennzeichnet durch einen klaren Bau. Die Märchen wollen nicht belehren – belehrende Elemente haben nur geringe Bedeutung. Das Übernatürliche, das in Form eines zu brechenden Banns oder Zaubers von großer Bedeutung ist, spielt eine wichtige Rolle. Sprechende Tiere oder andere Zauberwesen begegnen einem ebenso wie verwunschene Schlösser, Brunnen oder Steine.


Allen Märchen gemeinsam ist die Not – eine Situation des Mangels – ohne die die Erzählung nicht beginnen kann. Der Held muss Bewährungsproben meistern und durchlebt Abenteuer, bevor die Geschichte zu einem glücklichen Ende führt. Helden sind stets gut und schön, die Bösen bleiben böse. Das glückliche Ende, der Sieg des Helden ist gewiss. Volksmärchen haben Eingangs- und Schlussformeln. Eine typische Eingangsformel ist der Beginn „Es war einmal ...“. Der Märchenheld ist ein Wanderer, der sich aus einer Mangellage heraus auf den Weg macht und die Welt handelnd erobert. Von magischen Kräften geleitet kommt er sicher an das Ziel. Stilmerkmale Märchenmotive entstammen meist der Wirklichkeit, sie sind welthaltig. Durch das Hinzufügen von magischen und mythischen Elementen und selbigen Motiven wird der Handlungsstrang entwirklicht. Im Märchen werden innere Vorgänge zum Ausdruck gebracht; in der Darstellung der Märchengestalten werden sie verständlich. Innere Vorgänge – das Seelenleben – werden zu lichten Handlungsbildern sublimiert. Themenbereiche des alltäglichen Lebens werden im Märchen angesprochen, so z.B. Geschwisterrivalität, Tod der Eltern oder Kinder, Hochzeit, Kinderwunsch. Durch Sublimation können diese Themen alle im Märchen untergebracht werden und daraus entsteht und resultiert diese Welthaltigkeit.

Allen Märchen gemeinsam ist die Not – eine Situation des Mangels – ohne die die Erzählung nicht beginnen kann.

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Im Märchen werden innere Vorgänge zum Ausdruck gebracht; in der Darstellung der Märchengestalten werden sie verständlich.

Die Sprache der Märchen Auf den ersten Blick wirken Märchen einfach zu verstehen und leicht zugänglich. Der Sprache kommt aber eine große Bedeutung zu. Der Satzbau ist so angelegt, dass ein Märchen aus vielen aneinander gereihten Hauptsätzen besteht. Es gibt wenige Nebensätze und Verschachtelungen. Durch diesen Stil werden so die Inhalte der Märchen als einfach und wahrhaftig erlebt. Mit wenigen und dennoch aussagekräftigen Worten wird vieles erklärt. Märchen erzählen in Symbolsprache. Hinter den Symbolen steht weit mehr als das, was sie vordergründig darstellen, denn sie weisen hin auf höhere geistige Zusammenhänge. Im Märchen werden Worte zu Bildern. Dies geschieht durch die Symbole und die Vielschichtigkeit der Wortbedeutungen.

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Wenn du intelligente Kinder willst, lies ihnen Märchen vor. Wenn du noch intelligentere Kinder willst, lies ihnen noch mehr Märchen vor. Albert Einstein

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Was fasziniert den Menschen an Märchen?

Warum gehören Märchen zu den Geschichten, hinter der Bibel und dem Koran, die am häufigsten publiziert wurden? Warum faszinieren sie sowohl Kinder als auch Erwachsene? Weshalb versetzen sie uns in eine positive Stimmung? Märchen sprechen doch alle menschlichen Emotionen an. Märchen sind eine Mischung aus Realität und Fantasie. Dabei sprechen sie alle denkbaren Emotionen an wie Liebe, Hass, Wut, Enttäuschung oder Freude. Diese ganzen menschlichen Komödien und Tragödien des Lebens kommen im Märchen vor: Pech und Glück, Feigheit und Mut, Gut und Böse. Oft mit glücklichem Ausgang, aber eben nicht immer. Es sind Dinge, mit denen jeder Mensch vertraut ist. Märchen bestechen vor allem durch ihre Klarheit und ihre schlichte, strukturierte Erzählweise. Zum Beispiel durch einfache Gegensätze wie Gut und Böse, Arm und Reich, Schön und Hässlich prägen die Geschichten. Das ist sowohl für Kinder wie auch Erwachsene faszinierend,weil es besonders einfach und damit nachvollziehbar ist.

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Märchen faszinieren Erwachsene u. a., weil ihnen die Geschichten aus der eigenen Kindheit vertraut sind – sie erinnern sich daran, wie Mutter, Großmutter, Vater oder Großvater sie vorgelesen haben. Märchen haben deshalb einen Wiedererkennungseffekt.

Die Sehnsucht nach dem Charakterhelden Im Märchen begegnet uns zumeist eine gutmütige und unschuldige Hauptfigur mit reinem Herzen, die sich mit widrigen Umständen konfrontiert sieht und ihren Weg bis zum guten Ende tapfer und beständig gehen muss. Dieser Weg ist oft beschwerlich und mit immer neuen Herausforderungen versehen. Zum Teil erleiden diese Helden und ihre Gegenspieler kaum fassbare Qualen. Die Protagonisten der Märchen sind meistens tapfer und überbrücken alle nur denkbaren Hindernisse. Menschen identifizieren sich gerne mit solchen Helden, denn Märchen mit ihren Helden thematisieren zwar reale Konflikte, haben aber immer auch fantastische Elemente. Märchen erinnern an die eigene Kindheit Märchen faszinieren Erwachsene u. a., weil ihnen die Geschichten aus der eigenen Kindheit vertraut sind, sie erinnern sich daran, wie Mutter, Großmutter, Vater oder Großvater sie vorgelesen haben. Märchen haben deshalb auch einen Wiedererkennungseffekt, den sie mit positiven Erinnerungen an die Kindheit verknüpfen. Meistens sind die Erinnerungen mit einer Umgebung der Ruhe und Geborgenheit verbunden. Viele Leute, die als Kinder Märchen gehört haben, erzählen sie auch den eigenen Kindern und Enkeln. Sie werden sich so immer wieder ihren eigenen, positiven Erinnerungen bewusst, die mit den Erzählern verknüpft sind.


Märchen stiften eine gemeinsame Identität und bieten eine Gesprächsbasis aufgrund geteilter Wirklichkeit. Es gibt weltweit kaum Menschen, die noch nie etwas von Märchen gehört haben, da den meisten Menschen in der Kindheit Märchen erzählt wurden. Dadurch stiften Märchen in gewisser Weise eine geteilte Identität und Wirklichkeit. Wenn das Gespräch auf Märchen fällt, können die meisten Menschen an der Diskussion teilnehmen: Welches Märchen war denn Ihr Lieblingsmärchen? Welchen Charakter fanden Sie besonders schlimm? Dieses geteilte Wissen führt dazu, dass Menschen sich sofort vertraut fühlen, wenn sie etwas vom Wolf, Hänsel und Gretel oder den sieben Zwergen hören. Das Schöne hierbei ist, dass auch über Generationen hinweg dieses geteilte Wissen präsent ist und Märchen somit auch einen Dialog zwischen Jung und Alt anstoßen können. Märchen erzeugen Spannung und dienen der Unterhaltung Märchen erzeugen Spannung – fast wie ein guter Krimi. Der Ausgang der Geschichte ist zu Beginn häufig unklar. Diese Spannung lässt sich auf den Zuhörer, vor allem auch auf Kinder, übertragen. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb Märchen Menschen faszinieren und begeistern. Die Fragen, die wir uns bei Märchen stellen, sind genau die gleichen wie bei einem guten Krimi: Was treibt die Protagonisten an? Warum handeln sie so? Was bedeutet das Ganze für uns und unsere Realität? Hierzu kann uns die Psychologie Antworten liefern. Daher stellt sich die Frage: Sind Märchen überhaupt Geschichten für Kinder? In vielen Märchen verbirgt sich hinter der Spannung auch Gewalt und Ungerechtigkeit, und die Frage ist, ob diese häufig gruseligen und brutalen Geschichten überhaupt kindgerecht sind. 14 15



„Kann man das den Kindern so überhaupt zumuten?“, ist eine häufig gestellte Frage und die Antwort ist: „Ja, man kann.“ Die Kinder werden in der realen Welt laufend mit Gewalt konfrontiert – ob im Fernsehen, im Kino oder in Computerspielen. Der Unterschied zu Märchen ist folgender: Die medialen Gewalt- und Kriegsgeschichten überfordern Kinder. Das Märchen erzählt dagegen ruhig, die Sprache kommt mit wenigen Adjektiven aus (arm, reich, alt, jung, schön …) und beschreibt keine Details; Schmerz und Leid werden mit klaren Worten dargestellt und nicht ausgeschmückt. Auf die Gefühle der Beteiligten wird wenig eingegangen, es werden dafür Handlungen beschrieben: Die Zwerge weinen um Schneewittchen, Aschenputtel verrichtet ohne Gram ihre Aufgabe. Wichtig ist vor allem dort, wo es schrecklich im Märchen ist, einen respektvollen Umgang mit dem Gefühl zu haben. Die Aussage: „Die Stiefmutter mit dem Apfel ist wirklich ganz schön bedrohlich.“, ist eine bessere als: „Du brauchst keine Angst zu haben!“, denn sie zeigt dem Kind, dass seine Empfindungen durchaus angemessen sind. Dann kann auch folgen: „Komm, rücken wir zusammen und sehen, was weiter passiert.“ Märchen üben Faszination aus, weil sie Realitäten widerspiegeln und Realitäten mit Fantasie verbinden. Märchen haben einen Unterhaltungswert, weil sie einen Wiedererkennungswert in der Realität haben. Gleichzeitig sind sie faszinierend, weil sie immer eine Mischung von Bekanntem und Unbekanntem sind. Selbst wenn man ein Märchen zum ersten Mal hört, gibt es zumeist viele bekannte Elemente, die sich in zahlreichen Märchen wiederholen: der böse Wolf, die Stiefmutter oder die Königin. Faszination entsteht, weil diese bekannten Elemente in

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jedem Märchen mit neuen vermischt werden und man sich letztendlich nie sicher sein kann, ob am Ende das Böse bestraft wird und die Geschichte einen guten Ausgang hat.

Märchen geben Orientierung fürs Leben Mit Sicherheit sind Märchen auch deshalb populär und werden über Jahrhunderte von Generation zu Generation weitererzählt, weil in ihnen sehr viel Lebensweisheit steckt und sie Orientierung für das eigene Leben geben. Sie helfen dabei zu reflektieren was gut und was böse oder faires und unfaires Verhalten ist. Nicht umsonst heißt es dann oft am Ende: „Und die Moral von der Geschichte: … “ Märchen helfen uns auch dabei – meist schon in jungen Jahren – ein Moralverständnis zu entwickeln. Außerdem sind Märchen eine Art Lebenshilfe Sie zeigen immer wieder aufs Neue, dass Probleme, egal wie ausweglos sie scheinen, lösbar sind. Somit geben sie Mut und Hoffnung. Der Held handelt dabei stets werteorientiert und übernimmt damit eine Vorbildfunktion. Der Gegenspieler ist dafür da, den Helden herauszufordern

Märchen üben Faszination aus, weil sie Realitäten widerspiegeln und Realitäten mit Fantasie verbinden

Märchen spiegeln Realitäten wider – egal ob diese vor 100, 300 Jahren oder noch längerer Zeit Wirklichkeit waren. Es sind jeweils Themen, die Kindern bereits begegnet sind: Es geht um Gut und Böse, um das Übertreten von Verboten oder um Recht und Ungerechtigkeit. Jeder Leser kann sich also in dem Märchen wiederfinden, da es für ihn Realitätsgehalt hat. Gleichzeitig wird die Realität immer mit Fantasie vermischt, denn Märchen spielen in einer Fantasiewelt mit Zaubertränken, sprechenden Tieren oder übernatürlichen Fähigkeiten. Dies regt die Fantasie an und die Geschichten können durch die eigene Vorstellungskraft weitergesponnen werden.


und ihn in seiner positiven Haltung noch besser hervorzuheben. Durch die Helden der Märchen können wir zahlreiche Dinge für unser Leben lernen, wie beispielsweise, dass Großherzigkeit und Gutmütigkeit sich lohnen, es nicht auf Äußerlichkeiten wie Schönheit oder Reichtum ankommt, sondern auf die inneren Werte, Neid und Missgunst auf das Äußerste bestraft werden, während Werte wie Mitgefühl und Bescheidenheit sich auszahlen, Zivilcourage Leben retten kann, man durch Durchsetzungskraft und Selbstvertrauen erfolgreich sein kann, die Liebe so mächtig ist, dass sie sich von den spitzesten Dornen nicht aufhalten und von den goldensten Schuhen nicht täuschen lässt.

Märchen helfen uns dabei – meist schon in jungen Jahren – ein Moralverständnis zu entwickeln.

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Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit: wir Kurzsichtigen! Als ob wir in irgendeinem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten! Friedrich Wilhelm Nietzsche


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Der Tod im Märchen, ist er wirklich so brutal?

Anni Mathes hat die Ausbildung zur Seminarleiterin für das Schreiben eigener Märchen gemacht.

Anni, wie hast du Märchen kennengelernt? Ich persönlich habe als Kind gute Erfahrung mit Märchen gemacht. Ich konnte gar nicht genug davon kriegen, hatte aber niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Ich bin überzeugt, dass Märchen die Resilienz steigern können, dieses Verhalten, wo Menschen nach und nach lernen, auch Krisensituationen zum eigenen Wohle psychisch bewältigen zu können. Viele Menschen heutzutage sind überzeugt, dass alte Märchen brutal und nicht kindgerecht sind. Es geht jedoch wie bei so vielen anderen Situationen stets darum, Kinder mit dem Gehörten und Erlebten nicht allein zu lassen. Auch bei Zeichentrickfilmen spreche ich anschließend mit meinen Enkelkindern und es gibt auch dort sehr Vieles, das Emotionen wie Zorn, Wut, Zweifel, Mitleid und Ängste wecken kann, die dann gemeinsam besprochen und bei Bedarf dann auch ausgeräumt werden können. Außerdem ist die Realität oft nicht weniger brutal. Auch für mich selber analysiere ich gerne Märchen. Es ist darin soviel verpackt, welches oft nie ausgesprochen wird.

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Viele Menschen heutzutage sind überzeugt, dass alte Märchen brutal und nicht kindgerecht sind.

So weit entfernt sind also die Märchen gar nicht von unserem Leben hier in der Wirklichkeit? Wie im realen Leben gibt es auch in den Märchen Hauptfiguren, die sich aufmachen in ein neues Abenteuer, die gewohnte Umgebung verlassen und vielleicht auf ihrem Weg andere erlösen wollen. Vor allem erleben sie wesentlich mehr Begegnungen, wenn sie sich auf den Weg machen. Dann gibt es wiederum andere Typen, die auf ihrem Schloss warten bis sie aufgeweckt und erlöst werden. Ich hatte nie Angst vor den bösen Figuren in den Märchen, sondern erlebte Genugtuung und Befreiung, wenn sich alles positiv gelöst oder aufgelöst hat. Ist nicht unsere Angst, die meisten haben irgendwelche Ängste, wie eine Schlange, die uns im Würgegriff hat. Und können wir nicht unsere Flöte nehmen und die Schlange praktisch nach unserer Pfeife tanzen lassen und uns so selber aus dieser Opferrolle heraus befreien? Und ist es nicht wunderbar, wenn in den Märchen Transformationen stattfinden? Den Mut zur Wandlung und zur Veränderung ist doch auch ein Zeichen von Wachsen und Reifen. Der Tod in den Märchen, ist er denn wirklich brutal? Können nicht auch Ängste und Hass losgelassen werden und somit sterben? Wie oft haben Menschen innere Widerstände gegen Veränderung und Neuanfang, weil wir total auf Sicherheit fixiert sind und uns somit so eventueller Herausforderungen selber berauben. Märchen vermitteln ja auch immer eine gewisse Moral, die Handlungen müssen also symbolisch betrachtet und hinterfragt werden … Definitiv. Wird eine Hexe verbrannt, wie bei Hänsel und Gretel, dann bedeutet es für mich, dass die beiden wieder frei sind. Die Hexe im Märchen wurde von mir nie als Person gesehen, sondern symbolisch als ein Synonym für Verirrung, Irrtum, Angst, Hungerleiden oder Mästen.


Bedeutet, zu wenig oder zu viel zu haben und mit dem Verbrennen der Ursache kann sich Vieles in Asche auflösen. Etwas total Konträres und Unmenschliches sind für mich die Hexenverbrennungen im Mittelalter. Da wurden hauptsächlich Frauen aufgrund ihres Wissens über Kräuter und Naturheilkunde usw. zu Hexen erklärt. Aus Angst vor dem eigenem Machtverlust haben damals hauptsächlich Männer, aber auch einige Frauen, diese Frauen ausgeliefert und oft zu Tode gefoltert. Können Menschen heute weniger damit anfangen? Vielen Menschen fehlt heutzutage die Spontanität, die Farbe der Fantasie, mannigfaltiger Ideenreichtum, weil sie meistens kontrolliert agieren und reagieren und hirnmäßig kaum noch hin und her wechseln können. Sie haben dann wesentlich weniger Ressourcen zur Verfügung. In einer Leistungsgesellschaft, in welcher der Intellekt über das Gefühl gestellt wird, kann mithilfe von Märchen der Zugang ins Reich der Fantasie geschaffen und die Begegnung mit dem eigenen Ich neu entdeckt werden.

Wie im realen Leben gibt es auch in den Märchen Hauptfiguren, die sich aufmachen in ein neues Abenteuer, die gewohnte Umgebung verlassen und vielleicht auf ihrem Weg andere erlösen wollen.

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Etwas Besseres als den Tod finden wir Ăźberall. Esel, Bremer Stadtmusikanten


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Märchen sind Chancen für eine bessere Welt?

Märchen finden immer in sozialen, kulturellen und auch historischen Kontexten statt, deshalb ist es nicht überraschend, dass der Schwerpunkt der Märchenanalyse die Sozialpsychologie und die damit verbundenen Phänomene sind, z. B. soziale Wahrnehmung, Gruppenprozesse, Werte, Einstellungen, Konflikte oder Führung. Daneben werden weitere Teildisziplinen der Psychologie angesprochen, beispielsweise die allgemeine Psychologie mit ihren Prinzipien von Belohnungs-, Bestrafungs- und Modelllernen oder auch Motivation und Emotion. Ebenso findet die Persönlichkeitspsychologie in unseren Analysen Platz. Eigenschaften wie Introversion oder Extraversion, Angst Gewissenhaftigkeit oder auch ein hoher oder niedriger Selbstwert charakterisieren unsere Protagonisten.

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Jedem Märchen liegt die Weisheit vieler Jahrhunderte zugrunde. Diese Weisheit können wir auch nutzen, um eigene Episoden im Leben zu interpretieren und darüber hinaus Erkenntnisse zu gewinnen, wie wir unser Leben gestalten, strukturieren, organisieren, verändern und neu definieren können und möchten. Sie schärft zudem den Blick für die Interpretation gesellschaftlicher Phänomene und zeigt auf, wie wir darauf Einfluss nehmen können. Märchen als Ausgangspunkt für Reformen und Revolutionen zu bezeichnen, führt sicherlich zu weit, aber sie bieten eine großartige Gelegenheit zur Selbstreflexion und damit zu sinnvollem Handeln. Unser erklärtes Ziel sollte eine offene und menschenwürdige Gesellschaft sein, die getragen wird von Respekt für Menschen, einem Höchstmaß an Toleranz sowie Selbstbestimmung. Daneben regen uns Märchen an, darüber nachzudenken, was jeder Einzelne tun kann, um ein lebenswertes, sinnvolles und glückliches Leben zu führen. Fast alle Märchen zeigen Chancen und Wege auf, seines eigenen Glückes Schmied zu sein und das Beste aus ungünstigen Bedingun gen zu machen. Tief verankert sind auch die optimistische Grundhaltung und Zukunftsperspektive. Wenn man diese Botschaften versteht, selbst lebt und anderen weitergibt, dann erfüllen Märchen auch in der heutigen Zeit eine Funktion, die sie schon über Jahrhunderte erfüllt haben. Natürlich haben wir reflektiert, was die Märchen heute bedeuten.


Daneben regen uns Märchen an, darüber nachzudenken, was jeder Einzelne tun kann, um ein lebenswertes, sinnvolles und glückliches Leben zu führen.

Die heutige Gesellschaft ist mit Sicherheit eine andere als die frühere, welche durch Aristokratie und Ständegeprägt war. Wir sind von einer humanistischen Grundidee ausgegangen, d. h. einer offenen Gesellschaft, einer Gesellschaft des gegenseitigen Respekts, der Wertschätzung und Menschenwürde (wie es auch im Grundgesetz verankert ist). Glücklicherweise leben wir heute in einer Gesellschaft, in der Menschlichkeit, Toleranz, Offenheit und die Akzeptanz der Vielfalt von Kultur, Religion, Geschlecht und Alter vorhanden sind. Wir haben daher das eine oder andere Märchen so besprochen, dass man die Inhalte durchaus kritisch hinterfragen kann und sollte – Mord und Totschlag, Kindesmisshandlung sowie Tierquälerei können nicht unkommentiert im Raum stehen bleiben. Damit wird eine humanistische Philosophie der Psychologie transportiert, die sich nicht darauf beschränkt, wissenschaftliche Phänomene zu erklären und vorherzusagen, sondern immer auch Vorstellungen beinhaltet, wie Idealzustände aussähen, wie die Zukunft einer Gesellschaft aussehen könnte. Wir verstehen Psychologie nicht nur als Erfahrungs- und Erklärungswissenschaft, sondern auch als Aufklärungswissenschaft und als Wissenschaft, die verantwortlich ist, (Miss-)Zustände in der Welt aufzuzeigen

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Die heutige Gesellschaft ist mit Sicherheit eine andere als die frühere, welche durch Aristokratie und Stände geprägt war.

Anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse kann veranschaulicht werden, wie Gewohnheiten überwunden, starre Strukturen aufgelöst und Menschen für eine humanistische Grundidee gewonnen werden können. Darüber hinaus ist es wichtig, eine Grundstimmung zu schaffen, wie sie z. B. die positive Psychologie proklamiert: Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen und Verantwortung dafür zu übernehmen, dass kritische Zustände, die die Menschenwürde verletzen, indiskutabel sind und man Personen oder Institutionen braucht, die auch für eine offene Gesellschaft kämpfen. Dies mag auf den ersten Blick der wissenschaftlichen Psychologie widersprechen, die sich wertneutral verhalten will. Neben dem Erkenntnisgewinn haben wir immer auch eine Vorstellung davon, wie eine zukünftige offene Gesellschaft, und zwar eine Weltgesellschaft, aussehen sollte. Im Sinne Poppers oder Max Webers folgen wir der Idee, dass man als Wissenschaftler nicht nur Verantwortung für Ist-, sondern auch für Sollzustände hat. Diese muss man zwar klar trennen, aber Wissenschaft kann sehr oft einen wichtigen Beitrag dazu leisten, wie man von einem Ist- zu einem Sollzustand gelangen kann. Deshalb hat Wissenschaft neben reiner Deskription, Erklärung und Aufklärung immer auch etwas zu tun mit Visionen, Werten, Infragestellung des Bestehenden.


Wer in meiner Familie bringt die Gewitztheit eines gestiefelten Katers mit? Hätte ich als Förster auch Gehorsam gezeigt? Wer wäre in unserem Team der böse Wolf?

Bei der Analyse der Märchencharaktere haben sich auch interessante Selbstreflexionen ergeben: Bin ich/ist mein Partner eher Hase oder eher Igel? Wer in meiner Familie bringt die Gewitztheit eines gestiefelten Katers mit? Hätte ich als Förster auch Gehorsam gezeigt? Wer wäre in unserem Team der böse Wolf? Hätte ich mich als Hans im Glück ebenso verhalten? Und wo ist mir das Verhalten anderer Charaktere schon einmal begegnet? Es sind genau diese Selbstreflexionen, die bewirken, dass man sehr viel über sich und andere lernen kann. Wer die psychologische Betrachtung der Märchen aufmerksam liest, erkennt darin grundlegende Elemente eines Lehrbuches der Psychologie oder Sozialpsychologie, da jedes Märchen und die damit verbundenen psychologischen Phänomene anhand der Erkenntnisse, Modelle und Theorien der Psychologie erläutert werden, die den Grundlagen- als auch angewandten Bereich betreffen. Der Vorteil gegenüber einem Lehrbuch liegt darin, dass die Erkenntnisse lebendig und mit hohem Anwendungsbezug präsentiert sind. Dies stellt – wenn benötigt – eine effektive Lernhilfe dar.

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Märchen erzählen Kindern nicht, dass Drachen existieren. Denn das wissen Kinder schon. Märchen erzählen den Kindern, dass Drachen getötet werden können.

G. K. Chesterton

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Ich glaub ich bin im Märchen.

Zeitschrift „Kids und Co“ sprach 2012 mit Dr. Oliver Geister über die Bedeutung der Märchen für Kinder

Warum mögen wir die Märchen so gerne? Märchen bleiben im Kopf, da sie klar strukturiert, kurz und einfach gebaut sind. Jeder, ob Groß oder Klein, versteht sie. Die typisierten Figuren und auftretenden Wiederholungen, wie die Zahl 3, tragen dazu bei. Märchen sind zeitlos und lassen viel Raum für die eigene Fantasie und Interpretationen. Ganz wichtig ist auch, dass am Ende alles gut ausgeht. Erwachsene als auch Kinder finden das toll. Ja, auch Erwachsene können sich immer wieder für Märchen begeistern. Oftmals erkennt man später durch seine eigenen Erfahrungen und seinen Wissensschatz neue Seiten an seinem Lieblingsmärchen aus der Kindheit. Woher kommen die Märchen? Märchen sind eine uralte Gattung. Ihr Alter ist jedoch forschungsmäßig umstritten. Einige Wissenschaftler behaupten, dass es die Märchen schon so lange wie es eben die Menschen gibt. Bis ins zweite Jahrtausend vor Christus lassen sich schriftliche Belege nachweisen, davor ist nichts bekannt. Allerdings wurden die Märchen nicht immer aufgeschrieben, sondern von Mund zu Mund weitergegeben. Heute bringt man die Märchen vor allem mit den Brüdern Grimm in Verbindung. Sie haben die sich stets verändernden Märchen aus dem Volk aufgeschrieben und für die Nachwelt festgehalten.

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Warum brauchen Kinder Märchen? Märchen sind kein Muss, aber sehr bedeutungsvoll für Kinder, denn sie können Lebens- und Entwicklungshilfe sein. Der Held eines jeden Märchens wird oft mit einer kindlichen Figur besetzt. Er muss sich in schwerer Stunde bewähren und Gefahren entgegenstellen. Ein Kind, das sich damit auseinandersetzt, fühlt sich in seiner eigenen Entwicklung angesprochen. Die Figur durchlebt stellvertretend schwierige Lebenssituationen. Im Märchen werden des Öfteren unbewusste Konflikte und Entwicklungsprozesse des Kindes bildhaft dargestellt. Durch den Helden wird gezeigt, dass Gefahren überstanden und schwierige Aufgaben auch von dem Kind selbst gelöst werden können. Da Märchen immer ein gutes Ende haben, machen sie den Kindern Mut und stärken sie in ihren Vorhaben. Wie wichtig ist für ein Kind die „Verzauberung“ der Alltagswelt? Ein kleines Kind nimmt die Welt ganz anders wahr als die Erwachsenen. Nach einer Theorie des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget sind für das Kind die um es existierenden Gegenstände und Lebewesen beseelt. So ist es beispielsweise der eigene Wille von Wolken, am Himmel vorüberzuziehen. Kinder benötigen keine rationalen Erklärungen, um sich in der Welt zurechtzufinden. In Märchen ist ebenfalls alles mit Leben erfüllt. Steine können sprechen und Bäume laufen. Durch die sprachlichen Bilder in den ganzen Märchen fühlen sich die Kinder angesprochen und in ihrer Sicht auf die Dinge bestätigt. Kinder fangen ungefähr ab dem dritten Lebensjahr an, sich für Märchen zu interessieren. Im Laufe der Schulzeit, wenn das rationale Denken stärker wird, interessieren sie sich für andere Literatur.


Wie findet ein Kind sein Lieblingsmärchen? Die Eltern können den Kindern regelmäßig Märchen erzählen oder vorlesen. Möchte das Kind ein Märchen wiederholt hören, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass es die Figuren ins Herz geschlossen und sein Lieblingsmärchen gefunden hat. Dabei ist es wichtig, dass immer das Kind entscheidet, welches Märchen es am liebsten hören möchte. Welche Funktion hat das Böse im Märchen? Das Märchen vermittelt Lebens- und Weltwissen. Da gehört das Böse einfach mit dazu. Das Kind muss sich auch mit dieser Seite der Welt auseinandersetzen. Zudem sieht das Kind das Böse nicht in dem selben Ausmaß wie wir. Nehmen wir beispielsweise das Märchen Hänsel und Gretel. Hier ist die Hexe das personifizierte Böse. Dem kleinen Mädchen Gretel gelingt es durch eine List, das Böse, sprich die Hexe, in ihr Verderben zu schicken. Das eine alleinstehende Frau ins Feuer gestoßen wird, ist für das Kind nicht von Bedeutung. Die Hexe steht für das Böse und muss vernichtet werden – das ist die Logik des Märchens und auch die eines Kindes. Ein gutes Ende, bei dem der Held, in diesem Fall ein Kind, es geschafft hat, das Böse zu besiegen, ist sehr wichtig. Das Kind bekommt durch sprachliche Bilder des Märchens die Gewissheit, dass das Böse besiegt werden kann.

Im Märchen werden des Öfteren unbewusste Konflikte und Entwicklungsprozesse des Kindes bildhaft dargestellt.

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Zudem entsteht während der gemeinsamen Märchenzeit zwischen den Eltern und den Kindern eine ganz besondere Verbindung.

Können Eltern an der Fantasiewelt der Kinder teilhaben? Sollte man sich überhaupt „einmischen“? Erwachsene sollten mit Kindern über Märchen reden. Manchmal haben die kleinen Zuhörer Angst vor schrecklichen Gestalten oder Fragen zu bestimmten Handlungen des Helden. Durch das gemeinsame Gespräch setzen sie sich nicht nur mit einem Thema auseinander, sondern fühlen sich auch verstanden. Allerdings sollte der Erwachsene dabei auf das Kind hören und ihm keine Interpretation vorgeben. So lernen auch die Eltern ihre Kinder besser kennen. Welchen Platz haben die Märchen heute neben Computer, Fernsehen und Smartphone? Märchen haben in unserer Mediengesellschaft nicht an Bedeutung verloren. Durch ihre einfache und klare Struktur sind sie eine Art Gegenstück zu den immer schnell wechselnden Bildern von Fernseher und Computer. Bei den Märchen können sich die kleinen Zuhörer ganz auf die Handlung konzentrieren und gleichzeitig ihren Gedanken freien Lauf lassen. Zudem entsteht während der gemeinsamen Märchenzeit zwischen den Eltern und den Kindern eine ganz besondere Verbindung. Das Kind kuschelt sich an Mama und Papa und gemeinsam betreten sie die unendliche Märchenwelt.


Die Lieblingsmärchen der Österreicher 2017

01 Hänsel und Gretel 02 Der Wolf und die sieben Geißlein 03 Schneewittchen 04 Aschenputtel 05 Der gestiefelte Kater 06 Die Bremer Stadtmusikanten 06 Dornröschen 07 Rotkäppchen 09 Frau Holle 10 Brüderchen und Schwesterchen

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Ohne Poesie lässt sich nichts in der Welt wirken: Poesie aber ist Märchen. 42 Johann Wolfgang von Goethe

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Eine kurze Auszeit vom Alltag Der alte Plattenspieler auf Omas Dachboden hat, seit ich mich daran zurückerinnern kann, eine magische Wirkung auf mich ausgestrahlt. Diese Bewunderung, dass auf einer flach aussehenden Platte Töne, Musik und ganze Sätze darauf festgehalten werden können, hat mich einfach sehr beeindruckt. Uns Kindern wurde von Beginn an immer, wir müssen sehr umsichtig mit den Schallplatten sein, kein Staub soll drauf kommen und die Nadel muss extrem vorsichtig aufgesetzt werden, damit kein Kratzer entsteht. Der Auflageteller vom alten Schallplattenspieler war kleiner als die Platte selber und wenn sich diese in Bewegung setzte, vollführte die Schallplatte in einem ganz bestimmten Rhythmus eine schwankende Rotationsbewegung, der ich stundenlang hätte zuschauen können. Es war beruhigend, es war Kontinuität, es war eben eine Pause von dem was grad ansonsten los war im Leben – damals wie auch heute. Was mich besonders begeistert, ist die nötige Auswahl, die nötige Entscheidung was angehört werden soll. Es gibt einfach kein schnelles Umschalten, Weiterdrücken, Zurückspulen, Lieder tauschen. Wenn man sich also einmal entschieden hat, kann man sich so richtig entspannt zurücklehnen und genießen, was folgt ist schon auf der Schallplatte geprägt, bestimmt.


Der hohe russische Norden mit seinen eisigen Wintern konnte also jederzeit auf Omas Dachboden gezaubert werden.

Märchen haben mich sofort begeistert und besonders eine Schallplatte wurde immer und immer wieder gespielt. Ein Wunder, dass sie heute noch so gut funktioniert. Das Cover ist mittlerweile schon an den Ecken eingerissen, ein paar Kratzer sind vorhanden, die Rede ist von meinem LieblingsMärchen „Die schöne Wassiljissa und Väterchen Frost“. Zwei russische Märchen auf einer Europa Vinyl Schallplatte. Kein Hörbuch wie heute, gesprochen von einer einzelnen Person, denn jeder Charakter hatte seine eigene Stimme und so konnte ich gleich beim Zuhören die Geschichte vor meinen inneren Augen zum Leben erwecken. Der hohe russische Norden mit seinen eisigen Wintern konnte also jederzeit auf Omas Dachboden gezaubert werden. Aber wenn man sich ans Digitale gewöhnt hat und Daten in Clouds umherschweben, dann wird einem auch bewusst, wie schnell etwas beschädigt oder verloren gehen kann. Zum Glück kann ich, auch heute noch, das Märchen fast auswendig. Aber dem nicht genug – zusätzlich zur Unterstützung meiner Erinnerungen habe ich Wort für Wort der Geschichte transkribiert und in diesem Buch festgehalten. Ein Stück Kindheitserinnerung, welche mich auch heute noch, egal wo ich gerade bin, auf diesen Dachboden zurückversetzt. 44 45


Quellen

S. 5

Erzähl mir doch [k]ein Märchen! Auszug aus der Bachelor-Thesis „Erzähl mir doch [k]ein Märchen!“ Märchen im pädagogischen Alltag von Beate Walter

S. 13

Was fasziniert den Menschen an Märchen? Psychologie der Märchen. 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können von Dieter Frey (Hrsg. ) und Paula Münster

S. 23

Der Tod im Märchen, ist er wirklich so brutal? Interview mit Anni Mathes von Sarah Wehinger

S. 29

Märchen sind Chancen für eine bessere Welt? Psychologie der Märchen. 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können von Dieter Frey (Hrsg. ) und Paula Münster

S. 37

S. 44

Ich glaub ich bin im Märchen. „Es war einmal …“ aus der Zeitschrift „Kids und Co“ Interview mit Oliver Geister Eine kurze Auszeit vom Alltag Sarah Wehinger


Impressum Sarah Wehinger Gastprojekt, 4. Semester Vortragende: Mag. (FH) Anna Zar, Mag. (FH) Andreas Wesle New Design University Sommersemester 2019 Tuschezeichnungen und Bilder: Sarah Wehinger

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Schallplatte auflegen, knister, knister, das Märchen beginnt. Sarah


Die schรถne Wassiljissa.


Auf der originalen Schallplatte ist zu lesen: Die russische Hexe heißt Baba Jaga. Aber sie ist gar nicht so böse wie die schlimme alte Frau, der Hänsel und Gretel begegneten. Sie hilft Wassiljissa mit ihrem Zauber. Ein wenig unheimlich ist die Geschichte schon. Ausgerechnet ein Totenkopf mit brennenden Augen weist dem Mädchen den Weg ins Glück. Aber was macht es, wenn die schöne Wassiljissa sich zu Anfang gruselt? Das Gute siegt auch im alten Russland. Eine böse Stiefmutter hat keine Chance, sie wird verbrannt.

Auch wenn die meisten bekannten Märchen nach einem bestimmten Muster aufgebaut sind, diese und die zweite Geschichte auf der Schallplatte unterscheiden sich doch ein wenig in den Rollenbildern. Wer erwartet so was wie Menschlichkeit von einer Hexe? Getragen wird die komplette Geschichte von einem hervorragenden Erzähler und den spannenden Dialogen in denen die Charaktere erst so richtig zum Leben erwachen – allein über die Stimme der Synchronsprecher.

Fürs Verständnis: Kwas ist ein Sauerbier, das aus Schwarzbrotrinde gebraut wird.

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Die Personen Erz채hler

Joachim Rake

Mutter

Hildgund Hess

Prasska

B채rbel Schmitt

Maschka

Reinhilt Schneider

Stiefmutter

Katharina Brauren

Wassiljissa

Heike Kintzel

Das P체ppchen

Herma Koehn

Baba Jaga

Marga Maasberg

Altes M체tterchen

Erna Nitter

Der junge Zar

Peter von Schultz

Ein Bote

Rudolf H. Herget

Produktionsleitung und Regie

Konrad Halver

Musik

Bert Brac


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Figuren

Orte

Erzähler, Mutter, Stiefmutter, Maschka, Prasska, Wassiljissa, Püppchen

Zuhause, Wald

Musik

Erzähler

Mutter

Im nördlichen Teil Russlands lebte in einer Ortschaft die von dunklen Wäldern umgeben war, ein Kaufmann mit seiner Frau. Sie hatten nur ein einziges Kind, die kleine Wassiljissa. Als diese acht Jahre alt war, wurde die Mutter schwer krank. Da sie wusste, dass sie sterben musste, rief sie eines Tages die Kleine zu sich und sagte: Mein geliebtes Töchterchen nimm meinen mütterlichen Segen, der dich dein ganzes Leben begleiten soll und diese Puppe. Halte sie immer bei dir und zeig sie niemandem. In jedem schweren Augenblick deines Lebens wird sie dir helfen. Gib ihr nur immer vorher zu essen, bevor du sie um Rat fragst.

Musik

Erzähler

Die Mutter starb.

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Musik

Erzähler

Nach einigen Jahren beschloss der Vater wieder zu heiraten. Diesmal wählte er eine Witwe, die selbst schon zwei Töchter im gleichen Alter von Wassiljissa hatte und hoffte darum, dass sie auch seine Tochter als ihr eigenes Kind betrachten würde. Es kam aber ganz anders. Da Wassiljissa als schönstes Mädchen des Dorfes galt und darum auch die schöne Wassiljissa genannt wurde, begannen ihre Stiefschwestern neidisch auf sie zu werden. Sie betrachteten sie immer mit eifersüchtigen Augen und fragten ihre Mutter:

Schwestern

Warum ist Wassiljissas Haut so zart und weiß wie Milch und ihre Wangen so rot wie Rosen.

Stiefmutter

Beruhigt euch meine Töchterchen. Ich werde ihr so viel Arbeit aufgeben, dass ihre Schönheit bald vergeht.

Maschka

Erzähler

Ja Mutter, tue das. Und gib ihr nur Wasser zu trinken, dann magert sie ab und vertrocknet wie eine Pflanze ohne guten Boden.

Wassiljissa aber ertrug alles und wurde mit jedem Tag nur noch schöner. Doch abends, wenn sie allein in ihrer Kammer war, holte sie ihr Püppchen hervor, gab ihm zu essen und weinte manchmal.


Wassiljissa

Püppchen, mein teures Püppchen, du bist die Einzige die mich lieb hat. Ich lebe im Hause meines Väterchens, kenne aber keine Freude. Nur schwere Arbeit und harte Worte.

Püppchen Sei zuversichtlich Wassiljissa. Mit meiner Hilfe wirst du jede Arbeit spielend schaffen und nichts von deiner Schönheit verlieren.

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Erzähler

Und so war es auch. Wenn Wassiljissa aufgetragen wurde an einem einzigen Vormittag im ganzen Gemüsegarten Unkraut auszujäten und ihn zu begießen, sprang es schon von selbst aus der Erde heraus und die Gießkanne hielt sich allein in der Luft und schwenkte von selbst hin und her. Wollte Wassiljissa unten am Fluss Wäsche waschen und spülen, brauchte sie nur die einzelnen Stücke mit den Fingern zu berühren, als das Wasser sie schon ergriff, gegen die Steine schleuderte und so den Schmutz herausschlug und wegspülte. Denn ihr Püppchen saß immer dabei und schaute zu. So erging es Wassiljissa mit jeder Arbeit und sie war am Abend nicht einmal müde, wurde mit jedem Tag aber nur noch schöner. Ihre Stiefschwestern jedoch, obwohl sie kaum arbeiteten, wurden immer blasser und gelber im Gesicht, weil Neid und Wut sie plagte und sie bestürmten immer von neuem ihre Mutter.

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Maschka

Stiefmutter

Prasska

Stiefmutter

Prasska

Maschka

Mutter, gib ihr noch mehr Arbeit auf, damit sie auch nachts nicht zum Schlafen kommt. Selbst das würde nicht helfen, denn Wassiljissa schafft alles. Eine böse Macht muss hier im Spiel sein, die ihr hilft. Dann schick sie irgendwohin fort, sonst wird sie noch vor uns beiden weggeheiratet. Seid unbesorgt meine Töchterchen. Ich habe schon einen Plan im Kopf. Hört zu. Morgen begibt sich euer Vater auf eine längere Geschäftsreise nach Novgorod. Diese Zeit nutzen wir aus und schicken Wassiljissa öfters in den Wald, dann wird sie schon einmal in die Hände der Menschenfresserin Baba Jaga fallen. Oh ja Mutter. Diese Hexe wird sie mit Haut und Haar auffressen. Und wir sind die schöne Wassiljissa los!


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Erzähler

Kaum war der Vater fort, wurde Wassiljissa auch sofort in den Wald geschickt. Einmal um Holz zu holen, das andere Mal um Pilze oder Beeren zu sammeln. Ihr Püppchen aber sorgte dafür, dass sie nicht einmal in die Nähe der Baba Jaga kam. Dann dachten sich die bösen Frauen etwas Schlaueres aus. Wenn Wassiljissa der Hexe schon nicht zufällig begegnet war, so musste sie direkt zu ihr geschickt werden und das geschah so: Eines Abends, als der Herbst schon gekommen war, sagte die Stiefmutter …

Stiefmutter

Ihr Drei, meine lieben Täubchen, müsst jetzt tüchtig an die Handarbeiten heran. Die Zeit der Freier ist gekommen. Sie reiten jetzt überall herum und suchen nach der schönsten und fleißigsten Braut. Wer weiß ob ich nicht schon morgen eine von euch weggeben muss. Von Jahr zu Jahr aber müssen eure Aussteuertruhen voller werden. Mit Leinenballen für Lacken und Hemden, mit Wollstrümpfen, Socken und ausgestickten Handtüchern für die Ikone in der reinen Ecke. Das alles muss ein reiches Mädchen haben und jetzt fangt an. Du Wassiljissa nimm dein Spinnrad, du Maschka strickst Strümpfe und Prasska mit den langen Nadeln ein Decke. Ich bin müde und will jetzt schlafen gehen.

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Erzähler

Sie löschte das Licht, ließ nur eine Kerze brennen bei der die Mädchen arbeiteten und ging zu Bett. Nach einer Weile begann die Kerze zu rauchen, da der Docht zu lang geworden war und gekürzt werden musste. Eine der Stiefschwestern tat nun, als wolle sie ihn abschneiden, ließ aber, wie vorher mit der Mutter ausgemacht, die Kerze absichtlich verlöschen.

Prasska

Maschka

Wassiljissa

Oh die Kerze. Wie konnte mir das nur passieren? Was machen wir nun Maschka? Ich brauche kein Licht, stricken kann ich auch im Dunkeln. Aber wie ist es mit dir, Prasska?

Prasska

Der abnehmende Mond wirft ja noch etwas Licht ins Zimmer. Dazu sind meine Nadeln und die Wolle so hell, dass ich schon genug sehe.

Maschka

Dann ist es wohl nur Wassiljissa, die Licht braucht. Also muss sie es selbst irgendwo besorgen, denn zu Hause haben wir keins mehr. Unser Feuerstein ist nämlich aufgebraucht.

Aber woher soll ich denn das Licht holen, Schwestern? Es ist schon spät und alle Nachbarn schlafen.

Prasska

Dann musst du eben in den Wald zu Baba Jaga laufen. Bei ihr geht das Feuer nie aus.

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Erzähler

Wassiljissa fing an zu weinen, lief in ihre Kammer, holte aus dem Versteck ihr Püppchen hervor, gab ihm etwas zu essen und erzählte ihm alles. Das Püppchen aber antwortete gelassen …

Püppchen

Du brauchst dich nicht zu fürchten, Wassiljissa, wenn ich bei dir bin, kann auch Baba Jaga dir nichts tun. Hülle dich nur in das große Tuch und stecke mich unter den Arm.

Erzähler

Wassiljissa tat es, bekreuzigte sich vor der Ikone, sprach ihr Gebet und trat in die Nacht hinaus. Obwohl sie die Puppe bei sich hatte, zitterte sie trotzdem vor Angst. Als sie schon einige Stunden gegangen war, flüsterte sie plötzlich ihrer Puppe zu …

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Wassiljissa

Püppchen

Wassiljissa

Püppchen

Wassiljissa

Püppchen

Ein weißer Reiter nähert sich uns. Er sieht so beängstigend aus, alles an ihm ist weiß. Er selber, sein Pferd und auch Sattel und Zaumzeug. Geh nur ruhig weiter, Wassiljissa. Sprich kein Wort und lass ihn vorbeireiten.

Es wird schon heller Püppchen. Wir sind die ganze Nacht gelaufen. Der Morgen nähert sich. Aber da sehe ich wieder einen Reiter. Oh wie der aussieht. Rot wie die Sonne, alles an ihm ist rot. ich fürchte mich. Auch vor ihm brauchst du keine Angst zu haben, er tut dir nichts. Oh ja, er ist schon an uns vorbeigeritten und die Sonne geht auf. Ach es ist ein herrlicher Morgen, Püppchen. Der Wald duftet so frisch, die Vögel beginnen zu zwitschern und ich fürchte mich gar nicht mehr.

Das ist schön Wassiljissa. Geh nur weiter.


Erzähler

Und sie gingen und gingen den ganzen Tag bis zum Abend. PlĂśtzlich befanden sie sich auf einer Lichtung und Wassiljissa erstarrte vor Entsetzen.

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Figuren

Orte

Erzähler, Baba Jaga,

Wald, Hütte der Baba Jaga

Wassiljissa, Püppchen

Erzähler

Da stand das Häuschen der Baba Jaga. Aber alles dort sah Schrecken erregend aus. Das ganze Haus umgab ein Zaun, der aus Menschenknochen gemacht war und auf dem in Abständen Schädel aufgespießt steckten. Armknochen bildeten die Pforte und das Schloss bestand aus Zähnen. Stumm vor Angst rührte Wassiljissa sich nicht vom Fleck. Da näherte sich ein schwarzer Reiter und hielt kurz vor der Pforte der Baba Jaga. Es wurde dunkel. Und plötzlich leuchteten die Augenhöhlen der Schädel auf und zwar so grell, dass Wassiljissa sich das Gesicht mit dem Tuch verdecken musste um nicht geblendet zu werden. Die ganze Lichtung wurde hell wie bei Tage. Dann begannen sich die Bäume zu biegen, der Wind zu pfeifen und Baba Jaga kam auf einem großen hölzernen Mörser angeritten, wobei sie mit einem Reisigbesen die Spur hinter sich wegwischte. Sie hielt vor der Pforte und begann die Luft zu schnuppern …

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Baba Jaga

Erzähler

Es riecht hier so nach Menschenfleisch, jemand hat sich in meiner Nähe versteckt. Wer ist es?

Wassiljissas Zähne schlugen vor Angst aufeinander, aber mutig trat sie näher und sagte mit zitternder Stimme …

Wassiljissa

Baba Jaga

Das bin ich Großmütterchen, meine Schwestern haben mich zu dir geschickt um Feuer zu holen.

So, oh ich kenne diese beiden. Aber zuerst musst du hier bleiben und mir einige Dienste leisten, dann bekommst du das Feuer. Tust du es nicht, fresse ich dich auf. Und jetzt folge mir in mein Haus. Hej, Pforte, du Gehorsame öffne dich, Schloss mein allertreuestes schließ dich auf!

Erzähler

Mit Knarren und Quietschen ging die Pforte auf, der Wind pfiff wieder und Baba Jaga ritt in den Hof. Vor Angst zitternd folgte ihr Wassiljissa. Als sie dann in die Stube getreten waren, legte sich Baba Jaga sofort auf die Ofenbank und sagte …

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Baba Jaga

Erzähler

Ach, ich bin jetzt hungrig. Reiß aus dem Zaun einen Knochen heraus und zünde ihn an. Dann geh mit ihm in den Keller und hole für mich Honig, Wein und Kwas zum Trinken, danach deck den Tisch und nimm den Braten aus dem Ofen.

Flink tat Wassiljissa was ihr befohlen war, brachte die Getränke vom Keller herauf und ging jetzt zum Ofen. Der war voller Fleisch. Darum fragte sie …


Wassiljissa

Großmütterchen, wie viele Braten soll ich aus dem Ofen herausnehmen?

Baba Jaga

Wie viele, blöde Gans, was soll die Frage. Siehst doch wie viel Fleisch da drinnen ist.

Wassiljissa

Baba Jaga

Erzähler

Erwartest du noch Gäste, Großmütterchen? Wieso Gäste, du Dummkopf?

Wassiljissa

Vielleicht hast du es vergessen Großmütterchen, darum sag ich es nur. Denn das Fleisch würde ja für zehn Menschen ausreichen.

Baba Jaga

Ah, lass dein Gerede und bring den Braten schnell auf den Tisch, dann wirst du schon sehen.

Und Wassiljissa schleppte und schleppte das Fleisch aus dem Ofen. Und Baba Jaga fraß alles auf. Dann lachte sie.

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Baba Jaga

Wassiljissa

Erzähler

Hehehehehe. Na was sagst du nun? Das hast du wohl nicht gedacht. Und jetzt los in den Keller und roll für mich noch ein Fass Wein herauf. Was du mir da gebracht hast, war ja nur ein Tropfen. Nach diesem guten Braten hab ich höllischen Durst und den säuerlichen Kwas mag ich besonders gern. Darum bring auch davon noch einen großen Krug voll rauf. Oh ja Großmütterchen, den Kwas hole ich sofort. Aber das Fässchen Wein, allein die Treppe herauf …

Da gab ihr das Püppchen, das in ihrer Rocktasche saß, einen Stoß und Wassiljissa verstand, dass sie schweigen musste. Im Keller sagte das Püppchen zu ihr …

Püppchen

Du darfst ihr niemals zeigen, dass du etwas nicht kannst. Bring nur schnell den Kwas hinauf, das Weinfass wird mit meiner Hilfe schon von selbst hinaufrollen.

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Erzähler

Baba Jaga

Als Wassiljissa wieder in den Keller zurückkehrte, rollte das Fass schon zur Treppe, dann schoben sie es beide noch etwas an und leicht wie eine Feder glitt es zur Stube der Baba Jaga hinauf. Diese hatte schon den Kwas ausgetrunken und fiel nun über das Weinfass her. Als sie auch dieses geleert hatte, sagte sie zu Wassiljissa …

Morgen, wenn ich weggefahren bin, kehre die Stube und den Hof gut aus, wasche die Wäsche, mach das Essen fertig, geh dann in den Speicher und hol aus dem Weizen der dort in einer Kiste lagert die Vogelwicke heraus, die in Mengen in ihn hineingeraten ist und sieh zu, dass du alles schaffst, sonst fresse ich dich am Abend auf. Ehehehehehe … So und jetzt kannst du auch essen. Dort auf dem Bord findest du Schweinefleisch und einen Rest von der gestrigen Sauerkrautsuppe.

Erzähler

Und die Hexe fing an zu schnarchen. Wassiljissa stellte das Essen auf den Tisch, holte ihr Püppchen hervor und begann zu schluchzen.

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Wassiljissa

Püppchen

Oh, wie schaffen wir das alles nur mein liebes Püppchen? Mach dir keine Gedanken darüber Wassiljissa, wisch die Tränen ab und dann wollen wir essen. Dann sprichst du dein Nachtgebet und gehst ruhig schlafen. Der Morgen ist klüger als der Abend.

Musik

Erzähler

Als der Morgen graute, erhob sich Baba Jaga und trat ans Fenster. Die Augen der Schädel auf dem Zaun wurden immer blasser, denn der weiße Reiter war schon in der Ferne zu sehen. Er kam heran geritten, hielt vor der Pforte an und es wurde hell. Sogleich erloschen die brennenden Augenhöhlen der Schädel. Jetzt ging Baba Jaga hinaus, pfiff nach ihrem Mörser, Stößer und Besen und wartete. Hinter der Pforte erschien nun der rote Reiter und die Sonne ging auf. Im selben Augenblick setzte sich Baba Jaga auf ihren Mörser, ergriff Besen und Stößer, den sie als Peitsche gebrauchte und sauste davon. Als Wassiljissa allein geblieben war, schaute sie sich etwas im Haus der Baba Jaga um und konnte sich nicht genug wundern über das Gold, Silber, die Perlen und Edelsteine, die hier zusammengetragen waren. Da bemerkte sie plötzlich, dass ihr Püppchen aus der Tasche verschwunden war.


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Wassiljissa

Erzähler

Und sie begann es überall zu suchen. Im Hause war es nicht. Da lief sie hinaus und fand es im Kornspeicher, wo es gerade die letzte Vogelwicke aus dem Weizen herausholte.

Wassiljissa

Püppchen Wassiljissa

Püppchen

Erzähler

Püppchen, Püppchen, wo bist du geblieben?

Oh Püppchen, du hast schon den ganzen Weizen gesäubert. Und schau nur alles übrige auch nach. Oh mein Püppchen, der Hof ist auch gekehrt. Die Wäsche der Baba Jaga hängt schon auf der Leine und das alles hast du gemacht. Nein, das Essen kochen ist noch übrig geblieben und das musst du selbst tun.

Am Abend als es zu dämmern anfing, erschien hinter der Pforte der schwarze Reiter, es wurde dunkel und die Augenhöhlen der Schädel leuchteten wieder auf. Die Bäume bogen sich und begannen dumpf zu rauschen, denn Baba Jaga kehrte zurück. Wassiljissa empfing sie an der Pforte und die Hexe fragte …

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Baba Jaga Wassiljissa

Erzähler

Baba Jaga

Erzähler

Na, hast du alles geschafft? Geruht es dir vielleicht es selber anzusehen, Großmütterchen.

Baba Jaga schaute sich alles an und wurde wütend, dass sie nichts fand, woran sie etwas hätte aussetzen können und rief wie zum Trotz ganz laut

Meine treuen Diener und Herzensfreunde kommt und mahlt den Weizen jetzt zu Mehl.

Da erschienen zum Entsetzen Wassiljissas drei Händepaare, fassten den Weizensack und waren schon wieder fort. Dann setzte sich Baba Jaga an den Tisch und fing an zu essen. Wassiljssa aber stand neben ihr und schaute schweigend zu.


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Erzähler

Baba Jaga

Da fragte Baba Jaga …

Was stehst du da wie eine Stumme und sprichst nicht mit mir?

Wassiljissa

Ich wagte es nicht, Großmütterchen, wenn du es aber erlaubst möchte ich dich schon etwas fragen …

Baba Jaga

Nicht jede Frage ist einem von Nutzen, wer zuviel wissen will wird schnell alt. Na ja, aber frage, ich will hören …

Wassiljissa

Baba Jaga Wassiljissa Baba Jaga Wassiljissa Baba Jaga

Wer sind die drei Reiter, Großmütterchen, die hier einer nach dem anderen vorbeireiten? Der weiße Reiter ist der Tag. Und der Rote? Denk doch ein bisschen nach – das ist die Sonne. Und der Schwarze ist dann sicher die Nacht. So ist es, hast es kapiert.

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Erzähler

Wie gern hätte Wassiljissa noch gewusst wer die drei Händepaare waren, wagte es aber nicht danach zu fragen. Baba Jaga aber erriet ihre Gedanken und sagte …

Baba Jaga

Na, warum fragst du denn nicht weiter?

Wassiljissa

Es ist schon genug, Großmütterchen, du sagst es ja selbst, wer viel wissen will wird schnell alt.

Baba Jaga

Ah, dumm bist du nicht. Es ist gut, dass du nach dem fragtest, was außerhalb meines Hofes geschieht, nicht innerhalb. Ich mag es nicht, wenn über mich und mein Haus getratscht wird. Die zu Neugierigen fresse ich auf der Stelle auf. Hahahehehe. Aber jetzt will ich auch dir eine Frage stellen. Wie bringst du es fertig so viel Arbeit in so kurzer Zeit zu schaffen?


Wassiljissa Baba Jaga

Erzähler

Erzähler

Mir hilft der Segen meiner Mutter. Dann sieh zu, dass du schnell von hier wegkommst, du gesegnetes Töchterchen. Ich dulde keine Gesegneten in meinem Hause, verschwinde, fort aus meinen Augen.

Und sie stieß Wassiljissa aus der Stube hinaus. Zerrte sie dann an der Hand bis zur Pforte, riss einen Schädel mit den glühenden Augenhöhlen vom Zaun herab, steckte ihn auf einen Stock, gab diesen Wassiljissa und sagte …

Baba Jaga

Nimm und bring ihn deiner Stiefmutter und den Schwestern. Du wurdest doch zu mir geschickt Feuer für sie zu holen.

Wassiljissa

Danke Großmütterchen …

stieß Wassiljissa noch aus und lief, glücklich Baba Jaga entkommen zu sein, so schnell sie konnte davon.

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Figuren

Orte

Erzähler, Stiefmutter, Maschka, Prasska Wassiljissa, Püppchen, Altes Mütterchen, Zar, Bote des Zaren

Wald, Zuhause, Haus des alten Mütterchens, Palast des Zaren

Erzähler

Püppchen

Erzähler

Wassiljissa

Als das Haus der Hexe schon weit hinter ihr lag, hielt das Püppchen sie an und sagte … Lauf nicht so schnell Wassiljissa, sonst fällst du noch tot um. Baba Jaga wird dich nicht verfolgen.

Am Abend des zweiten Tages erblickten sie wieder die Lichter ihres heimatlichen Dorfes und Wassiljissa dachte bei sich … Soll ich den Schädel nicht lieber wegwerfen? Es ist schon sowieso zu spät, erst jetzt mit dem Feuer anzukommen.

Erzähler

Da hörte sie eine singende und dumpfe Stimme, die aus dem Schädel kam.

Schädel

Wirf mich nicht fort Wassiljissa, bring mich zu deiner Stiefmutter. Ich habe dort eine Pflicht zu erfüllen.

48 49


Erzähler

Wassiljissa

Erzähler

Wassiljissa zuckte vor Entsetzen zusammen, dachte aber … Ich muss ihm wohl gehorchen, er hat ja auch meinen Weg durch die Nacht beleuchtet.

So hob sie den Stock mit dem Schädel noch höher empor und schritt durch das Dorf auf ihr Haus zu.

Musik

Erzähler

Stiefmutter

Am väterlichen Hause angekommen, sah Wassiljissa, dass dort nicht der kleinste Schimmer von Licht zu sehen war. Im Vorraum des Hauses empfing sie schon ihre Stiefmutter mit übertriebener Freundlichkeit und sagte …

Weißt du Wassiljissuschka seid jenem Tag, an dem du in den Wald gegangen bist, hatten wir kein Feuer mehr. Wir holten es zum wiederholten Male von den Nachbarn. Aber kaum betraten wir unsere Stube verlosch die Flamme. Unsere ganze Hoffnung warst nur du und dass die von dir gebrachte Flamme hier nicht ausgeht, komm nur herein, wir haben dich ja so lieb.


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Erzähler

Da glommen die Augenhöhlen des Schädels so gewaltig auf und warfen einen solchen Lichtstrahl auf sie, dass sie erschrocken zusammenzuckte und eine der Töchter aufschrie …

Maschka

Aaaaah! Siehst du Mutter wie böse er uns anglotzt, verstecken wir uns schnell.

Prasska

Komm, kriechen wir auf den Ofen, in die hinterste Ecke.

Erzähler

Die brennenden Augenhöhlen des Schädels verfolgten sie aber überall hin, wo sie sich auch versteckten und am Morgen waren sie alle drei in schwarze Kohle verwandelt, da die Schädelaugen sie verbrannt hatten. Wassiljissa war es nun zu unheimlich in dem leeren Haus allein zu bleiben. Darum begrub sie den Schädel im Garten, verließ ihr Haus und zog in die Stadt zu einem alten Mütterchen, um dort auf die Rückkehr ihres Vaters zu warten.

Musik

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Erzähler

Ohne Arbeit herumzusitzen war nicht Wassiljissas Art. Darum sagte sie eines Tages zu ihrer Gastgeberin …

Wassiljissa

Erzähler

Babuschka, kauf dir den besten Flachs den du bekommen kannst, ich spinne aus ihm den feinsten Faden und webe für dich den schönsten Leinenstoff.

Das Mütterchen tat es. Und gegen Ende des Winters lag schon in ihrer Stube ein großer Ballen Leinenstoff, den Wassiljissa gewebt hatte. Ihre Gastgeberin betrachtete ihn und sagte …

Altes Mütterchen

Wassiljissa

Altes Mütterchen

Du hast gesegnete Hände mein Kind. Dieses Leinen ist für mich alte Frau viel zu schön. Dann verkauf es Babuschka und du bekommst dafür ein gutes Geld. Nein Wassiljissuschka, ich habe etwas ganz anderes im Sinn. Wir lassen das Leinen in der Frühlingssonne schön bleichen und dann wird es sogar für den Zaren gut genug sein.

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Erzähler

Altes Mütterchen

Als nun die Maisonne über dem grünen Rasen strahlte, zog sich Wassiljissas Leinen wie ein schimmernder Fluss durch den ganzen Garten, wurde immer fleißig mit Wasser aus der Gießkanne bespritzt und von der Sonne getrocknet. Bis es fast so weiß wie Schnee geworden war. Die Babuschka schlug vor Freude die Hände über dem Kopf zusammen und sagte …

Jetzt eignet sich das Leinen sogar für die Hemden unseres Herrschers und ich biete es ihm selbst an.


Erzähler

Sie nahm das Leinen und begab sich zum Zarenpalast. Dort angekommen, spazierte sie solange vor den Fenster auf und ab, bis sie die Aufmerksamkeit des Zaren auf sich gelenkt hatte. Er ließ ein Fenster öffnen und fragte …

Zar Altes Mütterchen

Zar

Erzähler

Möchtest du etwas von mir Großmütterchen? Zar, mein Herrscher. Ich will dir eine wundervolle Ware anbieten, die ich sonst niemandem zeigen würde. Wache, lasst das Mütterchen herein!

Das Mütterchen bekreuzigte sich beim Eintreten, verneigte sich tief vor dem Zaren und dieser sagte freundlich …

Zar

Zeig mir nun, was ist das für eine Ware, die du da bei dir hast?

Altes Mütterchen

Dieses Leinen, mein hoher Herrscher. Du bist ein junger und schöner Zar, darum dürfen dein Hemden nur aus einem solchen angefertigt werden.

Zar

Oh, das ist ja ein prachtvoller Stoff. Was willst du denn für ihn haben, Mütterchen?

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Altes Mütterchen

Zar

Altes Mütterchen

Zar

Altes Mütterchen

Zar

Dieses Leinen ist unbezahlbar mein Zar und darum darf es dir nur geschenkt werden, der Faden ist so dünn wie Seide. Denk nur nach wie viel Zeit und Mühe es gefordert hat ihn so fein zu spinnen. Das ist wirklich zu bewundern, dass du in deinen Jahren noch so geschickte Finger hast, Mütterchen. Oh nein, mein Zar, das ist nicht meine Arbeit. So spinnen und weben kann nur Wassiljisuschka, ein junges Mädchen, welches bei mir wohnt. Ach so, dann wird sie vielleicht bereit sein auch die Hemden selbst zu nähen, wenn sie schon so geschickte Hände hat. Ich glaube schon, mein Zar. Darf ich jetzt gehen und ihr diesen Auftrag überbringen? Das kannst du tun Mütterchen und wenn die Hemden fertig sind, werden wir weitersehen.


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Erzähler

Freudestrahlend kam Babuschka nach Hause, erzählte Wassiljissa von dem Gespräch mit dem Zaren und diese begann sofort mit der Arbeit. Sie schloss sich mit dem Püppchen in ihrem Zimmer ein, ließ sich von niemandem stören und nach einigen Wochen waren die schönsten Hemden mit den feinsten Stickereien, die man je gesehen hatte, fertig. Nun wickelte Babuschka die kostbaren Hemden in ein teures Kaschmirtuch und begab sich damit zum Zarenpalast. Wassiljissa aber zog ihr bestes Kleid an, band sich ein buntes, seidenes Kopftuch um, setzte sich dann ans Fenster und wartete. Denn irgendetwas musste doch jetzt geschehen. Und wirklich, sie hatte noch gar nicht lange gesessen, da öffnete sich die Tür und in die Stube trat ein Bote des Zaren, den sie schon durch das Fenster gesehen hatte.

Bote des Zaren

Guten Tag schönes Mädchen, ich bin gekommen um die abzuholen. Du heiß doch Wassiljissa, nicht war?

Wassiljissa

So ist es. Ich bin die Tochter eines Kaufmanns aus dem Nachbardorf und hier nur zu Gast.

Bote des Zaren

Wassiljissa

Unser Herrscher, der Zar, will dich sehen um dir für deine schöne Arbeit mit eigenen Händen eine Auszeichnung zu überreichen. Darum komm jetzt mit mir. Gut, so wollen wir gehen.

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Erzähler

Als der Zar nun Wassiljissa erblickte, war er von ihrer Schönheit so hingerissen, dass er sich auf der Stelle in sie verliebte.

Zar

Ich sehe du bist ebenso schön wie geschickt Wassiljissa, darum möchte ich dich gar nicht mehr fortlassen. Wärest du einverstanden meine Zarin zu werden?

Erzähler

Aber Wassiljissa war so verlegen, dass sie kein Wort über die Lippen brachte. Da nahm der Zar ihre Hand und steckte ihr einen kostbaren Ring an den Finger und schon am nächsten Tag wurde die Hochzeit gefeiert. Als Wassiljissas Vater von der Geschäftsreise zurückkehrte, konnte er es kaum fassen, dass seine kleine Tochter jetzt neben dem Zaren auf dem Thron saß. Und so wurde Wassiljissa, einst das schönste Mädchen des Dorfes, nun auch die schönste Zarin ihrer Zeit.

Musik

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Märchen sind Geschichten die alle Generationen verbinden, weil es sie schon so lange gibt. Jamie Dornan


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