Heidi Gerullis
linie.fläche.raum.
syntagma
HEIDI GERULLIS linie.fläche.raum
ritzungen . MATERIALBILDER . installationen
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linie.fläche.raum.
HEIDI GERULLIS
linie.fläche.raum. RITZUNGEN . materialbilder . INSTALLATIONEN
tieni duro Morat-Institut Freiburg
syntagma
inhalt
order – disorder
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Zum Werk von Heidi Gerullis Günter Baumann ritzungen.materialbilder.installationen anhang
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Vita Heidi Gerullis, Ausstellungen, Sammlungen Impressum 110
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order – disorder
zum Werk von Heidi Gerullis
»Ordnung ist eine Tochter der Überlegung.« (Georg Christoph Lichtenberg) »Ordnung ist etwas Künstliches. Das Natürliche ist das Chaos.« (Arthur Schnitzler)
Im Werk von Heidi Gerullis gehen Zufall und Kalkül Hand in Hand. Dadurch entsteht ein – auf den ersten Blick – disparates Bild ihrer Kunst, die sich aber über den Bezug zum Konstruktivismus zu einer durchaus einheitlichen Bildsprache fügen lässt. In ihrer titellosen Installation, die sie 2019 im Morat Institut für Kunst und Kunstwissenschaft in Freiburg ausgestellt hatte, kann man einen gedanklichen Bogen von konkreten zu informellen Strukturen schlagen, die aus einem prozessualen Akt hervorgingen. »Tieni duro« (ital., ›halte durch‹) war die Schau überschrieben – mit den Konnotationen zum Festhalten, Durchbeißen, Nicht-Aufgeben. So darf man davon ausgehen, dass in Freiburg ein Zustand festgehalten war, der das Werden einer künstlerischen Idee auf den Punkt brachte, festhielt. Entlang zweier ausladender Wände lehnten kreissegmentförmige plastische Eisenbleche, sich teilweise überlagernd, in der Anordnung der Viertelskreisbögen so ausgerichtet, dass sich die Radius-Seite von Wand zu Wand gegenüberstand. Offensichtlich griffen die Rundungen der schwarz lackierten Eisenbleche die Form der weißen Deckenwölbung 7
auf, sodass sich ein harmonisches Gesamtbild ergab. Bei näherer Betrachtung zeigten sich aber unterschiedliche Abstände der Metallobjekte zueinander, und auch die Neigung zur Wand hin wich voneinander ab. Die Bleche stammen aus anderen installativen Arbeiten in Freiburg i. B. (»Sesto Ribassato«, 1994) im dortigen E-Werk und in Straßburg (»Rochade 1 + 2«, 1996) in einem Innenhof des Palais Universitaire. Jedes Mal bestimmte die Architektur das Aussehen des raumplastischen Ensembles. »Rochade« – der Begriff stammt aus dem Schach – bestand aus einer Choreographie von 15 Sequenzen, in denen Heidi Gerullis die Eisenbleche zusammen mit Eisenstangen aus einer geordneten Situation in eine Unordnung überführte und schließlich wieder ordentlich verräumte. Die Inszenierung »Sesto Ribassato« war ein erweitertes Arrangement von eisernen Kreissegmenten, Stangen und Stahlspitzen, die in einer scheinbar chaotischen (Un-)Ordnung den Saal füllten, den die Besucher vorsichtig begehen konnten – ein Parcours mit Hindernissen. Über 20 Jahre später fand die prozessuale Arbeit mit den hohlen Blechobjekten, nunmehr ohne das Stangenwerk, ihren relativ geordneten und in der schwarz lackierten Fassung einen nahezu beruhigt-introvertierten Ausgang in der Installation für das Morat-Institut. Es war zunächst vorgesehen, die Teile an die Wand selbst zu hängen, doch war die Aufstellung stimmig genug, um sie am Boden zu belassen. Die wechselvolle Entwicklung einer Idee, die sich erst im Raum ausbildet und dadurch auch offen genug ist, sich stetig zu entfalten. Das Wesen der Arbeit liegt in der kompositionellen Vielfalt, die mal als Zusammenspiel geometrischer Körper als Ordnungsverhältnis zu lesen ist, mal in einer teils zufälligen, teils gewollt gegenläufigen Aufstellung der Teilelemente als Unordnung erscheint. 8
Diese Idee durchzieht das ganze Schaffen Heidi Gerullis‘. Die Wandarbeiten und –installationen, die oft auch mit Blattgold – gelegentlich auch Blattsilber – gestaltet sind und dadurch eine gewisse Majestät ausstrahlen, suchen regelrecht geordnete Verhältnisse. Das Gold ist nebenbei bemerkt ein Reflex auf eine Seitenlinie im Oeuvre der Künstlerin, die im Schmuck-Design eine eigene Produktlinie entwickelt hat. Doch zurück zu den Wandarbeiten: Es zeigt sich etwa die Installation aus 75 stangenlangen, schwarz und golden lackierten Eisenblechen in einer fünf Meter breiten Phalanx von akkurat in der Senkrechten hängenden Elementen, die für den flüchtigen Augenblick ein Flimmern vor den Augen verursachen könnten und es dem Betrachter erschweren, spontan die Zahl der Wandstangen anzugeben. Die Ordnung ist relativ, allein in der Reihung stecken Irritationsmomente, die auch andere Arbeiten auszeichnen: etwa ein quadratisches Bild aus Blattgold und Blattsilber, das in neun Felder zunächst klar strukturiert ist, im Detail der neun Teilquadrate jedoch bewusst mit Unregelmäßigkeiten umgeht, die sich nicht mehr mathematisch erschließen lassen. Die Installationskunst erlaubt es, den zeitlichen Faktor zu berücksichtigen, der unabdingbar ist, wenn ich die Koinzidenz von Unordnung und Ordnung, und seien sie nun jeweils systematisch oder zufällig erzeugt, veranschaulichen möchte. Heidi Gerullis findet in ihren Papierarbeiten andere Mittel, um mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen umzugehen. So trägt sie beispielsweise in ihren Ritzungen Acrylfarbe auf, die sie anschließend durch parallel geführte Meißelkerben aufbricht. Der mehrschichtige Belag von gespachtelter Farbe erhält eine unebene Oberfläche, die bei den Ritzungsvorgängen unterschiedliche Wirkungen erzeugt, die wiederum ein Spiel zwischen Zufall und System ergeben. 9
Die Lineaturen sind wie seismografische Linienbündel: gleichsam hypersensibles Reihenmuster und scheinbar beliebig erzeugtes Furchensystem. Es entstehen auf großen Formaten von bis zu 150 x 100 cm – je nach Dichte der Ritzungen – Grauverläufe, die an Holzmaserungen erinnern, deren flirrende Struktur dem Betrachter so zauberhaft befremdlich vorkommt wie die aufgerissene Oberfläche anderer, in kräftiges Gelb, Rot oder Blau getauchter Arbeiten, die zuweilen, wenn auch nur flüchtig betrachtet, wie die Zufallsbilder der Affichisten aussehen. Bei genauem Betrachten erkennt man jedoch die planende Hand(schrift). Die Handschrift dieser Spachtelbilder ändert gewissermaßen ihre Klangfarbe in den Papierarbeiten, die ganz dem Geist der konstruktivkonkreten Kunst entstanden sind. In den vergangenen fünf Jahren hat Heidi Gerullis Acrylbilder geschaffen, die farbkräftige Flächen mit balkenartigen Linearstrukturen kombinieren. Die Bandbreite ist enorm: Die Flächen folgen schablonenartigen Mustern mit Rundungen, die an die Eisenbleche der früheren Installationen denken lassen, genauso wie die Balken als Pendants zu den Stangen anzusehen sind. Wieder wechselt die Künstlerin zwischen geordneten Reihungen und gegenläufigen Strukturen, konfrontiert Farben miteinander, oder reduziert sie auf Tonin-Ton-Familien. Diagonale Linien werden von Waagrechten bzw. Senkrechten überlagert, die auf anderen Blättern zu Gittermuster arrangiert werden. Zentrierte Anordnungen reagieren auf exzentrische Muster, auf manchen Arbeiten dominieren die Flächen-Elemente, auf anderen die Balkenlinien – immer evoziert Gerullis durch das Spiel übereinandergelegter Farben eine Räumlichkeit von einmal einfachem Vorder- und Hintergrund, ein andermal von tiefenstrukturellem Netzwerk.
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Wer sich das Werk Heidi Gerullis‘ vor Augen führt, erlebt ein spannungsreiches Spielfeld von raumplastischen Arrangements, aber auch dynamische Felder auf der malerischen Bildebene. In ein und derselben Arbeit vermag sie Ordnung und Unordnung zu thematisieren, die nur die mathematisierbaren, nüchternen Begriffe für Kosmos und Chaos sind, das heißt, Gerullis stellt ihr Schaffen in die gestalterischen Grundprinzipien der Schöpfung, die sich aus dem Ungeformten und zugleich aus dem Geformten speist. In beiden Fällen setzt sie ästhetische Maßstäbe an das Werk – und nicht minder an das Leben.
Günter Baumann, April 2019
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S. 14-15 Ausstellung tieni duro 2019 – Raumansicht S. 17 16
o.T. 2017 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 150 x 110 cm
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o.T. 2018 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 150 x 110 cm 18
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o.T. 2018 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 150 x 110 cm 30
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o.T. 2017 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 100 x 70 cm 34
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o.T. 2017 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 100 x 70 cm 36
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o.T. 2017 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 100 x 70 cm 38
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o.T. 2017 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 100 x 70 cm 40
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o.T. 2017 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 100 x 70 cm 42
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o.T. 2014 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 100 x 70 cm 44
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S. 48-49 Ausstellung tieni duro 2019 – Raumansicht S. 50-51 o.T. 2017 – Ritzungen – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 50
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o.T. 2017 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 52
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o.T. 2017 – Ritzungen – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 54
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o.T. 2018 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 56
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o.T. 2018 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 58
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o.T. 2018 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 60
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o.T. 2017 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 62
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o.T. 2017 – Ritzungen – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 64
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o.T. 2017 – Ritzungen – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 66
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o.T. 2017 – Ritzung – Acryl auf Spachtelmasse – Papier 50 x 50 cm 68
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o.T. 2014 – Ritzung – Acryl auf Wachs – Papier 20 x 20 cm o.T. 2014 – Ritzung – Acryl auf Wachs – Papier 25 x 15 cm 70
o.T. 2014 – Ritzung – Acryl auf Wachs – Papier 25 x 15 cm o.T. 2014 – Ritzung – Acryl auf Wachs – Papier 15 x 15 cm 71
Ausstellung tieni duro 2019 – Installation – Eisenbleche lackiert 72
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Ausstellung tieni duro 2019 – Installation – Eisenbleche lackiert – Ausschnitt 74
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o.T. 2012 – Blattgold – Blattsilber – Blei 104 x 104 cm 76
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Ausstellung tieni duro 2019 – Raumansicht 78
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o.T. 2012 – Blattgold – Blei 95 x 95 cm 80
o.T. 2012 – Blattsilber – Blei 95 x 95 cm 81
o.T. 2012 – Blattgold – Blattsilber – Blei 40 x 40 cm 82
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S. 84-85 Ausstellung tieni duro 2019 – Installation – Eisenbleche lackiert – Raumansicht S. 87 86
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S. 90-91 Ausstellung tieni duro 2019 – Installation – Raumansicht S. 93 92
o.T. 2018 – Blattsilber – Spachtel – Papier 100 x 70 cm
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o.T. 2018 – Blattsilber – Spachtel – Acryl – Papier 100 x 70 cm 96
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S. 98-99 o.T. 2018 – Acryl – Papier 100 x 70 cm S. 101 100
o.T. 2018 – Spachtel – Papier 100 x 70 cm
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S. 104-105 Ausstellung tieni duro 2019 – Installation – Eisenbleche lackiert – Raumansicht 106
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heidi gerullis
1968-73 1969 1973-77
geboren in Brilon Studium an der Kunsthochschule Köln (Prof. Will), Abschluss Diplom Teilnahme als Kunststudentin an der ersten Art Cologne (1. Kunstmesse international) Auslandsaufenthalte in London, Mailand und Florenz Seit 1980 lebt und arbeitet Heidi Gerullis in Freiburg und Castello di Montefioralle.
Ausstellungen seit 1993 (Auswahl)
1993
Freiburg im Breisgau, Städtische Galerie Schwarzes Kloster: Rauminstallation „Mit zwei spielt drei“ (E) mit Reiner Seliger und Mattias Dämpfle 1994 Freiburg im Breisgau, E-WERK: Rauminstallation „Sesto Ribassato“ (E) (ausgezeichnet mit dem Kunstpreis „La Fondation des Prix Européens“) 1996 F-Straßburg, Palais Universitaire: Installation „Rochade 1“ und „Rochade 2“ (E), basierend auf einer Choreographie in 15 Sequenzen. Vor Ort entstand der von ARTE produzierte Film „Rochade 2“. Es folgen verschiedene Einzelausstellungen, u.a. F-Straßburg, Galerie du Faison, sowie Ausstellungsbeteiligungen, u.a. PL-Swiradow, Kunstmuseum / Sammlung Blum. Parallel entwickelt Heidi Gerullis eine Produkt-Design-Linie im Bereich Kreativer Schmuck mit eigenem Label. Kooperation mit internationalen Schmuckgalerien. 108
Ab 2012 liegt der Schwerpunkt wieder auf freier künstlerischer Tätigkeit. 2012
2013
2014
2017 2018
2019
2020
Karlsruhe, 9. art KARLSRUHE (galerie p13, Heidelberg) Ladenburg, Galerie Linde Hollinger (E) mit Reiner Seliger und Dieter Balzer Ladenburg, Galerie Linde Hollinger (Künstler der Galerie) Karlsruhe, 10. art KARLSRUHE (Galerie Linde Hollinger, Ladenburg und galerie p13, Heidelberg) Sigmaringen, Skulpturenpark Prinzengarten Karlsruhe, 11.art KARLSRUHE (Galerie Linde Hollinger, Ladenburg) Winningen, Kunsttage Ladenburg, Galerie Linde Hollinger: „Inspiration Weiß“ Ladenburg, Galerie Linde Hollinger (Künstler der Galerie) Donaueschingen, Museum Art. Plus: „colorful . farbenfroh“ CH-Bad Ragaz, 6. Schweizerische Triennale der Skulptur in Bad Ragaz und Vaduz Köln, Galerie Ulf Larsson (E) mit Reiner Seliger Freiburg im Breisgau, Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft „TIENI DURO“ (E) Düsseldorf, Galerie Kellermann: New Zero Sontheim, Galerie Fetzer (E) mit Reiner Seliger (E) = Einzelausstellungen
Sammlungen
Agentur für Arbeit, Freiburg im Breisgau Sammlung Biedermann, Museum Art.Plus Foundation, Donaueschingen Sammlung Blum, Hünfeld Privatsammlungen 109
impressum
Der Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung „TIENI DURO“ (10.02.2019 bis 30.03.2019) im Morat-Institut für Kunst und Kunstwissenschaft, Freiburg im Breisgau Umschlagbild: Heidi Gerullis TIENI DURO –Installation – Eisenbleche lackiert – Ausschnitt
herausgeber Heidi Gerullis info@gerullis-seliger.de konzept und layout Heidi Gerullis Hannelore Pfeifer Typografie Charalampos Lazos text Dr. phil. Günter Baumann Fotografie Reiner Seliger, Freiburg im Breisgau bildbearbeitung Bernhard Strauss, Freiburg im Breisgau www.bernhardstrauss.com 1. Auflage 2019 © syntagma-verlag, Freiburg ISBN: 978-3-940548-70-2 www.syntagma-verlag.de Alle Rechte vorbehalten © Abbildungen: Heidi Gerullis © Fotografien: Reiner Seliger © Text: Dr. phil. Günter Baumann Druck abcdruck GmbH Heidelberg www.abcdruck.de
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Mit herzlichem Dank für die Unterstützung an abcdruck GmbH, Heidelberg 111